Ein betriebliches Integrationsjahr für Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose. Endlich ein großer Wurf?

Endlich mal nicht einer dieser kleinteiligen Vorstöße in der Debatte über die Frage, wie man die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge hinbekommen kann – und dann auch noch ohne Ausblenden der anderen, die schon hier sind und ebenfalls erhebliche Probleme haben, (wieder) auf dem Arbeitsmarkt landen zu können, also den Langzeitarbeitslosen. Und gleichsam als Sahnehäubchen oben drauf auch noch die Perspektive, dass der Ansatz – kommt er doch von einer Gewerkschaft – selbstverständlich nicht die eigenen Tarife unterlaufen soll.

Darum geht es: »Die IG Metall schlägt ein betriebliches Integrationsjahr für anerkannte Flüchtlinge und für Langzeitarbeitslose vor, um durch Arbeit ein selbständiges Leben zu ermöglichen.« so die Ankündigung in einer Pressemitteilung, die überschrieben ist mit IG Metall fordert betriebliches Integrationsjahr für Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose. Und weiter erfahren wir: »Das von der IG Metall geforderte Integrationsjahr soll neben einem Arbeitsplatz auch Integrations- und Sprachkurse für die Flüchtlinge umfassen. Qualifizierung und Arbeit sollen betriebsnah kombiniert werden. Finanziell gefördert würde das Integrationsjahr von der Bundesagentur für Arbeit. Dafür sollen bereits vorhandene Programme genutzt werden.«

Auf den ersten Blick kommt der Ansatz wie die lange gesuchte eierlegende Wollmilchsau daher, denn hier werden bekannte, für eine gelingende Arbeitsmarktintegration erfolgsträchtige Elemente vereint: Eine Förderung für die Arbeitgeber im Sinne einer Lohnkostenbezuschussung, um bestimmte Defizite des zu integrierenden Arbeitnehmers auszugleichen, eine Platzierung in der realen betrieblichen Welt über ein echtes Arbeitsverhältnis, die Verbindung von echter Arbeit und Qualifizierung, bei den Flüchtlingen besonders relevant die Sprachförderung und das alles unter dem konzeptionellen Dach des Gedankens, dass wenn die Betroffenen erst einmal schon den einen Fuß in der betrieblichen Tür haben, einige von ihnen auch den zweiten reinbekommen, wenn man mit ihnen positive Erfahrungen gesammelt und die positiven Potenziale zur Kenntnis genommen hat.

Und besonders wichtig vor dem Hintergrund der aktuell ich immer stärker Konfrontation aufladenden Debatte über eine angebliche Bevorzugung der Flüchtlinge der eben nicht nur lapidare Hinweis der Gewerkschaft: »Die von der IG Metall vorgeschlagenen Maßnahmen sollen nicht nur Flüchtlingen, sondern auch allen anderen am Arbeitsmarkt Benachteiligten offen stehen.«

Wie kann man sich das genauer vorstellen? Die Umsetzung solle auf Basis der tariflichen Entgelte erfolgen und der Arbeitgeber wird durch das heute schon vorhandene Instrument des Eingliederungszuschusses für seine Integrationsleistung entlastet, so die IG Metall. Es wären auch Teilzeitmodelle denkbar, die zusätzliche sprachliche Qualifikationen für Flüchtlinge, durchaus teilweise außerhalb der Arbeitszeit, ermöglichen. Denkbar sei eine Vier-Tage-Woche mit reduziertem Entgeltanspruch: vier Tage bezahlte Arbeit und ein Tag Sprachkurs. Und wenn das Integrationsjahr die Tür für eine Anschlussbeschäftigung eröffnet, dann könne die berufliche Qualifizierung beispielsweise durch den in der Metall- und Elektroindustrie bestehenden Tarifvertrag Bildungsteilzeit oder das Wegebauprogramm der BA fortgesetzt werden.

Aber die großen Zahlen, werden die einen oder anderen Kritiker einwerfen. Das mag vielleicht für einige wenige klappen – aber für so viele, die gekommen sind? Zusätzlich zu den vielen Langzeitarbeitslosen, die bekanntlich schon seit langem da sind und die ja auch profitieren sollen von dem neuen Ansatz.

Die IG Metall negiert die großen Zahlen keineswegs, sondern greift diese auf (allerdings in der Pressemitteilung leider dann doch wieder „nur“ reduziert auf die Flüchtlinge, die es in den Arbeitsmarkt zu integrieren gilt: »Nach aktueller Auskunft der Bundesagentur für Arbeit werden dem Arbeitsmarkt durch die Geflüchteten rund 380.000 Menschen zusätzlich zur Verfügung stehen können. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr wurden rund 700.000 neue, zusätzliche  sozialversicherungspflichtige Stellen in Deutschland aufgebaut und 2,1 Millionen offene Stellen bei der Arbeitsagentur gemeldet.«
Also eigentlich kein Problem?

Über die allgemein gehaltenen Informationen aus der zitierten Pressemitteilung hinaus hat es weitere konkretisierende Informationen gegeben, die man der Presseberichterstattung entnehmen kann, beispielsweise IG Metall will Flüchtlinge mit kräftigen Lohnzuschüssen integrieren oder der von Stefan von Borstel unter diese Überschrift gesetzte Artikel: IG Metall fordert Integrationsjahr für Flüchtlinge.

Auch hier wieder erst einmal die großen Zahlen mit der relativierenden Botschaft dessen, was da auf uns zukommt, wenn man es aus der Vogelperspektive betrachtet. Borstel zitiert dazu Jörg Hofmann, den Vorsitzenden der IG Metall:

»Deutschland habe 420.000 Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten, rechnete Hofmann vor. Wenn jeder dieser Betriebe nur einen zusätzlichen Integrationsplatz zur Verfügung stellen würde, wäre die Arbeitsmarktintegration der Hartz-IV-Bezieher keine Frage fehlender Arbeitsplätze. Das größte Potenzial gebe es im deutschen Handwerk mit seinen 584.000 Betrieben.«

Bleibt die Frage nach dem Instrumentarium für die Förderung, da wurde seitens der IG Metall darauf hingewiesen, dass man kein neues Programm schaffen wolle, sondern ein vorhandenes Instrument nutzen möchte, das es schon seit langem gibt – den Lohnkostenzuschuss.  Der Arbeitsplatz soll mit einem Einstellungszuschuss von bis zu 50 Prozent gefördert werden. Diese Zuschüsse gibt es heute schon.

Ganz offensichtlich ist der „Eingliederungszuschuss“ nach § 88 SGB III gemeint: »Arbeitgeber können zur Eingliederung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Vermittlung wegen in ihrer Person liegender Gründe erschwert ist, einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt zum Ausgleich einer Minderleistung erhalten (Eingliederungszuschuss).« Im § 89 SGB III finden wir Hinweise auf die mögliche Höhe und Dauer dieser Förderung: »Der Eingliederungszuschuss kann bis zu 50 Prozent des zu berücksichtigenden Arbeitsentgelts und die Förderdauer bis zu zwölf Monate betragen. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, kann die Förderdauer bis zu 36 Monate betragen.« Nur der Vollständigkeit halber: Im § 90 SGB III ist als Sonderform noch der „Eingliederungszuschuss für behinderte und schwerbehinderte Menschen“ geregelt, bis zu 70% Lohnkostenzuschuss für 24 Monate, wobei die Laufzeit in besonders schweren Fällen und bei einem Alter ab 55 auf bis zu 96 Monate ausgedehnt werden kann.

Wie sieht die bisherige Nutzung dieses Instruments aus? Wenn man einen Blick in die Eingliederungsbilanzen der BA wirft, dann erfährt man beispielsweise für das Jahr 2014, dass es 77.032 Zugänge in eine Förderung über den Eingliederungszuschuss gegeben hat, davon 48.783 bei den besonders förderungsbedürftigen Personengruppen. Hinsichtlich der finanziellen Dimension: 2014 wurden insgesamt 5,56 Mrd. Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben (davon 2,7 Mrd. Euro im SGB III und 2,86 Mrd. Euro im SGB II). Auf den Eingliederungszuschuss entfielen davon 433 Mio. Euro, also (nur) fast 8%. Eine Vorstellung von den der Förderung zugrundeliegenden berücksichtigungsfähigen Löhnen vermittelt die durchschnittlichen Förderaufwendungen für dieses Instrument in Höhe von 666 Euro pro Monat.

Auf der einen Seite eine Bestätigung des grundsätzlichen Ansatzpunktes des IG Metall-Vorschlags wie aber auch zugleich Anlass für ein großes Fragezeichen kann man den Daten zum Erfolg des Instruments entnehmen. Beim Eingliederungszuschuss für die besondere Gruppe der Langzeitarbeitslosen wird eine Eingliederungsquote von 72,8% ausgewiesen (76,3% für alle Geförderten) – ein sehr hoher Wert. Der wiederum angesichts der Besonderheiten auch nicht überrascht, denn die Förderung gibt es nur, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht (und wir wissen schon seit langem – auch nicht wirklich überraschend: Je betriebsnäher die Förderung, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Geförderten „hängen bleiben“ im Unternehmen, vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass wir es in der Praxis mit einer „positiven Selektion“ dergestalt zu tun haben, dass man nicht gerade die Arbeitslosen, die mit mehreren Vermittlungshemmnissen belastet sind, sondern eher die „guten Risiken“ mit dieser Förderung versorgt).

Mit Blick auf das, was es bisher in diesem Bereich gibt, müssen wir also zum einen festhalten, dass es rein quantitativ gesehen um ein sehr überschaubares Fördervolumen geht – wir also mithin über eine gewaltige Aufstockung der Förderung sprechen, wenn der Vorschlag der IG Metall Wirklichkeit werden soll. Denn dann geht es nicht mehr wie 2014 um 77.000 Förderfälle mit dem Eingliederungszuschuss, sondern um mehrere Hunderttausend, vor allem, wenn nicht nur die Flüchtlinge, sondern grundsätzlich völlig richtig, auch die Langzeitarbeitslosen berücksichtigt werden sollen. Da beißt die Maus keinen Faden ab – wenn man diesen Weg gehen möchte, dann müssen wir die Mittel dafür erheblich aufstocken. Zur Finanzierung findet man in den vorliegenden Berichten keine wirklich verwertbaren Hinweise, außer Allgemeinplätze. So in dem Artikel von Borstel: »Zu den Kosten des Modells machte der IG-Metall-Chef keine Angaben. Es sei aber günstiger, als den Betroffenen Hartz-IV zu zahlen.«

Jeder wünscht sich endlich einen großen Wurf, aber angesichts der bisherigen Erfahrungen wie auch der Besonderheiten „des“ Arbeitsmarktes (den es als solchen gar nicht gibt), bleibt eine gehörige Portion Skepsis. Dies kann man auch an einem parallel vorgelegten konkreten Programm verdeutlichen: Aus Flüchtlingen werden Auszubildende, vermeldet das Bundesbildungsministerium.

»Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) haben dazu eine gemeinsame Qualifizierungsinitiative für junge Flüchtlinge gestartet. Ihr Ziel: Durch ein umfassendes Qualifizierungs- und Betreuungssystem sowie eine intensive fachliche Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sollen Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sowie Asylbewerber oder Geduldete mit Arbeitsmarktzugang an eine Ausbildung im Handwerk herangeführt werden.«

Angesichts der Tatsache, dass etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten zu uns gekommen sind, unter 25 Jahre alt sind, überzeugt dieser Ansatzpunkt erst einmal. Es geht also auch hier um eine Personengruppe im Umfang von mehreren hunderttausend Personen. Vor diesem Hintergrund werfen wir dann aber mal ein Blick auf die angestrebten (das heißt bekanntlich noch lange nicht: realisierten) Zahlen, die man mit dem neuen Programm erreichen will:

»Das Programm wendet sich an Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sowie an Asylbewerber oder Geduldete mit Arbeitsmarktzugang. Voraussetzung für die Teilnahme an dem Programm ist, dass die jungen Flüchtlinge nicht mehr schulpflichtig und unter 25 Jahre sind, über gute Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen und sich im deutschen Ausbildungs- und Beschäftigungsmarkt orientieren können. Sie sollten deshalb einen Integrationskurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie das Programm „Perspektiven für junge Flüchtlinge“ der Bundesagentur für Arbeit durchlaufen haben, das auf eine Feststellung ihrer Kompetenzen und eine allgemeine Berufsorientierung ausgerichtet ist.
In der anschließenden „Berufsorientierung für Flüchtlinge“ bereitet das BMBF die jungen Flüchtlinge auf eine Ausbildung im Handwerk vor und setzt dabei auf eine vertiefte fachliche und praktische Berufsorientierung in den Bildungszentren des Handwerks … Das Handwerk unterstützt den Praxisbezug durch betriebliche Praktika für die Teilnehmer der speziellen Berufsorientierung und stellt die Infrastruktur der Bildungsstätten zur Verfügung.«

Soweit die Beschreibung des geplanten Programms. Und wie viele sollen daran partizipieren?

»Das Programm ist zunächst auf 24 Monate angelegt. Ziel ist die Integration von bis zu 10.000 Flüchtlingen in eine Handwerks-Ausbildung.«

„Bis zu 10.000“? Das haut einen jetzt nicht wirklich vom Hocker. Vielleicht kommt diese Bescheidenheit daher, dass wir es mit einer dieser klassischen „Litfaßsäulen“-Modellprogramme zu tun haben (mit denen wir gerade in der Arbeitsmarktpolitik immer wieder konfrontiert und vertröstet werden), nach dem Motto: Wir tun doch was. Oder aber dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Arbeitsmarkt- und Ausbildungsintegration eine überaus sperrige Angelegenheit darstellt, die es aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität und zugleich Individualität des konkreten Handelns aufgrund des damit verbundenen Aufwands unmöglich macht, das Rad an der ganz großen Zahl zu drehen.

Mehr Wohnungslose und der Sog in die Stadt. Das Beispiel Stuttgart. Und in Berlin „lohnen“ sich wohnungslose Männer nicht mehr

Die Zahl der wohnungslosen Menschen wächst. Wie sich die Lage verschärft hat, zeigen die jüngsten Zahlen des Stuttgarter Sozialamts, über die Mathias Bury in seinem Artikel Deutlich mehr Wohnungslose in Stuttgart. So hatte die städtische Wohnungsnotfallhilfe noch vor einem Jahr etwa 3.400 Plätze in unterschiedlichen Einrichtungen belegt. Ende 2015 waren es aber schon rund 3.700. Das ist eine Zunahme von knapp neun Prozent.

Dabei fällt auf, dass ein Großteil der hilfesuchenden Menschen in Stuttgart von außerhalb der Stadt, aus der Region kommen. Offensichtlich sind wir hier mit einem Sogeffekt konfrontiert: Die baden-württembergische Landeshauptstadt hält eine umfangreiches, differenziertes Hilfsangebot vor, während in vielen Städten und Landkreisen um Stuttgart herum die Angebote für Betroffene und die Anstrengungen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit offenbar unzureichend ausgeprägt sind.

Die Stadt muss einiges stemmen. Hier ein paar Zahlen:

»Exakt 1.904 Personen „mit besonderen sozialen Schwierigkeiten“ … leben in Unterkünften mit sozialpädagogischer Betreuung. Genau 666 Menschen, die unfreiwillig obdachlos geworden waren und ordnungsrechtlich untergebracht wurden, fanden in Hotels oder Sozialpensionen eine Bleibe. Dabei handelt es sich zumeist um Einzelpersonen, für die man schnell eine Lösung finden musste. Und 1.135 Personen, vor allem Familien, aber auch ältere Menschen und psychisch Kranke, waren in städtischen Fürsorgeunterkünften einquartiert.«

Das Sozialamt weist darauf hin, dass 49 Prozent der betroffenen Menschen ihre Wohnung vorher nicht in Stuttgart hatten. In den Landkreisen heißt es für gewöhnlich: es ziehe diese Menschen eben in die Großstadt. Von Seiten der Sozialplaner aus Stuttgart wird hingegen auf das spezielle differenzierte Hilfsangebot der Landeshauptstadt hingewiesen, insbesondere für Menschen mit besonderen Schwierigkeiten sowie mit Angeboten speziell für Frauen und für Jugendliche, das andernorts nicht vorhanden sei.

Mit den offensichtlichen Unterschieden zwischen Stadt und Land sowie den differierenden Hilfeangebote hat sich auch eine Studie für Baden-Württemberg befasst, in der die Wahrnehmung eines „Sog-Effekts“ auf Stuttgarter Seite bestätigt wird:

Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung: Wohnungslosigkeit in Baden-Württemberg. Untersuchung zu Umfang, Struktur und Hilfen für Menschen in Wohnungsnotlagen im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg, Köln/Stuttgart 2015

Ein interessanter Befund in dieser Studie ist auch der Hinweis, dass in den Großstädten des Landes im Vergleich eine weitaus bessere Prävention gegen Wohnungslosigkeit erfolgt.

Die großen Kommunen greifen etwa bei Mietrückständen oder bei Suchtproblemen von Bürgern systematisch, frühzeitig und wirkungsvoll ein und können diesen dadurch die Wohnung häufig erhalten. »So konnten rund drei Viertel der Fälle (76,2 Prozent) der Bedrohungslagen abgewendet werden. In den kleineren Städten lag dieser Wert nur bei 46,8 Prozent, bei den Landkreisen bei 46,6 Prozent«, berichtet Bury in seinem Artikel. In den kleineren Städten wurden in 28,6 Prozent der Problemfälle keine wohnraumsichernden Aktivitäten unternommen, bei den Kreisen war dies sogar bei 36,5 Prozent der Notfälle so.

Mathias Bury kommentiert das eine hier erkennbare Grundproblem unter der Überschrift „Dringend die kommunale Pflichtaufgabe erfüllen“: »Es ist ein nicht ganz neues Thema, dass die Großstädte in den Ballungsräumen Lasten für ihr Umland zu tragen haben, für die sie von den Mittelstädten und Landkreisen keinen Ausgleich bekommen. Das gilt für verschiedene Felder der Infrastruktur, so zum Beispiel für den Bildungsbereich, das Gesundheitswesen oder auch für die Kultur … Die Debatte, wie dieser Konflikt zu lösen wäre, wie ein gerechter Lastenausgleich aussehen könnte, ist schon in vielen Metropolregionen nicht nur in Deutschland geführt worden. Mit mäßigem Erfolg.« Hinsichtlich der hier relevanten Problematik der Versorgung wohnungsloser Menschen fährt er leicht resignativ fort:

»Die Mittelstädte und Landkreise seien daran erinnert, dass die Wohnungslosenhilfe seit der Verwaltungsreform des Landes im Jahr 2005 zu ihren Pflichtaufgaben zählt.
Einfach im Speckgürtel gemütlich abwarten mit der Einstellung, die Landeshauptstadt wird sich mit ihrer leistungsfähigen Verwaltung der Sache schon annehmen, widerspricht nicht nur dem häufig hochgehaltenen Regionalgedanken.«

In der erwähnten Studie zur Wohnungslosigkeit für das baden-württembergische Sozialministerium gibt es eine ganze Reihe an Empfehlungen seitens der Gutachter (S. 11 ff.), darunter auch die nach einem „landesweiten Fachkonzept“, an dem dann die unterschiedlichen Gebietskörperschaften gemessen werden können.

Und nun von Stuttgart nach Berlin, der Hauptstadt, die sich selbst gerne als „arm, aber sexy“ titulieren lässt. Schauen wir also (auch) auf das Geld.

»In Berlin gibt es seit Jahren ein Haus für Wohnungslose. Jetzt wurde ihnen gekündigt, denn Geflüchtete bringen mehr Geld ein. Doch die Betroffenen wehren sich«, so beginnt ein Bericht von Erik Peter unter der Überschrift Die Rebellen von Moabit.
Es geht um das Gästehaus Moabit, einem Heim für wohnungslose Männer in Berlin. »Mitte Dezember erreichten die 33 Bewohner schlimme Nachrichten. Ab März will der neue Betreiber, die Firma Gikon Hostels, mit der Weitervermietung Geld verdienen. Und weil das Land höhere Sätze pro Flüchtling auszahlt, sollen die Wohnungslosen raus.« Seit Jahrzehnten gibt es in der Berlichingenstraße diesen Zufluchtsort. Manche Bewohner leben selbst schon 20 Jahre hier.

Warum nun der Kurswechsel hin zu den Flüchtlingen. Am Gelde hängt’s, zum Gelde drängt’s:

»Während das Jobcenter für die Unterbringung von Wohnungslosen täglich 22,50 Euro zahlt, überweist die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales in Berlin (Lageso) für Flüchtlinge bis zu 50 Euro am Tag. Und der Profit könnte noch gesteigert werden.« Wenn man in jedem Zimmer mehrere Personen unterbringt.

Was sagt Gikon Hostels, die bereits sieben Flüchtlingsunterkünfte betreiben, dazu?

»Das Haus sei über ein Immobilienportal ausgeschrieben gewesen für eine monatliche Kaltmiete von 16.000 Euro. Beim Treffen mit den Eigentümern setzten diese den Preis auf 22.500 Euro hoch. Gikon schlug zu. Mit Nebenkosten käme man angeblich auf etwa 35.000 Euro im Monat, die man natürlich erwirtschaften muss. Die Kosten ließen sich durch die Wohnungslosen nicht decken, für die man nur die 22,50 Euro pro Tag bekommt. Und warum war das in der Vergangenheit kein Problem? Die alten Betreiber hätten das deswegen gekonnt, weil sie weniger als die Hälfte der Miete an die Hausbesitzer überweisen mussten, so Gikon Hotels.

Deren Konzept ist simpel und rechnet sich: Viele Flüchtlinge in Berlin erhalten Gutscheine, die auch für die Unterbringung in Hostels gelten. Die staatlichen Unterbringungsmöglichkeiten sind begrenzt, private Geschäftemacher wittern das große Geschäft. Im konkreten Fall will Gikon Hostels in dem Gebäude 50 Menschen, also etwa zwei pro Zimmer. Höhere Beträge (für die Flüchtlinge) plus (mindestens?) Doppelbelegung – da haben die Wohnungslosen keine betriebswirtschaftliche Chance.
Ein Teil der Bewohner will sich auf alle Fälle wehren. Und nicht freiwillig ausziehen. Man wird abwarten müssen, wie dieser Kampf ausgeht.

Wirklich schlimm an diesem Beispiel (und es gibt zahlreiche andere, bei denen ganz neue Verteilungskonflikte zwischen denen Armen und Ärmsten aufbrechen bzw. produziert werden) ist die Instrumentalisierung seitens der flüchtlingsfeindlichen Kräfte, die gerade im Internet gegen die angebliche Bevorzugung der Flüchtlinge gegenüber „unseren Wohnungslosen“ hetzen, sich bislang aber nie auch nur in Spurenelementen erkennbar für Wohnungslose interessiert haben. Auf der anderen Seite – nur weil das denen ins propagandistische Konzept passt, muss und darf man die realen Verteilungskonflikte auch nicht verschweigen oder herunterspielen. Natürlich entsteht hier eine  schlimme Konkurrenzsituation, dies eben aber auch wegen der Art und Weise der (unterschiedlichen) Finanzierung. Das muss man aus sozialpolitischer Sicht ganz besonders kritisch im Blick behalten.

Foto: © Reinhold Fahlbusch

Über den Tag hinaus schauen: Viele Bausteine für eine bessere Pflegepolitik

Es gibt sie natürlich immer noch, vielleicht sogar immer drängender, die „anderen“ Themen neben der Flüchtlingsfrage. Auch wenn ein Blick nicht nur in die Talk-Shows diese Wochen, sondern auch in die Zeitungen und sonstigen Medien den Eindruck vermitteln könnte, es geht nur noch um Flüchtlinge (und Parteien, die auf dieser Welle surfen).

Zu den einerseits drängenden, andererseits für eine parteipolitische Auseinandersetzung eigentlich überhaupt nicht passungsfähigen Themen von grundsätzlicher Bedeutung zählt sicher die Pflege. Über die Frage der Weiterentwicklung des Pflegesystems, hier insbesondere bezogen auf den Bereich der Altenpflege, wird auf allen Ebenen des föderalen Systems entschieden (oder eben nicht) – aber auf der kommunalen Ebene manifestieren sich die Betreuungs- und Pflegerealitäten. Und allein schon angesichts der enormen Anzahl unterschiedlicher Akteure, ganz abgesehen von den vielen Handlungsfeldern, sieht sich jede seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema zukünftige Gestaltung der Pflege konfrontiert mit einer hoch komplexen Vielgestaltigkeit an einzelnen Stellschrauben, an denen zu drehen wäre, zuzüglich des Denkens neuer Wege und Instrumente. Genau damit musste sich auch die am 27. März 2014 vom baden-württembergischen Landtag eingesetzte Enquetekommission „Pflege in Baden-Württemberg zukunftsorientiert und generationengerecht gestalten“ auseinandersetzen. Deren voluminöser Abschlussbericht ist nun veröffentlicht worden – insgesamt 1.012 Seiten in kleiner Schriftgröße verdeutlichen schon rein quantitativ die herkulische Aufgabe, eine Gesamtschau dessen vorzulegen, was es bedarf, um eine bessere Pflegepolitik zu gestalten.

Der umfangreiche Bericht und Empfehlungen der Enquetekommission „Pflege“ beinhaltet viele Problembeschreibungen und Handlungsempfehlungen. Er deckt sämtliche Aspekte der Pflegepolitik ab: Von der akutstationären Pflege im Krankenhaus bis zu Formen ambulanter oder (teil-)stationärer Altenpflege, Fragen der Pflegeberatung, der Aus- und Weiterbildung bis hin zu möglichen Formen der Aufwertung der Pflege im Vergleich zu den Heil- und Gesundheitsberufen. Entsprechend kann man die Lese- und Rezeptionsaufgaben, wenn man sich ihnen denn stellen will, auch so ausdrücken: 600 Empfehlungen für bessere Pflegepolitik, so hat Florian Staeck seinen Artikel in der Ärzte Zeitung dazu überschrieben.

Nun könnte man die Frage aufwerfen, warum sich eigentlich ein Landtag mit dieser Fragestellung beschäftigt. »Die Länder hätten jenseits der Sozialgesetzbücher viele eigene Gestaltungsoptionen, sagte Bärbl Mielich, Landtagsabgeordnete der Grünen und Obfrau ihrer Fraktion in der Enquete … Als Beispiel verwies sie auf die Ausgestaltung der Heimgesetze durch die Länder«, zitiert Staeck in seinem Artikel. Es sei in der Enquete um die „langen Linien“ jenseits der Tagespolitik gegangen. Eine mögliche Umsetzung der vielen Empfehlungen allerdings wird Aufgabe der nächsten Legislaturperiode, denn am 13. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt.

Wer sich im Bericht selbst einen Überblick verschaffen möchte, dem sei die Zusammenfassung auf den Seiten 11-21 empfohlen.

Staeck weist in seiner Zusammenfassung darauf hin, dass es teilweise bemerkenswerte fraktionsübergreifende Konsense in dem Bericht gibt, aber sich natürlich parteipolitische Differenzen an verschiedenen Stellen Bahn brechen. Aus seiner Zusammenfassung hier einige Punkte, die eine teilweise sehr kontroverse Behandlung in der aktuellen pflegepolitischen Debatte erfahren:

»Personalausstattung: In der Altenpflege wie im Krankenhaus müsse der Personalschlüssel „an die Versorgungsrealität“ angepasst werden. Für Kliniken solle die Bundesregierung eine „verbindliche gesetzliche Festlegung der Personalrichtwerte“ prüfen. Nötig sei ein eigenes „Kostengewicht Pflege im DRG-System“, damit der Pflegebedarf in der Finanzierungslogik abgebildet wird.«
Im Bericht selbst findet man in der Zusammenfassung diesen Hinweis: »Die Enquetekommission sieht es als notwendig an, die Personalschlüssel für Pflegeeinrichtungen, die in den 1990er Jahren festgelegt wurden und im Jahr 2003 kleinere Anpassungen erfuhren, der Versorgungsrealität anzugleichen« (Enquetekommission 2016: 14).

»Im Abschlussbericht werden größere Kompetenzen vor allem für die akademisierte Pflege als „unumgänglich“ bezeichnet. Bei einer neuen Aufgabenverteilung müssten die „Vorbehaltsaufgaben bei der Heilbehandlung neu definiert“ werden. Und: Die veränderten Aufgabenspektren müssten sich im „Budget der Leistungserbringer widerspiegeln“.«

Bekanntlich gibt es derzeit eine intensive befürwortende und ablehnende Diskussion über die „Verkammerung“ der Pflegeberufe, erst vor wenigen Tagen hat die erste Pflegekammer in Rheinland-Pfalz ihre Arbeit aufgenommen. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind auch in den Abschlussbericht eingeflossen:
»Pflegekammer: Nur auf einen Minimalkonsens hat sich die Enquete beim Thema Verkammerung geeinigt. Die Entscheidung über das Für oder Wider könne nicht „ohne ein Votum der in der Pflege beschäftigten Personen getroffen werden“, heißt es.
Schon das ging CDU und FDP zu weit: Sie plädieren dafür, die Entwicklung in anderen Bundesländern nur zu beobachten. Ende 2019 solle die Regierung dazu einen Bericht vorlegen.«

Relativ deutlich hingegen ist die Positionierung beim Thema Pflegeberatung:
»Pflegeberatung: Die Enquete verteilt schlechte Noten an die Pflegekassen: Nur wenige von ihnen würden dem Anspruch wohnortnaher Pflegeberatung gerecht, heißt es. Zudem seien die Beratungsangebote zu wenig bekannt. Unabhängig von den Kostenträgern und aufbauend auf die Pflegestützpunkte solle die Landesregierung ein „leistungsfähiges Beratungs- und Casemanagement“ aufbauen. Beratung müsse „kleinteiliger, mobiler und zugehender“ werden.«

Bei dem wichtigen Punkt der Pflegefinanzierung musste die Kommission die Segel streichen, denn hier war ein Konsens nicht erreichbar, deshalb hat die Komission die jeweiligen Positionen zur Pflegefinanzierung von CDU und FDP einerseits sowie Grünen und SPD andererseits gegenübergestellt.

Ansonsten findet man in dem Abschlussbericht sehr viel Material und Anregungen für die pflegepolitische Debatte.

Einen „Ausstrahlungseffekt“ hat die 21-monatige Arbeit in Baden-Württemberg auf alle Fälle – nach Sachsen. »Dort ist das Gremium jüngst unter dem Arbeitstitel „Sicherstellung der Versorgung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege älterer Menschen im Freistaat Sachsen“ eingesetzt worden und hat vergangene Woche zum ersten Mal getagt.«