Geburtenrate auf dem Höchststand seit der Wiedervereinigung! Fruchtbare Familienpolitik! Ist das wirklich so? Ein Blick auf die Daten zu den demografischen Jubelmeldungen

Das springt ins Auge: Geburtenrate erreicht Höchststand seit 1990, berichtet beispielsweise „Spiegel Online“: »Die Menschen in Deutschland bekommen wieder mehr Kinder: Jede Frau im gebärfähigen Alter wird laut den Zahlen aus dem Jahr 2014 statistisch gesehen Mutter von 1,47 Kindern.« Und sogleich werden Mutmaßungen angestellt, wie man das erklären kann: Fruchtbarer Wandel, so hat Karl Doemens seinen Artikel überschrieben: »Die Zahl der Neugeborenen hierzulande steigt: 2015 ist das Jahr mit der höchsten Geburtenrate in Deutschland seit 1990. Die Gründe sind vielfältig, liegen aber vor allem in der Familienpolitik.« Woher er das weiß? Das geht nicht wirklich hervor aus seinem Artikel. Er übernimmt hier gleichsam die offizielle Interpretation: „Die Familienpolitik hat einen positiven Einfluss auf die Geburtenrate“, so wird die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) in dem Artikel zitiert. »Fachleute nennen das Elterngeld, den Ausbau der Kinderbetreuung und den Bewusstseinswandel bei manchem Arbeitgeber als mögliche Gründe«, so Doemens.

Aber ist das wirklich so? Haben wir tatsächlich die höchste Geburtenrate seit der Wiedervereinigung? Oder ist es wie so oft im Leben etwas komplizierter?

Ausgangspunkt der Meldungen ist eine wie immer trocken daherkommende Verlautbarung aus dem Statistischen Bundesamt: Anstieg der Geburten­ziffer 2014 auf 1,47 Kinder je Frau. Frohe demografische Kunde erreicht uns mithin aus Wiesbaden:

»Die zusammengefasste Geburtenziffer des Jahres 2014 betrug in Deutschland 1,47 Kinder je Frau. Das ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) der höchste bisher gemessene Wert im vereinigten Deutschland. Die Geburtenziffer ist zum dritten Mal in Folge gestiegen … Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit haben 2014 durchschnittlich 1,42 Kinder je Frau zur Welt gebracht, im Jahr 2013 waren es 1,37 Kinder je Frau gewesen. Auch bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit war die Geburtenziffer mit 1,86 Kindern je Frau höher als im Vorjahr (1,80). Die Geburtenziffer nahm 2014 in allen Bundesländern zu. In den ostdeutschen Bundesländern war sie mit 1,54 Kindern je Frau höher als im Westen Deutschlands (1,47). Das Land mit der höchsten zusammengefassten Geburtenziffer war Sachsen mit 1,57 Kindern je Frau. Die niedrigste Geburtenziffer hatte das Saarland (1,35). Besonders stark nahm die Geburtenhäufigkeit bei den Frauen der Jahrgänge 1976 bis 1985 zu, die 2014 zwischen 29 und 38 Jahre alt waren. Diese Frauen hatten im jüngeren gebärfähigen Alter deutlich weniger Kinder zur Welt gebracht als Frauen der älteren Jahrgänge. Ihre bisher aufgeschobenen Kinderwünsche realisieren sie nun verstärkt im höheren gebärfähigen Alter.«

Offensichtlich werden wieder mehr Kinder auf die Welt gebracht, wie die Abbildung mit der Geburtenentwicklung in Deutschland in den Jahren 1946 bis 2014 verdeutlichen kann. Dazu Karl Doemens in seinem Artikel: »Nach zwei Jahrzehnten mit niedrigen Geburtenraten kündigt sich in Deutschland eine Trendwende an: Zum dritten Mal in Folge haben Frauen in Deutschland im vergangenen Jahr mehr Kinder zur Welt gebracht als im Vorjahr.«

Und auch wenn das naheliegend ist – die Auswirkungen der enormen Zuwanderung in diesem Jahr auf die Geburtenzahl sind noch gar nicht in den vorliegenden Daten erkennbar, dass müsste sich dann in den kommenden Jahren zeigen. Aber ist die Aussage, dass „die“ Geburtenrate ein Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht hat, wirklich richtig?

Wie immer kommt es darauf an, was man denn genau meint. Geht es um die „zusammengefasste Geburtenziffer“, wie das die Statistiker nennen? Die erläutert uns das Statistische Bundesamt:

»Die zusammengefasste Geburtenziffer wird zur Beschreibung des aktuellen Geburtenverhaltens herangezogen. Sie gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr.«

Also handelt es sich bei der im Mittelpunkt der Berichterstattung stehenden zusammengefassten Geburtenziffer um eine Querschnittsbetrachtung des Geburtenverhaltens aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in einem bestimmten Jahr.

Nun gibt es eine zweite Geburtenrate – die endgültige Kinderzahl je Frau. Die sich natürlich logischerweise nicht für 15-, 30- oder 40-jährige Frauen ermittelt lässt, sondern erst dann, wenn die „fertile Phase“ abgeschlossen ist, mithin also im bestehenden Abgrenzungssystem jenseits des 49. Lebensjahres.

Dazu schreiben die Bundesstatistiker:
»Im Jahr 2014 erreichten die Frauen des Jahrgangs 1965 das Alter von 49 Jahren. Sie brachten im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 1,55 Kinder zur Welt. Seit der deutschen Vereinigung sank diese sogenannte endgültige Kinderzahl je Frau um 19 %: Die Frauen des Jahrgangs 1941, die im Jahr 1990 das Alter von 49 Jahren erreicht hatten, brachten noch 1,92 Kinder zur Welt.«

Da nun also ist gar nichts mit Höchststand „der“ Geburtenrate seit der Wiedervereinigung zu erkennen. Die endgültige durchschnittliche Kinderzahl der Frauen ist weiter auf dem Sinkflug. Das muss bei den Jahrgängen, die danach kommen, nicht der Fall sein. Aber das wissen wir derzeit schlichtweg nicht.

Und wir wissen auch nicht gesichert, ob und wenn ja, in welchem Umfang die familienpolitischen Veränderungen der letzten Jahre – Stichworte wie Elterngeld und Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr seit 2013 mögen hier genügen – wirklich einen entscheidenden oder wenigstens einen erheblichen Einfluss haben (bzw. hatten) auf die Entscheidung für (oder gegen) ein Kind oder mehrere Kinder. Insofern ist es „mutig“, wenn aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) die neuen Zahlen so interpretiert werden: Man könne eine „spannende Entwicklung“ beobachten, »die nach über 40 Jahren stagnierender Geburtenraten auf niedrigem Niveau eine Trendwende für die Fertilitätsentwicklung in Deutschland anzeigen könnte.« Das alles noch im Konjunktiv. Und dann aber mit Verve: »Verantwortlich dafür seien in erster Linie vor allem familienpolitische Maßnahmen wie etwa Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.«

Warum nicht beispielsweise die gute wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren seit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise, die damit verbundene rückläufige  Arbeitslosigkeit? Könnte es nicht sein, dass diese Faktoren einen stärkeren Einfluss hatten auf die höchst komplexe Entscheidungssituation, die zu einem Kind führt? Woher wissen die Mitarbeiter des BiB, dass es in erster Linie die familienpolitischen Maßnahmen waren, die hier gewirkt haben? Die Forschungslage dazu ist – vorsichtig formuliert – keineswegs eindeutig. Vielleicht ist hier der durchaus verständliche Wunsch der politisch Verantwortlichen nach einer solchen Erklärung Vater der Interpretation. Es wäre ja schön, wenn die familienpolitischen Maßnahmen so wirken, aber sicher sein können wir uns darüber derzeit eben nicht.

Ein Zwergenaufstand Berliner Sozialrichter gegen das oberste Sozialgericht unseres Landes? (Keine) Sozialleistungen für EU-Ausländer in Deutschland

Auf diesen Gedanken könnte man kommen, wenn man diese Meldung zur Kenntnis nimmt: »EU-Bürger haben nicht automatisch Anspruch auf Sozialleistungen. Das hat das Sozialgericht Berlin jetzt festgestellt und widerspricht ausdrücklich dem Bundessozialgericht«, so Sigrid Kneist in ihrem Artikel Berliner Richter widersprechen dem Bundessozialgericht.
Erst vor kurzem hatte das Bundessozialgericht (BSG) wegweisende Urteile zur Frage des Sozialleistungsbezugs von EU-Ausländern, die sich in Deutschland aufhalten, gefällt. Vgl. dazu meine Blog-Beiträge Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015 sowie Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6.12.2015.

Darin findet sich diese vorläufige Bewertung der auch für Experten mehr als anspruchsvollen Rechtsprechung des BSG:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist. Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und jetzt geht das Berliner Sozialgericht offensichtlich zum Angriff auf das BSG bzw. gegen deren Rechtsprechung über. Zum Sachverhalt, über den Sigrid Kneist in ihrem Artikel berichtet:

»Das Berliner Sozialgericht hat jetzt entschieden, dass ein in Berlin lebender Bulgare keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat – weder auf Hartz IV noch auf Sozialhilfe. Der Mann lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin und bemühte sich nach Auffassung der Richter nicht um eine Arbeit. Im Februar 2013 beantragte er beim Jobcenter Treptow-Köpenick Hartz IV. Die Behörde lehnte mit der Begründung ab, dass der Mann nur einen Status als Arbeitssuchender habe und deswegen keine Leistungen erhalten könne. So steht es im entsprechenden Sozialgesetzbuch Dagegen klagte der Bulgare: Die Verweigerung der Unterstützung verstoße gegen EU-Recht. Das Gericht bestätigte aber die Auffassung des Jobcenters. Zudem urteilte es, dass der Mann ebenfalls keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe. Diese gebe es laut deutschem Recht generell nicht für Menschen, die als arbeitsfähig gelten.«

Aber genau dazu gibt es doch die neue Rechtsprechung des BSG. Zu der haben die Berliner Sozialrichter eine ziemlich deutliche Meinung:
Das Berliner Sozialgericht »wirft dem höchsten deutschen Sozialgericht vor, „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ geurteilt zu haben. Nach Auffassung der Berliner Richter setzt sich das Bundessozialgericht „über den Willen des Gesetzgebers“ hinweg.«

Wir dürfen auf die Antwort aus Kassel gespannt sein.

Das Urteil aus Berlin ist noch nicht rechtskräftig, da der Kläger Berufung einlegen kann.

Eine sichere Anlage, folgt man neuen Studien: Pflegeheime. Also von oben betrachtet und mit Blick auf die Zukunft. Wobei die bekanntlich immer unsicher ist

Am 29. September 2015 wurde in diesem Blog im Beitrag Immer mehr davon. Der Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimplätzen in den Bundesländern. Ein weiterer Blick in die Pflegeinfrastruktur-Glaskugel berichtet über eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), in der versucht wird, die (möglichen) Auswirkungen der angenommenen Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen auf die Pflegeinfrastruktur zu bestimmen – und dies dann differenziert nach den Bundesländern. Die Studie im Original: Susanna Kochskämper und Jochen Pimpertz: Herausforderungen an die Pflegeinfrastruktur, in: IW-Trends Heft 3/2015, S. 59-75. Die präsentierten Zahlen beeindrucken: 2,6 Millionen Menschen waren 2013 in Deutschland pflegebedürftig, diese Zahl dürfte nach den IW-Schätzungen bis zum Jahr 2030 um bis zu 828.000 steigen. Bundesweit müssen dafür bis zu 220.000 Plätze mehr in Pflegeheimen geschaffen werden. Aber wie kann das sein angesichts der vielen Berichte, dass die Menschen immer länger zu Hause verbleiben (bis es gar nicht mehr geht) und der Fokus der Politik angeblich auf der Stärkung der ambulanten Versorgung der Pflegebedürftigen liegt? Dazu die IW-Wissenschaftler: »Anders als die Bundesregierung gehen die Wissenschaftler nicht davon aus, dass Heimpflege zunehmend „out“ werden und der Anteil von ambulant erbrachter Pflege durch Angehörige oder Nachbarn in Zukunft merklich steigen könnte. Im Gegenteil: Bundesweit sei eher ein Trend zu mehr professioneller Pflege zu beobachten … Zu berücksichtigen seien zudem eine weiter steigende Erwerbstätigenquote von Frauen und die wachsende Zahl von Alleinstehenden und Kinderlosen,« so Rainer Woratschka in einem Artikel über die IW-Studie.

Das IW selbst erläutert diesen Punkt so: »Die Politik setzt derzeit auf mehr ambulante Pflege, insbesondere durch Angehörige und Ehrenamtliche. Realistisch ist das nicht, warnt IW-Forscher Jochen Pimpertz: „Bislang fehlen empirische Beweise dafür, dass die familiäre oder nachbarschaftliche Pflege steigt.“ Bundesweit gibt es eher einen Trend hin zu mehr professioneller Pflege. Zudem spielen gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, genau wie die Gruppe der Kinderlosen. Partner und Kinder fallen damit immer häufiger als potenzielle Pfleger weg. Auch ist nicht absehbar, wie sich die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen auf die Pflegebereitschaft auswirkt. Bislang übernehmen vor allem Töchter, Schwestern und Schwiegertöchter die Pflege, was sich allein rein zeitlich meist nicht mit einem Job vereinbaren lässt.«

Und die IW-Vorhersagen bekommen nun gewissermaßen „Instituts-Unterstützung“ seitens des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, das den „Pflegeheim Rating Report 2015“ von RWI, hcb GmbH und Philips GmbH veröffentlicht hat (vgl. die Zusammenfassung des Reports). Die Pressemitteilung dazu hat das RWI überschrieben mit: Pflegeheime: Alterung der Gesellschaft wird zu Engpässen führen: »Den meisten deutschen Pflegeheimen geht es momentan zwar wirtschaftlich gut, in den nächsten Jahren drohen aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft jedoch Engpässe bei stationären Pflegeplätzen und Pflegepersonal.«

Rainer Woratschka hat seinen Artikel zum Pflegeheim Rating Report 2015 kurz und bündig, gleichsam provozierend überschrieben mit: Run auf Pflegeheime: »Zu den 700.000 Vollzeit-Pflegekräften, über die man derzeit verfüge, müssten bis 2030 weitere 345.000 hinzukommen. Für neue Heime seien Investitionen von 80 Milliarden Euro nötig … Allein die Heime müssten in den nächsten 15 Jahren um bis zu 321.000 Pflegeplätze aufgestockt werden.«

Das RWI selbst präsentiert einige zentrale Befunde aus dem neuen „Pflegeheim Rating Report 2015“ (Für die aktuelle Ausgabe des alle zwei Jahre erscheinenden Reports wurden 469 Jahresabschlüsse ausgewertet, die insgesamt 2 252 Pflegeheime umfassen. Zudem berücksichtigt der Report amtliche Daten des Statistischen Bundesamts von allen rund 13 000 Pflegeheimen, 12 700 ambulanten Diensten und 2,6 Millionen Pflegebedürftigen):
Die meisten deutschen Pflegeheime befinden sich in einer guten wirtschaftlichen Lage. Im Jahr 2013 befanden sich lediglich 7% im „roten Bereich“ mit erhöhter Insolvenzgefahr, während 72% im „grünen Bereich“ mit geringer Insolvenzgefahr lagen. Ihre durchschnittliche Ausfallwahrscheinlichkeit (Zahlungsunfähigkeit) lag mit 0,9% deutlich niedriger als die von Krankenhäusern und Rehakliniken.
Hinsichtlich des zukünftigen Bedarfs erfahren wir beim Rai direkt und etwas differenzierter als in dem Beitrag von Woratschka:

»Der gesamte deutsche Pflegemarkt ist ein Wachstumsmarkt. Zwischen 1997 und 2013 hat sich sein Anteil am gesamten Gesundheitsmarkt von 8,6% auf 12,7% erhöht. Insgesamt gab es im Jahr 2013 2,6 Millionen Pflegebedürftige. Ihre Zahl wird bis zum Jahr 2030 voraussichtlich um ein Drittel auf 3,5 Millionen ansteigen. Damit verbunden ist ein zusätzlicher Bedarf von voraussichtlich zwischen 131.000 und 321.000 stationären Pflegeplätzen. Die dafür erforderlichen Neu- und Re-Investitionen belaufen sich auf 58 bis 80 Milliarden Euro. Darüber hinaus ist auch mehr Personal erforderlich. Bis 2030 ist mit insgesamt 128.000 bis 245.000 zusätzlichen Stellen (Vollkräfte) in der stationären und mit 63.000 bis 124.000 in der ambulanten Pflege zu rechnen.«

Hier werden korrekterweise Spannweiten angegeben angesichts der Unsicherheiten, die mit der Vorhersage verbunden sind. Allerdings verdeutlichen die Schätzgrößen auch das Dilemma, vor dem man vor Ort steht, wenn es um die handfeste Planung der Pflegeinfrastruktur geht. Zwischen 131.000 und 321.000 stationäre Pflegeplätze – das ist nun schon eine höchst relevante Unsicherheit in der Vorhersage, was auch angesichts der Vielzahl und interagierender Komplexität der Einflussfaktoren nicht wirklich überrascht.
Zwar erreichte die Zahl der Pflegeheime im Jahr 2013 einen neuen Höchstwert von 13.030 und die Zahl der Plätze erhöhte sich auf 903.000. Dennoch stieg die durchschnittliche Auslastung der Heime an.
Sollte die Vorhersage des RWI der Wirklichkeit entsprechen, dann wird sich das heute schon bekannte Personalmangelproblem in der Pflege weiter verschärfen – und zwar deutlich:

»Im Jahr 2013 waren in der ambulanten und stationären Pflege 1.005.000 Personen beschäftigt, was 704.000 Vollkräften entsprach, davon 297.000 Pflegefachkräfte. Zwischen 1999 und 2013 wurden fast 239.000 Arbeitsplätze geschaffen. Gleichzeitig nimmt der Mangel an Pflegefachkräften zu: Im März 2015 lag die Zahl der gemeldeten offenen Stellen bei Heimen mehr als dreimal so hoch wie im März 2007.«

Die Gewinnung des dafür notwendigen Personals wird sich zunehmend als schwierig herausstellen:

»Ziel sollte es sein, die Verweildauer im Pflegeberuf zu verlängern, die Vollzeitquote auszuweiten und neue Auszubildende zu gewinnen. Dazu werden die Löhne für qualifiziertes Personal gegenüber Hilfskräften steigen müssen.«

»Steigen die Löhne im Pflegebereich an, wird das zunächst die wirtschaftliche Lage  der Pflegeheime verschlechtern. Der Lohndruck dürfte dann über steigende Preise für Pflegeleistungen aufgefangen werden. Die dadurch bedingte höhere Belastung der Pflegebedürftigen und der Sozialhilfeträger wird allerdings Gegenreaktionen auslösen. Heime, die dem Kostendruck durch effizientere Abläufe entgegenwirken können, werden sich Wettbewerbsvorteile verschaffen. Zudem lässt sich die betriebliche Effizienz über horizontale und vertikale Integration weiter erhöhen. Hinzu kommt, dass der Pflegemarkt in Deutschland nach wie vor sehr kleinteilig ist. Die Bildung großer Verbünde zur Nutzung gemeinsamer Ressourcen ist daher noch in großem Maße möglich.«

Auf einen interessanten Aspekt weist Rainer Woratschka in seinem Artikel Run auf Pflegeheime hin:

„Es scheint sogar, dass heute leichte Fälle schneller im Heim landen als noch vor zehn Jahren“, so Sebastian Krolop in seinem Beitrag: »Die meisten dieser Zuweisungen gibt es der Studie zufolge nach Klinikaufenthalten. Betraf dies 2003 noch rund 88.000 Patienten, sind es inzwischen pro Jahr viermal so viele. „Rund 70 Prozent der Neuzugänge eines Pflegeheims kommen heute direkt aus dem Krankenhaus“, heißt es in dem Report.

Und weiter erfahren wir:

»Die meisten dieser Zuweisungen gibt es der Studie zufolge nach Klinikaufenthalten. Betraf dies 2003 noch rund 88.000 Patienten, sind es inzwischen pro Jahr viermal so viele. „Rund 70 Prozent der Neuzugänge eines Pflegeheims kommen heute direkt aus dem Krankenhaus“, heißt es in dem Report.«

Und: »Als Ursache dafür vermuten die Autoren die Einführung der Fallpauschalen. Dadurch sei es in den Kliniken zu einem „Outsourcing von Pflege“ gekommen. Seit 2003 sei dort die Verweildauer von 8,9 auf 7,5 Tage gesunken. Patienten würden also „schneller verlegt … .«