Wenn unterschiedlich starke Arme das Gleiche wollen, sich erst in die Haare kriegen und dann doch miteinander kooperieren. Eine Fortsetzungsgeschichte aus der Gewerkschaftswelt

Im Jahr 2014 wurde intensiv über die damals beabsichtigte und zwischenzeitlich auch vollzogene Verabschiedung eines Tarifeinheitsgesetzes heftig gestritten. In einem Beitrag in diesem Blog wurde am 3. September 2014 unter der Überschrift Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive auf eine mehr als pikante Gemengelage innerhalb der DGB-Gewerkschaften hingewiesen:

Man könnte »den Eindruck bekommen, dass es bei der Frage nach „Tarifeinheit“ um die schutzbedürftigen Großgewerkschaften geht, denen rein mitgliederegoistische Spartengewerkschaften gegenüberstehen, die sich aus der Solidarität der Gesamtbelegschaften verabschiedet haben und radikal die Interessen kleiner, aber zumeist mit Flaschenhalscharakter ausgestatteter Berufsgruppen wie Piloten oder Lokführern vertreten. Unabhängig davon, dass die Wirklichkeit wie immer weitaus komplizierter ist, kann man eine der Grundfragen, um die herum die Tarifeinheitsdebatte kreist, auch innerhalb bzw. zwischen den DGB-Gewerkschaften selbst identifizieren: Wessen mehr oder weniger starker Arm soll es denn sein, der die Interessen der Belegschaften vertreten darf, kann oder muss?« Damals ging es konkret um das Logistikunternehmen Stute, eine Tochterfirma des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, das aber ausschließlich für den Flugzeugbauer Airbus arbeitet, was nicht verwundert, handelt es sich doch um die outgesourcte Logistik-Sparte von Airbus. Jahrelang gab es in diesem Unternehmen keinen Betriebsrat und keine Tarifbindung. Formal zuständig nach den Organisationsprinzipien des DGB wäre der Fachbereich Post und Logistik der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Formal ist aber nicht immer auch real, denn eine zweite, konkurrierende Gewerkschaft, die IG Metall, betrat die Bühne – und ihr gelang es, mehr als 60 Prozent der Beschäftigten unter ihrem Dach zu organisieren, was sie formal gemäß der Maxime „Eine Branche – eine Gewerkschaft“ eigentlich nicht hätte machen dürfen. Die Beschäftigten des Logistik-Dienstleisters Stute haben sich wie die Arbeitnehmer verhalten, die sich in Spartengewerkschaften organisieren, denn über die IG Metall war mehr zu holen. Die eigentlich zuständige Gewerkschaft Verdi war richtig sauer, auch weil das kein Einzelfall blieb, sondern die IG Metall als strategische Antwort auf die Outsourcing-Welle die gesamte Kontraktlogistik ins tarifpolitische Visier genommen hat. Aus Sicht der Metall-Gewerkschafter ist es sinnvoll, wenn man das vorgelagerte, aber immer stärker in das eigentliche Produktionszentrum vorrückende Geflecht an „Zulieferer“ (wieder) unter das (dann allerdings breiter werdende) Dach der IG Metall-Tarifwelt zu holen versucht.

Nun gibt es von dieser Baustelle Neuigkeiten zu vermelden, die nicht nur für das komplexe Zuständigkeitsgefüge in der Welt der DGB-Gewerkschaften bedeutsam sind:  »Die Industrieproduktion wird immer komplexer. Regelmäßig stellt sich die Frage, welche Gewerkschaft eigentlich für bestimmte Betriebe zuständig ist. Die IG Metall und Verdi ziehen nun klare Linien – im Interesse der Beschäftigten«, so die IG Metall in einer Erläuterung unter der Überschrift IG Metall und Verdi vereinbaren Kooperation.  Das kann man ohne Einschränkung als einen zentralen Durchbruch bezeichnen.

Zum Verständnis der Thematik wird das Grundproblem umrissen:

»Ein Autobauer baut Autos heute längst nicht mehr alleine. Die Produktion wird in immer kleinere Teile zerlegt. Auf dem Werksgelände sind die verschiedensten Firmen im Auftrag des Autobauers tätig: Leiharbeitsfirmen, Entwicklungsdienstleister – und immer häufiger sogenannte Kontraktlogistiker. Sie verteilen Fahrzeugteile an die Montagelinien des Autobauers oder montieren zunehmend sogar selbst Teile vor: Räder, Armaturenbretter oder Achsen – eigentlich klassische Industriearbeit.
Für die Beschäftigten haben Auslagerung und Zergliederung oft negative Folgen: kein Tarifvertrag, schlechtere Bezahlung, längere Arbeitszeiten. Um die Interessen aller Beschäftigten wirksam zu vertreten, müssen Gewerkschaften eng kooperieren. Sie müssen sich abstimmen und klären, wer für welche Betriebe zuständig ist. Innerhalb der Wertschöpfungskette sind Abgrenzungen zwischen Produktion und Dienstleistungen oft schwierig.«

Um die damit verbundenen Abgrenzungsfragen nicht konflikthaft auszutragen, haben beide Gewerkschaften nun eine Kooperationsvereinbarung geschlossen.  Damit werden die Organisations- und die Tarifzuständigkeit für Unternehmen der industriellen Kontraktlogistik geklärt. Und zwar in den Branchen Automobil- und Fahrzeugbau, Stahl, Luft- und Raumfahrt sowie Schiffbau. Es geht hier also um industrielle Kernbereiche der deutschen Volkswirtschaft. Eine ähnliche Kooperationsvereinbarung hatte die IG Metall Anfang 2015 bereits mit den Gewerkschaften EVG, IG Bau und IG BCE abgeschlossen, vgl. hierzu Gewerkschaften in der Industrie vereinbaren Kooperation. Mit der nun die Sache abrundenden Vereinbarung zwischen IG Metall und Verdi ist tarifpolitisch im Kontext der Umbrüche in vielen Branchen ein wichtiger Schritt getan, um gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen.

Und das es auch andere gute Nachrichten für die Gewerkschaften gibt, verdeutlicht dieser Artikel: Gemeinsam durch die Arbeitswelt: »Münchner Gewerkschaften drehen den negativen Trend bei Mitgliedern um: Sie gewinnen viele Junge und Frauen hinzu.«

Wird jetzt alles gut für die 16.000 Beschäftigten bei Kaiser’s Tengelmann? Branchenprimus Edeka kurz vor der Übernahme der 451 Supermärkte. Oder doch nicht?

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat angekündigt, gegen das ausdrückliche Votum sowohl des Bundeskartellamtes (vgl. Untersagungsbescheid vom 31.03.2015) wie auch der Monopolkommission (vgl. das Sondergutachten vom 03.08.2016) über das Instrument einer Ministererlaubnis den Weg für eine Übernahme der 451 Supermärkte von Kaiser’s Tengelmann mit 16.000 Beschäftigten durch Edeka frei zu machen. Die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen sind dann in solche Artikel eingeflossen:  Gabriel erlaubt Fusion von Edeka und Tengelmann. An das notwendige „überragende Interesse der Allgemeinheit“, mit dem eine Ministererlaubnis als Ausnahmeregelung die wettbewerbspolitischen Einwände des Kartellamts gleichsam überstimmen kann (neben „gesamtwirtschaftlichen Vorteilen“, die hier aber nicht in Betracht kommen), muss man erst einmal ein großes Fragezeichen machen. Worin soll das bestehen? Anfangs hieß es noch sehr allgemein, der Minister »wolle so den Erhalt von Arbeitsplätzen und Tarifverträgen bei dem Zusammenschluss sichern.«

Im Laufe des Tages wurde dann die Berichterstattung angereichert mit weiteren Details:

Gabriel verlangt von Edeka Job-Garantie: »Ja, aber: Für die Fusion von Edeka und Kaiser’s Tengelmann will Sigmar Gabriel die Ministererlaubnis erteilen – allerdings nur unter strengen Bedingungen. „Es gibt keine Hintertür“, sagt der Vizekanzler.«

Darin: »Edeka müsse unter anderem umfassende Arbeitsplatz- und Standortgarantien abgeben, sagte der Vizekanzler. So müssten 97 Prozent der 16.000 Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann zumindest für fünf Jahre gesichert sein. Edeka müsse alle Bedingungen erfüllen, sonst werde er keine Ministererlaubnis erteilen: „Es gibt keine Hintertür“, sagte Gabriel.«

Und dann kommt es noch härter für die Übrnahmestrategen: »Durch Verträge mit der Gewerkschaft Ver.di müsse Edeka sicherstellen, dass über fünf Jahre nach der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann keine Filialen an selbstständige Lebensmittelhändler abgetreten würden, heißt es in einem Dokument seines Ministeriums ergänzend.«

Da überraschend es nicht, wenn mittlerweile ein Kommentar mit der Überschrift Gabriels Ja ist eigentlich ein Nein veröffentlicht wurde. Denn die Bedingungen sind so gestrickt, dass die Beteiligten, vor allem natürlich Deka, das Interesse verlieren werden:

  • So soll Edeka die rund 16.000 Tengelmann-Arbeitsplätze erhalten und den Beschäftigten rechtssichere Tarifverträge bieten.
  • Die übernommenen Filialen sollen außerdem in den nächsten fünf Jahren nur mit der Zustimmung der Gewerkschaft Ver.di an selbstständige Einzelhändler übergeben werden dürfen.
  • Selbst wenn Ver.di Ja sagt, muss Edeka garantieren, dass es mindestens 24 Monate lang zu keinen betriebsbedingten Kündigungen kommt.
  • Und nicht zuletzt muss Edeka in den drei betroffenen Regionen München/Oberbayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen Tarifverträge mit Ver.di abschließen und darf – anders als geplant – die Tengelmann-Fleischwerke vorerst nicht schließen.

Susanne Amann schlussfolgert daraus:

»All das sind Auflagen, die bei Edeka-Chef Markus Mosa und Tengelmann-Besitzer Karl-Erivan Haub für blankes Entsetzen sorgen dürften. Denn es sind Bedingungen, die die beiden Supermarktkönige weder erfüllen können noch wollen. Edeka ist dafür bekannt, den Kontakt zu Ver.di zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Von Tarifvertragsbindung können viele der mehr als 300.000 Edeka-Mitarbeiter nur träumen. Klar ist außerdem, dass sich die teure Tengelmann-Übernahme für Edeka nur lohnt, wenn man „Synergieeffekte“ nutzen kann. Was nichts anderes heißt, als Personal abzubauen sowie Filialen und Werke zu schließen. All das aber hat Gabriel jetzt verboten. Und damit bedeutet das „Ja“ des Wirtschaftsministers de facto ein „Nein“. Und zwar ein „Nein“, das durch die Schärfe der Auflagen in seiner Deutlichkeit kaum zu überbieten ist.«

Gabriel trifft die Antragsteller damit an der zentralen wunden Stelle, denn Tengelmann und Edeka »hatten in ihrem Antrag auf die Erteilung einer Ministererlaubnis ausgerechnet damit argumentiert, dass der Verlust von Arbeitsplätzen drohe, wenn die Fusion nicht erlaubt werde. Mit diesem Hinweis auf das Gemeinwohl versuchten sie, das Bundeskartellamt zu umgehen, das eine Fusion aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagt hatte. Selbst als durchsickerte, dass ein Arbeitsplatzabbau bereits im Kaufvertrag vereinbart ist, wurden beide Seiten nicht müde, das Argument zu nutzen.«

Bis zum 26. Januar haben Edeka und Tengelmann Zeit, sich zu überlegen, ob der Deal unter diesen Auflagen noch interessant ist. Möglicherweise wird sich das im Antrag noch behauptete Interesse am „Gemeinwohl“ angesichts der damit verbundene Auflagen verflüchtigen wie Wasser in der Wüste.

Heike Jahberg kommentiert unter der Annahme, dass der Übernahme-Deal trotz der Auflagen stattfinden wird, unter der Überschrift Der Super-Supermarkt:

»Falls sich Edeka an die Vorgaben von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hält, darf der Marktführer die 450 Filialen des Konkurrenten übernehmen und kann so noch mächtiger werden. Daran ändern auch die Bedingungen Gabriels nichts. Fünf Jahre lang darf Edeka keine Filiale an selbstständige Kaufleute abgeben, weitere zwei Jahre lang sollen betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen sein. Die 16 000 Beschäftigten von Kaiser’s Tengelmann, die „hart arbeiten“, sollen so lange wie möglich einen sicheren Arbeitsplatz haben, sagt der Vize-Kanzler. Glaubt Gabriel das wirklich? Oder will der Minister nur sein Gesicht wahren? Denn was wird wohl in fünf oder sieben Jahren geschehen, wenn die Fristen abgelaufen sind? Dann gehen die Filialen doch an die selbstständigen Kaufleute im Edeka-Verbund, die oft weder Betriebsräte haben noch Tarifverträge. Oder sie werden gleich dichtgemacht. Warum sollte Edeka eine Kette durchschleppen, die defizitär ist?«

Und es ist ja nicht so, als hätte es überhaupt keine Alternative in der Übernahmeschlacht gegeben. Dazu Jahberg: »Und: Hatte nicht auch Rewe versprochen, alle Arbeitnehmer zu übernehmen? Für die Nummer zwei wären die zusätzlichen Filialen und ihre Mitarbeiter eine gute Investition, um gegenüber Edeka Boden gutzumachen.«

Aber wäre eine Übernahme der immerhin 16.000 Beschäftigten durch die Edeka-Gruppe nicht ein echter Gewinn? Um die Skepsis an dieser Stelle zu verstehen, muss man sich klar machen, dass es Edeka als eigenes Unternehmen so eigentlich gar nicht bzw. nur noch rudimentär gibt in der Vorstellungswelt des normalen Kunden, der sicher davon ausgeht, dass die Edeka-Filialen alle zum Edeka-Konzern gehören. Das ist aber nicht der Fall. Immer weniger Filialen werden vom Konzern selbst betreiben, die meisten sind in der Hand selbständiger Kaufleute,  die unter dem Genossenschaftsdach der Edeka operieren. In den konzerneigenen Betrieben gibt es flächendeckend Betriebsräte und Tarifvergütung, nach einer „Privatisierung“ im Sinne eines Übergangs an selbständige Kaufleute brechen diese Strukturen oftmals weg. Ausführlich beschrieben ist das alles in der ver.di-Broschüre Schöne neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handelsam Beispiel der Firma EDEKA.

Heike Jahberg beschreibt in ihrem Beitrag außerdem die möglichen Konsequenzen für die vorgelagerten Lebensmittelhersteller, die der Martktmacht der großen Supermarktketten schon seit langem mit immer weniger Puffer ausgeliefert sind: »Bitter wird es auch für die Lieferanten. Die großen vier Supermarktketten … können den Bauern und Lebensmittelproduzenten die Preise diktieren oder ihnen Rabatte abpressen. Unter den Großen ist Edeka der König – auch ohne Kaiser’s: Der Marktführer kann günstige Einkaufskonditionen durchsetzen und seine Marktmacht ausbauen. Mit Kaiser’s geht das jetzt noch schneller. Und ohne Kaiser’s haben die Erzeuger aus der Region einen Kunden weniger, dem sie ihren Apfelsaft, den Schinken oder die Marmelade verkaufen können.«

Vor wenigen Tagen veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie über den Konzentrationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel: Fusionen von Supermarktketten mindern die Produktvielfalt, so ist die Pressemitteilung des Instituts dazu überschrieben (vgl. zu den wichtigsten Befunden der Studie auch das Interview mit Tomaso Duso, dem Verfasser der Studie). Dort geht man auf den aktuellen Fall ein, allerdings noch vor der nunmehr erfolgten Bekanntgabe der Entscheidung des Bundeswirtschaftsministers:

Auch auf dem deutschen Lebensmittelmarkt könnte ein Zusammenschluss bald Realität werden. Im Frühjahr 2015 hatte das deutsche Bundeskartellamt die Übernahme der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann durch Edeka untersagt. In Deutschland ist die Situation noch problematischer als in den Niederlanden; durch die Fusion wäre der mit Abstand größte Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland noch stärker geworden. Beide Unternehmen haben daraufhin einen Antrag auf Ministererlaubnis gestellt. Die Entscheidung von Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel steht noch aus.

DIW-Ökonom Tomaso Duso beurteilt eine mögliche Genehmigung kritisch: „Die Übernahme der Kaiser’s-Filialen durch Edeka würde den Wettbewerb auf zahlreichen ohnehin schon stark konzentrierten regionalen Märkten erheblich einschränken. Dies beträfe den Großraum Berlin, München und Oberbayern sowie Nordrhein-Westfalen. Für die Verbraucher könnte dies negative Folgen haben, etwa in Form höherer Preise und einer deutlich geringeren Produktauswahl.“
Wir werden abwarten müssen, ob sich die beiden Unternehmen trotz der für sie restriktiven Auflagen für eine Übernahme entscheiden. Die Unsicherheit für die vielen Beschäftigten ist mit dem heutigen Tag nicht wirklich beseitigt worden.

Eine Studie zu einem mittlerweile toten Pferd: das Betreuungsgeld. Es hatte nur einen begrenzten Effekt

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat zusammen mit der Technischen Universität Dortmund die amtlichen Daten zu den Betreuungsgeldbeziehern zusammengestellt und ausgewertet. Wer hat das Geld beantragt und warum? Der Bericht, der vom Familienministerium gefördert wurde, liegt SPIEGEL ONLINE vor und dort wird jetzt von Anna Reimann darüber berichtet: Betreuungsgeld hatte nur begrenzten Effekt.

Man muss also zum jetzigen Zeitpunkt glauben, was dort wiedergegeben wird, für eine wissenschaftliche Prüfung braucht man natürlich das Original der Studie.

Hier einige Ergebnisse, von denen im Artikel berichtet wird:

Es wird auf die enorme West-Ost-Kluft bei der Inanspruchnahme hingewiesen, die ja schon zu den kurzen Zeiten der tatsächlichen Existenz dieser Geldleistung auffällig war:

»93,7 Prozent aller Betreuungsgeldempfänger im Jahr 2015 lebten in den alten Bundesländern. Hier wiederum war nur in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Zahl der Ein- und Jährigen mit Betreuungsgeldbezug deutlich höher als die Zahl der Kleinkinder, die in Kitas oder zu Tagesmüttern gingen.«

Und das hier ist nicht wirklich überraschend:

»Insgesamt gab es einen Zusammenhang zwischen dem Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung und dem Bezug von Betreuungsgeld. In Regionen, in denen es schon vor der Einführung der Leistung flächendeckend viele Kitas und Tagesmütter gab, haben weniger Eltern Betreuungsgeld bezogen.«

Mütter mit hohen Bildungsabschlüssen haben die Leistung nur unterdurchschnittlich in Anspruch genommen, ebenso Alleinerziehende.

»Unter den Beziehern waren überdurchschnittlich viele Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wurde.«

Was erfahren wir zu den Gründen der Inanspruchnahme?

»Rund zehn Prozent der Eltern gaben an, sie hätten das Betreuungsgeld als Überbrückungsmöglichkeit genutzt, weil sie keinen geeigneten Kita- oder Tagesmutterplatz gefunden hätten.«

Weit wichtiger ist dieser Befund:

»Anders herum war der Anteil der Eltern, die ihr Kind explizit wegen des Betreuungsgeldes zu Hause betreut haben, gering: Mehr als 87 Prozent der Betreuungsgeldempfänger gaben an, sie hätten ihr Kind auch dann nicht in die Kita gegeben, wenn sie kein Geld für die Betreuung zu Hause erhalten hätten.«

Ökonomisch handelt es sich zum einen um Mitnahmeeffekte der Geldleistung, zum anderen steht hinter diesem Ergebnis, dass die Frage, ob man zu Hause bleibt in den ersten Jahren des Kindes, eine grundsätzliche, emotional und zuweilen ideologisch hoch aufgeladene Angelegenheit ist.

Interessant ist auch, dass der Bericht angeblich feststellt, dass sich weder bei den Ein- noch bei den Zweijährigen „ein dämpfender Effekt des Betreuungsgeldes auf die Nutzung der Kindertagesbetreuungsangebote“ feststellen lässt, was aber auch ein Teil der Vorwürfe der Kritiker entkräftet, die mit dem Terminus der „Fernhalteprämie“ argumentiert hat.

»In Familien, in denen Betreuungsgeld bezogen wurde, ist die Mutter deutlich später wieder und mit geringerer Stundenzahl in den Beruf eingestiegen, als in Familien, die ihr Kind weder in die Kita oder Tagesmutter geben noch Betreuungsgeld bezogen haben. Ob aber das Betreuungsgeld an sich den ausschlaggebenden Anreiz für Mütter gegeben hat, später wieder erwerbstätig zu sein, darüber gibt die Studie keinen Aufschluss.«

Genau hier sind wir bei einem grundsätzlichen Problem angekommen: Die (Nicht-)Inanspruchnahme ist das eine, aber welche Motive dahinter stehen, ob freiwillig oder durch die Rahmenbedingungen gezwungenermaßen, das erhellt sich nicht oder kaum.

Dieses Wissen ist wichtig für diese Bewertung:

»In Bezug auf Kinder aus Migrantenfamilien unterstreicht die Studie allerdings ein Problem: Besonders Eltern, die zu Hause mit ihren Kindern kein Deutsch sprechen, haben die Leistung überdurchschnittlich oft bezogen.«

Ohne weitere Erläuterungen impliziert das eine Nicht-Inanspruchnahme oder eine „verspätete“ Inanspruchnahme bei diesen Personen wegen des Geldleisvtungsbezugs von anfangs 100, später dann 150 Euro pro Monat. Aber das muss nicht so sein. Vielleicht leben viele der hier genannten Personen in Gegenden, in denen das Platzangebot in Kindertageseinrichtungen zum damaligen Zeitpunkt (und vielleicht auch heute noch?) unterdurchschnittlich ausgebaut war (und ist) und man unter anderen Bedingungen vielleicht sehr wohl einen Kita-Platz in Anspruch genommen hätte. Und/oder vielleicht hätte ein nicht geringer Teil der genannten Personen auch ohne die Existenz der Geldleistung das Kind nicht in die Kita gegeben, weil man aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Kinder „nicht zu früh“ in institutionelle Betreuung geben möchte. Das müsste man wissen, um tatsächlich „Netto-Zahlen“ ausweisen zu können, so handelt es sich um „Brutto-Zahlen“.

Diejenigen, die sich für solche Fragen interessieren, werden als warten müssen, bis auch die Allgemeinheit Zugriff hat auf den Bericht über die Betreuungsgeldempfänger. Wieder mal ein Beispiel für den diskussionswürdigen Trend, dass Studien vorab irgendwelchen Medien exklusiv zum Ausschlachten zur Verfügung gestellt werden – in der Hoffnung, dass a) überhaupt jemand darüber berichtet und b) oftmals verbunden mit dem Effekt, dass auch bei einer Instrumentalisierung der Studienergebnisse erst einmal andere Medien abschreiben (müssen), die Aussagen in der Welt sind und damit später kaum oder gar nicht zurückgeholt werden können. Denn diejenigen, die kritische oder möglicherweise fehlerhafte Punkte identifizieren könnten, müssen natürlich erst einmal Zugang haben zum Original. Bei der Vorläuferversion des Berichts, der jetzt wohl vorliegt, war genau das der Fall (vgl. dazu beispielsweise meinen Blog-Beitrag Immer diese Jahrestage. Wie wär’s mit dem Betreuungsgeld? vom 27. Juni 2014).

Nachtrag: Hier der Original-Bericht als PDF-Datei:

Christian Alt, Sandra Hubert, Nora Jehles, Kerstin Lippert, Christiane Meiner-Teubner, Carina Schilling, Hannah Steinberg: Datenbericht Betreuungsgeld. Auswertung amtlicher Daten und der Kifög-Länderstudien aus den Jahren 2013/2014/2015. München: Deutsches Jugendinstitut 2015