Donald Trump als Kämpfer für eine ehrliche Arbeitslosenstatistik? Zur Diskussion über die „Unterbeschäftigung“ und interessante Parallelen zu Deutschland

In der deutschen Diskussion gibt es seit langem einen veritablen Streit um die „richtigen“ Arbeitslosenzahlen. Waren es nun im Januar 2017 wirklich nur 2,77 Mio. Arbeitslose – oder nicht doch eher 3,7 Mio., also 900.000 mehr Betroffene, als den Bürgern mitgeteilt wurde? Vgl. dazu die genaueren Erläuterungen in dem Beitrag Der Arbeitsmarkt und die vielen Zahlen: Von (halb)offiziellen Arbeitslosen über Flüchtlinge im statistischen Niemandsland bis zu dauerhaft im Grundsicherungssystem Eingeschlossenen vom 2. Februar 2017. Und auch die 3,7 Mio. Menschen, die von der BA unter dem Stichwort Arbeitslose plus „Unterbeschäftigung“ ausgewiesen werden, können durchaus als Untergrenze für die wahre Betroffenheit von Erwerbslosigkeit verstanden werden. In einem doppelten Sinne interessanterweise wird eine vergleichbare Diskussion in den USA geführt. Zum einen gibt es auch dort eine Debatte über die offizielle und die „wahre“ Größenordnung der Erwerbslosigkeit – und zum anderen hat der viel geschmähte Donald Trump den Finger auf diese offene und eben nicht nur statistische Wunde gelegt. Natürlich mit ganz eigenen Interessen und nicht ohne wahrhaft Trump’sche Widersprüche, zugleich aber mit erstaunlichen Parallelen zur deutschen Debatte.

Unter einer Überschrift, die vielen Kritikern in Deutschland mit Blick auf unsere Arbeitslosenzahlen sicher erst einmal gefallen würde, berichtet Claus Hulverscheidt aus den USA angesichts der dortigen Debatte über die Erwerbslosenzahlen: „Größter Schwindel aller Zeiten“. Um dann mit Blick auf den ansonsten sicher nicht besonders beliebten Donald Trump hinzuzufügen: »Der US-Präsident will die Erwerbslosenstatistik umstellen, um den Arbeitsmarkt realistischer darzustellen.«
Zum Hintergrund erfahren wir:

»Trump steht unter Zugzwang, denn er hat die bisherige Zählweise wiederholt als „größten Schwindel aller Zeiten“ bezeichnet und seinem Vorgänger Barack Obama vorgeworfen, die Stellensituation zu beschönigen. Offiziell liegt die US-Erwerbslosenquote bei 4,8 Prozent – nach gängiger Definition der Statistiker herrscht damit beinahe Vollbeschäftigung. Der heutige Präsident hatte dagegen im Wahlkampf erklärt, in Wahrheit seien „wahrscheinlich 28 oder 29 Prozent der Amerikaner arbeitslos“. Sogar von 42 Prozent habe er „gehört“.«

Da muss man einmal genauer hinschauen, wie denn in den USA Erwerbslosigkeit gemessen und ausgewiesen wird. Man darf sich das nicht so vorstellen wie in Deutschland: Hier werden – im Grunde – die Menschen gezählt, die sich bei der Arbeitsagentur oder einem Jobcenter arbeitslos melden. Es gibt eine wenn auch umstrittene Grundgesamtheit an tatsächlich erfassten Erwerbslosen. In den USA läuft das anders: Das Bureau of Labor Statistics  (BLS) »nimmt zur Berechnung der Quote weder die Anzahl Leute, die Arbeitslosenhilfe beziehen, noch geht es von Haus zu Haus, um Arbeitslose physisch aufzuspüren. Letzteres macht die US-Regierung im Rahmen der Volkszählung alle zehn Jahre. Vielmehr führt die Behörde jeden Monat eine Umfrage durch. Die Stichprobe für die Umfrage umfasst etwa 60 000 Haushalte oder umgerechnet etwa 110 000 Individuen«, so Martin Lanz in seinem Artikel Wie viele Amerikaner sind wirklich arbeitslos? Detaillierte Informationen dazu findet man auf dieser Seite des BLS: How the Government Measures Unemployment.
Die Haushalte werden persönlich oder telefonisch befragt zu ihrer Aktivität auf dem Arbeitsmarkt bzw. zu ihrem Status als Nichtbeschäftigte. Die Antworten werden dann gewichtet und hochgerechnet.

Auf die Fragen kommt es an – was sich auch an der US-amerikanischen Methodik zeigen lässt: »Als aktiv arbeitssuchend etwa gilt, wer in den 4 Wochen vor der Umfrage einen Arbeitgeber, einen Vermittler, Freunde oder Verwandte usw. kontaktiert hat mit dem Motiv der Jobsuche, wer sich bewirbt oder Lebensläufe einreicht, wer sich auf Anzeigen meldet oder sich bei Berufsverbänden erkundigt. Wer nur einen Ausbildungskurs besucht oder die Stellenanzeigen studiert, wird dagegen nicht als aktiv jobsuchend eingestuft«, so Martin Lanz.

Zur methodischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der international vergleichenden Messung von Erwerbslosigkeit vgl. Regina Konle-Seidel (2009): Erfassung von Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich: Notwendige Anpassung oder unzulässige Tricks? sowie die Materialsammlung im IAB-Dossier Arbeitslos, erwerbslos, nichterwerbstätig? – Die Messung von Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich.

Wieder zurück zur aktuellen Debatte in den USA. Hulverscheidt schreibt in seinem Artikel:

»Richtig an Trumps Kritik ist, dass die offizielle Erwerbslosenquote in den USA, die sogenannte U-3, sehr eng definiert ist. Sie umfasst nur Menschen, die sich in den zurückliegenden vier Wochen um einen neuen Job bemüht haben. Damit sind alle außen vor, die sich etwa gerade weiterbilden, die kein geeignetes Stellenangebot gefunden oder schlicht die Hoffnung auf eine baldige Wiederbeschäftigung aufgegeben haben. Dabei wird auch ihre Zahl erhoben, die daraus errechnete Erwerbslosenquote U-5 wird aber kaum beachtet. Sie liegt momentan bei 5,8 Prozent, also genau einen Punkt höher als die offizielle Rate. Nimmt man diejenigen Menschen noch hinzu, die teilzeitbeschäftigt sind, obwohl sie lieber voll arbeiten würden, ergibt sich die Quote U-6, die derzeit 9,4 Prozent beträgt.«

U-3, U-5 oder U-6 – und was ist mit 1,2 oder 4? Da kann man schnell den Überblick verlieren. Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags visualisiert alle verfügbaren Erwerbslosenquoten, wie sie vom BLS auch ausgewiesen werden, wenn man denn nach ihnen sucht. Monatlich werden sechs unterschiedliche Quoten ausgewiesen und veröffentlicht – bezeichnenderweise unter der Überschrift „Alternative Measures of Labor Underutilization“, was an die deutsche Debatte über „Unterbeschäftigung“ erinnert. »Das zeigt, dass auch die amtlichen Statistiker eine einzige Zahl für nicht aussagekräftig genug halten«, so Hulverscheidt. Eine Erkenntnis, auf deren Umsetzung wir in Deutschland warten, wo es immer noch eine enorme Fixierung auf die „offizielle“ Zahl der Arbeitslosen gibt (die sicher zu niedrig ist), die aber bis heute die Medienberichterstattung dominiert, auch wenn die BA die Zahl der Unterbeschäftigten und die „Unterbeschäftigungsquote“ in ihren statistischen Tabellenwerken ausweist.

Zur besonderen Bedeutung der (zu niedrigen) offiziellen Arbeitslosenquote als Referenzpunkt für die Politiker und andere Entscheidungsträger in Deutschland vgl. die Studie von Michael Fertig et al. (2012): Die Wahrnehmung und Berücksichtigung von Wachstums- und Wohlstandsindikatoren durch politische Entscheidungsträger in Deutschland, Köln. Bei der Quantifizierung der Geeignetheit zur Beurteilung von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität aus Sicht der Entscheidungsträger bekommt die offizielle Arbeitslosenquote mit über 53 Prozent den höchsten Wert bei der Kategorie „sehr geeignet“ zugeschrieben – weit mehr als beispielsweise die am BIP gemessene Wirtschaftswachstumsrate mit nur 36 Prozent (Tabelle 8, S. 17).

Also die offizielle Arbeitslosenquote in den USA liegt derzeit bei 4,9 Prozent (gemessen an U-3). Sie könnte aber auch mit fast 10 Prozent beziffert werden, wenn man die weite Definition von U-6 heranzieht.

Aber warum sollte Donald Trump ein Interesse daran haben, die offiziell ausgewiesene Arbeitslosigkeit höhere ausfallen zu lassen als derzeit? Bei uns wird ja immer gegenüber den politisch Verantwortlichen der gegenteilige Vorwurf geäußert, dass es also darum geht, die Erwerbslosigkeit „kleinzurechnen“, um die Problemwahrnehmung der Arbeitslosigkeit zu schrumpfen, in dem Teile der real existierenden Erwerbslosigkeit in Neben-Statistiken outgesourct werden.

Für Trump könnte sich ein Wechsel von der U-3 zur U-5 oder gar U-6 durchaus lohnen, meint Hulverscheidt in seinem Artikel.

➔ Einerseits würde Trump damit ein weit verbreitetes Gefühl aufgreifen, das viele Amerikaner umtreibt: Manche von ihnen haben die Suche nach einer Stelle tatsächlich frustriert aufgegeben, gelten aber offiziell nicht als erwerbslos. Andere haben zwar nach der großen Rezession der Jahre 2008 und 2009 wieder Arbeit gefunden, verdienen aber weniger als früher und sind deshalb trotz Jobs unzufrieden. All das kommt in der blendend aussehenden U-3-Statistik nicht zum Ausdruck.

➔ Anderseits, so die These von Hulverscheidt: »Vor allem aber: Trump braucht zu Beginn seiner Amtszeit einen höheren Ausgangswert, um die Chance zu haben, die Quote in der Zukunft wieder zu verringern. Bliebe es bei der U-3-Zählung, würden sich selbst echte Stellenzuwächse kaum in der Arbeitslosenrate niederschlagen, weil die Jobs vor allem von Menschen besetzt würden, die bisher gar nicht als erwerbslos galten. Anders gesagt: Der nach eigener Auskunft „größte Stellenbeschaffer, den Gott je geschaffen hat“ braucht die Statistikreform, um mögliche Arbeitsmarkterfolge auch dokumentieren zu können.«

Auch wenn Trump – mit Dekreten kennt er sich ja aus – die Erwerbslosenstatistik umstellen würde von U-3 auf U-6, dann hätten die USA statt 4,9 eine Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent (Steven Mnuchin, der US-Finanzminister, hat die sogenannte U5-Rate ins Spiel gebracht für eine Neuausrichtung der Arbeitslosenstatistik und Janet Yellen, die Chefin der Notenbank Fed hat die U-6-Quote hervorgehoben neben der geringen participation rate, als sie von doch noch vorhandenem „slack“ am US-Arbeitsmarkt sprach).

Aber auch die 9,6 Prozent wären immer noch weit weg von dem Anteil, mit dem Trump während des Wahlkampfs hausieren ging. »Wie aber kommt Trump nun auf jene „echten“ Erwerbslosenquoten von fast 30 oder gar 42 Prozent, von denen er „gehört“ hat? Letzterer Wert ergibt sich, wenn man alle Bürger, die 16 Jahre und älter sind, in die Erwerbsbevölkerung mit einrechnet, also auch Schüler, Studenten, Rentner und Menschen, die freiwillig zu Hause bleiben, um sich etwa um Kinder oder Ältere zu kümmern«, so Hulverscheidt.

Neben diesen Verirrungen bleibt, dass auch in den USA kritisch diskutiert wird über die Aussagefähigkeit der offiziellen Erwerbslosenstatistik – und die ist gegenüber dem, was wir in Deutschland betreiben, in einer Hinsicht schlechter, mit Blick auf einen anderen Punkt aber besser: Die Messung anhand einer Umfrage in einer Stichprobe kann nicht die gleiche Qualität haben wie die bei uns die an registrierten Arbeitslosen gemessene Zahl an Erwerbslosen (auch wenn ein Teil von ihnen später wieder wegdefiniert wird). Das ist schlechter in den USA. Und man muss darauf hinweisen, dass die Methodik zur Erfassung der Arbeitslosenquote aus dem Jahr 1940 stammt, also mehr als in die Jahre gekommen ist). Auf der anderen Seite weist das BLS die unterschiedlichen Quoten von U-1 bis U-6 nebeneinander aus, Monat für Monat. Das hindert die Berichterstattung mehrheitlich nicht daran, sich auf die „offizielle“ Quote von U-3 zu fokussieren, aber es ist auf alle Fälle ein Stück weit mehr transparent.