Nicht nur (medialer) Missbrauch mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Aber wer „missbraucht“ was und wen? Und die Gesetzgebungsmaschinerie darf auch nicht fehlen

Wenn es um Sozialleistungen geht, dann geht es in der öffentlichen Debatte nicht immer, zuweilen gar nicht um Tatsachen und durchaus kontrovers entscheidbare normative Anliegen (beispielsweise die Zielbestimmung der angemessenen Absicherung des Existenzminimums unabhängig von der Ursache der Notlage versus eines restriktiven, sanktionierenden und dabei gerne auch moralisierenden Systems von Sozialleistungsgewährung, um nur ein Beispiel zu nennen). Sondern um Bedrohungsgefühle, um Ängste und um Stimmungen, die man aufgreifen kann und muss, die sich aber natürlich immer auch produzieren, zumindest verstärken und dadurch auch instrumentalisieren lassen. Ein beliebtes Mittel ist dabei die Herstellung einer Differenz von „berechtigter“ versus „unberechtigter“ oder „guter“ versus „schlechter“ Bedürftigkeit, die dann entweder einen Hilfeimpuls oder aber Ablehnung auslösen können.

Eine Folge ist dann nicht selten eine Positionierung der Armen gegen die noch Ärmeren, die von den Armen als potenzielle – und zuweilen ganz handfest-reale – Bedrohung wahrgenommen werden, weil der begrenzte Umverteilungskuchen dann von einer größeren Grundgesamtheit beansprucht wird. Beobachten kann man dass derzeit bei den Diskussionen über die Verteilungskonflikte, mit denen es viele Tafeln zu tun haben, seitdem die hausgemachte Armut zunimmt und nun auch noch Flüchtlinge als neue „Kunden“ aufschlagen (vgl. dazu bereits vom 14. Oktober 2015 den Blog-Beitrag Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung). Oder die (scheinbar plausible) Gegenüberstellung von „unseren“ Obdachlosen und den „anderen“ (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Flüchtlinge und Obdachlose stehen in Konkurrenz, ebenfalls aus dem vergangenen Jahr).

Zu dieser zwischen „gut“ und „schlecht“ codierenden Welt gibt es zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit, die auch sozialwissenschaftlich aufgearbeitet worden sind, man denke hier nur an die immer wiederkehrende Debatte über „faule Arbeitslose“, die eben nicht zufälligerweise in einem Zusammenhang zu sehen ist mit Kürzungen und Rechtsverschärfungen seitens des Gesetzgebers, für den dann natürlich ein solches Gerede eine hilfreiche Legitimationsfolie hergeben kann (vgl. dazu Frank Oschmiansky, Silke Kull, Günther Schmid: Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte, Berlin 2001 oder den Beitrag Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch aus dem Jahr 2003).

Dieses Muster kann selbst weltpolitische Implikationen haben, man denke an dieser Stelle nur an die für viele anfangs eher befremdlich, mittlerweile allerdings angesichts seiner Erfolge als unfassbar und bedrohlich daherkommende Erfolgsgeschichte eines Donald Trump bei den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl in den USA. Offensichtlich wird dieser Mann auch und gerade von sozial deklassierten Menschen gewählt bzw. sie projizieren ihre Frustration mit dem System und ihre Hoffnungen auf irgendwas anderes in ihn hinein. Vgl. dazu den empfehlenswerten Artikel  I Know Why Poor Whites Chant Trump, Trump, Trump von Jonna Ivin.

Aber kehren wir wieder zurück in die Gegenwart des deutschen Systems und steigen hinab in die untersten Etagen des Sozialstaats. Da fungiert die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), also das umgangssprachlich Hartz IV genannte System als letztes Auffangnetz, allerdings weniger für eine kleine Gruppe an bedürftigen Menschen, sondern eher als ein großes Auffangbecken für sehr viele temporär oder auch auf Dauer exkludierten Menschen – mehr als sechs Millionen sind es derzeit, die aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Leistungen aus diesem System angewiesen sind.

Und aus diesem nicht nur großen, sondern mit zahlreichen rechtlichen Eigenheiten bestückten System werden immer wieder Berichte über den (angeblichen) „Missbrauch“ von Leistungen in die Öffentlichkeit getragen. Dabei geht es oft um das diffuse Bedrohungsgefühl, dass arme Menschen aus anderen Ländern sich aufmachen, um wegen Hartz IV nach Deutschland zu kommen. Begrifflich werden diese Menschen dann oft als (noch harmlose Formulierung) „Armutsflüchtlinge“ oder (weitaus heftiger) als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet.

Solche Begrifflichkeiten sind eben nicht nur semantisch ein Problem – sie befüllen einen Resonanzraum, der bei nicht wenigen Menschen als abstraktes Bedrohungsgefühl bis hin zu übersteigerten Angstgefühlen gegenüber den „fremden Armen“ vor allem aus (Süd)Osteuropa vorhanden ist. Und wenn dann berichtet wird von (angeblich) hier Hartz IV-Leistungen missbrauchende Ausländer, dann löst das Abwehrreaktionen auch bei vielen anderen aus, die eine Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme befürchten.

Und wir haben in den zurückliegenden Monaten immer wieder das mediale Aufgreifen der ohne Zweifel vorhandenen Armutsmigration vor allem aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien, studieren können – und die Bebilderung des Themas war  oftmals – vorsichtig formuliert – mehr als einseitig, mit einer erheblichen Unwucht versehen: Verslumte „Problemhäuser“ im Ruhrgebiet, Männer auf dem „Arbeiterstrich“ oder Tagelöhner auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Aber seien wir ehrlich – wo waren und sind die Berichte über die vielen Ärzte aus Bulgarien und Rumänien, die in den deutschen Krankenhäuser Dienst schieben, um nur ein Beispiel zu nennen?

Und von dieser sehr einseitigen Berichterstattung handeln auch die beiden folgenden Beispiele.

Fall 1: Wie EU-Bürger deutsche Sozialkassen ausnehmen, so titelte der Bayerische Rundfunk auf seiner Online-Seite am 3. Mai 2016 – das Politikmagazin „report München“ (ARD) hat den Bericht dazu überschrieben mit Abkassieren bis an die Schmerzgrenze. Wie deutsche Sozialgesetze Missbrauch Tür und Tor öffnen. Zum (angeblichen) Sachverhalt dieses Missbrauchs unseres Sozialsystems erfahren wir:

»Die sogenannte Drachenburg – ein heruntergekommenes Wohnhaus im niederbayerischen Landshut: Hier sollen rumänische Staatsbürger zig Tausend Euro an Sozialleistungen zu Unrecht kassiert haben. Das berichteten zahlreiche Medien, nachdem in einem Protokoll des Quartierbeirats der Stadt Landshut vom 16. März von einem „perfekt organisierten System“ sozialen Missbrauchs die Rede war.«

Das wurde von vielen Medien aufgegriffen – wobei einige wenige wenigstens ein Fragezeichen an die Formulierungen angebracht und ein „angeblich“ eingebaut haben: Nutzen Rumänen systematisch den Sozialstaat aus?, so ist ein Artikel der WELT überschrieben: »In einem Wohnkomplex in Landshut sollen sich EU-Bürger fingierte Wohnadressen verschafft haben, um ganz legal an Sozialleistungen zu kommen. Medien berichten von einem angeblich ausgeklügelten System.«

Schauen wir uns vor einer weiteren Durchdringung des Sachverhalts noch das zweite Fallbeispiel an:

Fall 2: Ohne Geld und Wohnung in Lehe, konnte man am ebenfalls am 3. Mai 2016 der Online-Seite von Radio Bremen entnehmen. Zur dortigen Fallkonstellation:

»Anfang April wurden in Bremerhaven zahlreiche Fälle von mutmaßlichem Sozialbetrug aufgedeckt. Die Verantwortlichen von zwei Bremerhavener Vereinen sollen gezielt Bulgaren nach Bremerhaven gelockt und ihnen geholfen haben, Sozialleistungen zu erschleichen. Außerdem sollen sie die Zuwanderer ausgebeutet haben. Die meisten Bulgaren leben im sozial benachteiligten Stadtteil Lehe, und vielen von ihnen hat das Jobcenter inzwischen das Geld gestrichen.«

Also offensichtlich wieder ein „Hartz IV-Betrug“. Allerdings wird der eine oder andere schon etwas irritiert gewesen sein bei dieser Meldung im Vergleich zu dem, was bislang über den Landshuter Fall hier berichtet wurde, denn bei der Skizzierung der Vorgänge in Bremerhaven taucht auch der Hinweis auf, dass nicht nur die Bulgaren (angeblich) unrechtmäßig Sozialleistungen bezogen haben, sondern auch, dass sie „ausgebeutet“ worden seien. Es kommt also ein Dritter mit ins Spiel. Und den bzw. die gibt es auch im Landshuter Fall, wie wir gleich sehen werden.

Aber zuerst einmal die Situationsbeschreibung aus Bremerhaven-Lehe:

»Viele der zugewanderten Bulgaren hat das Jobcenter inzwischen aufgefordert, zu Unrecht bezogene Sozialleistungen zurückzahlen. In einzelnen Fällen seien Summen von weit über 10.000 Euro aufgelaufen, sagt Anna Zdroba von der AWO. Sie arbeitet im Zuwanderer-Beratungsbüro in Bremerhaven. Ob die Bulgaren überhaupt wissen, dass sie möglicherweise Sozialbetrug begangenen haben – das möchte sie nicht beurteilen. Fest stehe aber: Die Menschen säßen ohne Geld und ohne Krankenversicherung in Lehe. Viele von ihnen, auch Familien mit Kindern, würden aus ihren Wohnungen fliegen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können … Da die meisten Zuwanderer offenbar aus der Region um Varna kämen, hätten viele Verwandte oder Freunde in der Stadt, bei denen sie erst einmal unterkriechen könnten, sagt Zdroba. Eine andere Möglichkeit seien Unterkünfte der Diakonie. Dort aber werden Familien nach Männern und Frauen mit Kindern getrennt. Viele Bulgaren seien bereits in ihre Heimat zurückgekehrt, andere aber wollten bleiben … Alexander Niedermeier, Familienhelfer in Lehe und Stadtverordneter für die Piratenpartei, ist da pessimistischer. Er erwartet nicht, dass die meisten der nun praktisch mittellosen Zuwanderer nach Bulgarien zurückkehren. Er befürchtet vielmehr, dass bald ziemlich viele Menschen in Lehe buchstäblich auf der Straße sitzen und versuchen werden, sich im Stadtteil irgendwie durchzuschlagen.«

Wie war das jetzt noch mal mit dem oder den Dritten? Bereits Anfang April hatte Radio Bremen über den Betrugsverdacht berichtet, damals unter der Überschrift Zuwanderer in Bremerhaven ausgebeutet? »Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche von zwei Vereinen, die Zuwanderer gezielt in die Stadt gelockt haben sollen. Mit Scheinarbeitsverträgen sollen sie ihnen Sozialleistungen ermöglicht haben, um dann Geld zu verlangen.«

Pikant an den Vorwürfen in Bremerhaven – die richten sich gegen Vereine, die vom Namen her erst einmal einen ganzen anderen Zweck verfolgen (sollten):

»Die Behörden ermitteln nach Angaben der Staatsanwaltschaft Bremen gegen Verantwortliche des Vereins „Agentur für Beschäftigung und Integration“ und der „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming“. Das bestätigte Behördensprecher Frank Passade. Beide Vereine haben denselben Vorsitzenden.«

Offensichtlich geht es um Patrick Cem Öztürk, einem SPD-Politiker aus Bremerhaven und Mitglied in der Bremischen Bürgerschaft. Einem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person kann man entnehmen:

Er »war bis 2015 ehrenamtlicher Vorstand des Vereins Agentur für Beschäftigung und Integration e.V. (ABI). Dieser Verein wurde von Selim Öztürk, Vater von Patrick Öztürk, geleitet. Im Wahlkampf zur Bürgerschaft wurde Öztürk von einem vermeintlichen „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ unterstützt, hinter dem auch das ABI und damit der Vater stand. Auf dem Flugblatt genannte Organisationen, wie der Paritätische, stellten fest, dass Sie diesem „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ nicht angehörten und dieses auch nicht existierte.
Dem Verein ABI wird vorgeworfen, bei Zuwanderern aus Südosteuropa im großen Stil Beihilfe zur Erschleichung von Sozialleistungen geleistet zu haben. Aus der Bremer SPD kam hierauf die Aufforderung an Patrick Öztürk, sein Bürgerschaftsmandat zurückzugeben.«

Aber was genau sollen die – nach Informationen von Radio Bremen soll es sich um rund 20 Menschen handeln, die den Betrug organisiert haben – wie gemacht haben? Dazu der Bericht von Radio Bremen:

»Vereinsmitarbeiter haben dem Bremerhavener Jobcenter zufolge EU-Zuwanderer aufs Amt begleitet und gedolmetscht – teilweise offenbar verfälschend. Laut Jobcenter haben die Vereine den Zuwanderern zudem Arbeitsverträge ausgestellt und damit zum Anspruch auf Sozialleistungen verholfen. Im Gegenzug sollen sie von den Zuwanderern Geld kassiert haben. Zahlreiche Arbeitsverhältnisse sollen allerdings nur auf dem Papier bestanden haben.«

Die Zuwanderer wurden den Angaben zufolge unter anderem dafür eingesetzt, ohne Gesundheitsschutz Schiffe zu lackieren, und sie mussten weit unter dem Mindestlohn arbeiten. 800.000 Euro sollen nach Angaben der Ermittler ins Ausland überweisen worden sein.

Und jetzt nähern wir uns dem zentralen Punkt: „Mit den fingierten Arbeitsverträgen, vorzugsweise geringfügige Beschäftigungen, war es möglich, ergänzende Sozialleistungen zu bekommen“, so wird der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Frank Passade, zitiert.

An dieser Stelle passt dann der Sprung zurück zu Fall 1 aus dem bayerischen Landshut. Denn auch dort taucht diese dritte Seite auf. Bereits in der Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks wird auf ein mit Bremerhaven strukturell vergleichbares Muster hingewiesen:

»Zwei Firmen in Landshut haben rumänische Staatsangehörige für unter 200 Euro pro Monat angestellt, das bestätigt ein Informant, der die Aktenlage gut kennt. Die rumänischen Bürger hätten „ein Minimum verdient, um Sozialleistungen zu kassieren“. Thomas Haslinger, für die Junge Liste im Landshuter Stadtrat: „Auch uns liegen Informationen vor, dass mit Hilfe von zwei Landshuter Firmen, das System ausgereizt wurde, was die Auszahlung von Arbeitslosengeld II anbelangt.“ Nach einem halben Jahr, so der Informant, habe die Firma die rumänischen Angestellten noch in der Probezeit gekündigt. Dann hätten die Rumänen „noch ein halbes Jahr weiter kassiert. Alles legal“. Die Rumänen hatten nur wenige Stunden pro Woche gearbeitet und weniger als 200 Euro pro Monat verdient.«

Hier offenbart sich ein strukturelles Problem im Kontext der deutschen Sozialgesetzbuch, wenn man denn die Inanspruchnahme der Sozialleistungen über diese Fallgestaltungen als Problem wahrnimmt, was auf der deutschen Seite sicher mehrheitlich der Fall sein wird.

Die hier nur anzudeutende Perspektive der betroffenen Menschen aus Bulgarien und Rumänien ist sicher eine andere. Für sie ist das kein Vergnügen, unter den immer wieder berichteten Umständen nach Deutschland zu kommen und unter teilweise erbärmlichen Bedingungen hier ihr Glück zu versuchen. Für viele von ihnen ist das angesichts der unglaublichen materiellen Not in ihrer Heimat ein Teil einer Art „Überlebensökonomie“. Auch wenn man aus unserer Sicht dem ein Riegel vorzuschieben bestrebt ist, sollte man diesen Aspekt nicht einfach ausblenden. Er rechtfertigt nichts, erklärt aber einiges.

Das angesprochene strukturelle Problem wird wenige Tage nach den hochgezogenen Berichten über den „Sozialbetrug“ der Rumänen in Landshut in diesem Artikel der Süddeutschen Zeitung erkennbar: Unter der Überschrift Gefühlter Sozialbetrug in Landshut wird von Andreas Glas berichtet: »Angeblich beschäftigen zwei Firmen rumänische Bewohner der berüchtigten Drachenburg kurzzeitig für geringen Lohn – um ihnen Anspruch auf Hartz IV zu verschaffen. Das klingt anrüchig, wäre aber legal.«

Das wäre legal bzw. „gesetzeskonform“, so hört man es oft in Landshut von denen, die Verantwortung tragen (sollen) – hier ist der entscheidende Punkt. In den Worten von Andreas Glas:

»Der gefühlte Sozialbetrug – wenn es ihn denn gibt – könnte völlig legal sein. Wer nach weniger als einem Jahr unfreiwillig arbeitslos wird, kriegt danach sechs Monate lang Hartz IV, das ist sein Recht. Wer länger als ein Jahr gearbeitet hat, dem stehen die Sozialleistungen sogar unbefristet zu.«

Mit Blick auf Landshut muss man ergänzend anführen, was die Stadt zwischenzeitlich herausgefunden hat:

»In den 67 bewohnten Einheiten in der Drachenburg seien 23 Alleinstehende oder Familien gemeldet, die Hartz-IV bekommen. Bei 20 dieser Fälle handle es sich um Aufstocker, die legal arbeiten gehen, aber zu wenig für ihren Lebensunterhalt verdienen und deswegen Sozialleistungen bekommen. Auch für die übrigen drei Fälle gebe es keine Hinweise auf Sozialbetrug.« Allerdings »werde man die in der Vergangenheit in der Drachenburg gemeldeten Personen darauf prüfen, „ob es fingierte Arbeitsverhältnisse gab“. Sollten sich doch Hinweise finden, „dann müsste man fragen, welches Interesse eine Firma daran haben könnte“, einen Menschen nur zum Schein anzustellen, damit dieser Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen bekomme.«

Diese Frage kann sich die Stadt zumindest auf der Ebene der Hypothesen selbst beantworten  – und das verweist zugleich auf die möglichen wahren Profiteure:

»Denkbar sei zum Beispiel, dass der Angestellte als Gegenleistung für die Firma arbeite „und nichts dafür kriegt“ … Die Profiteure wären dann wohl weniger die Arbeitnehmer als vor allem die Firmen, die sich die Geldnot vieler rumänischer Zuwanderer zunutze machen, um Lohnkosten zu sparen. Und obendrein profitieren die Vermieter, die den Rumänen regelrechte Bruchbuden wie die Drachenburg für teures Geld vermieten, weil es für Zuwanderer schwierig ist, auf dem angespannten Wohnungsmarkt etwas Besseres zu bekommen.«

Ist es jetzt wirklich überraschend, dass genau an dieser Stelle, als in Umrissen erkennbar wurde, dass die Rumänen oder welchen armen Schlucker auch immer eben nicht alleine zum Jobcenter gelaufen sind (und das übrigens nach zahllosen Stimmen aus den Jobcentern in unserem Land weiter tun), um unseren Hartz IV-Staat auszuplündern, sondern dass es Dritte gibt und geben muss und dass das oftmals Unternehmen sind, die hier tätig sind, das genau in diesem Moment die Berichterstattung gegen Null abgesunken ist?  In einem Moment, in dem bei etwas genauerem Hinschauen klar wird, dass es sich hier – man mag das beklagen, ändert aber nichts – um eine durchaus „gesetzeskonforme“ Inanspruchnahme der vorhandenen Leistungen nach dem SGB II handelt? Die allerdings voraussetzt, dass die EU-Ausländer irgendwo – sehen wir mal vom kaum relevanten Fall der ausschließlichen Schein-Beschäftigung ab – in Unternehmen hier bei uns ein Arbeitsverhältnis haben müssen, und sei es ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis.

Aber war da nicht was aus Berlin? Hat uns die große Bundesregierung nicht versprochen, der „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ einen Riegel vorzuschieben? Und ist sie da nicht schon tätig geworden?

Durchaus. Mittlerweile liegt ein Referentenentwurf vom 28.04.2016 für ein „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“  vor. Damit soll das erreicht werden:

»Die Leistungsausschlüsse im SGB II werden ergänzt und damit klargestellt, dass Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht oder Aufenthaltsrecht ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Im SGB XII werden die Leistungsausschlüsse denjenigen im SGB II angepasst. Daneben wird im SGB XII ein Anspruch für einen Zeitraum von vier Wochen geschaffen mit der Möglichkeit darlehensweise die Kosten für ein Rückfahrticket zu übernehmen. Außerdem wird im SGB II ein Leistungsanspruch nach fünf Jahren Aufenthalts in Deutschland geschaffen.«

Na also, werden die Schnellleser sagen, geht doch. Bei einigen anderen wird die Formulierung „Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten“ für Skepsis sorgen, ob das, was hier geregelt werden soll, für unsere Fallkonstellationen überhaupt relevant ist.

Genau das ist der Punkt. Der Gesetzentwurf geht an den hier vorgestellten Fallkonstellationen vorbei. Denn der Gesetzentwurf verlangt „nur“, dass EU-Ausländer von Sozialhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie nicht arbeiten oder durch vorherige Arbeit Ansprüche erworben haben. Wenn die Menschen aber – und sei es nur zu sehr niedrigen Löhnen oder geringer Stundenzahl – hier gearbeitet haben, dann stellt sich die Situation anders dar, die nicht unter die Ausschlussregelung des neuen Gesetzes fallen würden.

In anderen Worten: An der Aufstocket-Problematik (und der mit ihnen verbundenen tatsächlichen Missbrauchspotenziale seitens der Arbeitgeber, die das ausnutzen) ändert sich nichts und wenn die Betroffenen dann arbeitslos werden, haben sie – und sei es für einige (in den Maßstäben ihrer „Überlebensökonomie“ sehr wertvolle) Monate Anspruch auf Sozialleistungen.

Man kann sich die Eskalation der Gesetzgebungsmaschinerie an dieser Stelle gut vorstellen. Wenn der derzeitige Entwurf Gesetz geworden ist und man natürlich feststellen wird, dass das an den anderen Problemen nichts ändert, wird man versuchen, den Regelungsmechanismus auch auf die hier beschriebenen Fälle auszudehnen. Manche werden nie arbeitslos werden im bestehenden System.

Immer mehr weiße Flecken der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland sowie Gewerkschaftsrechte, die im Windschatten der Krise in Europa unter die Räder kommen

Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen gehört zu den Grundpfeilern unseres (bisherigen) Wirtschaftssystems. Da geht es nicht nur um Betriebs- oder Personalräte als Interessenvertreter der Belegschaften. Das reicht bis zur Beteiligung der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten von Unternehmen. Grundsätzlich kann und muss man davon ausgehen, dass die Mitbestimmung von der Kapitalseite als Störfaktor, als Fremdkörper wahrgenommen wird, der das Durchregieren im „eigenen“ Unternehmen erschwert oder bei manchen Dingen sogar verunmöglicht. Allerdings gibt es nicht nur von Theoretikern, sondern gerade aus der betrieblichen Praxis viele Hinweise, dass ordentliche Mitbestimmungsstrukturen selbst handfeste betriebswirtschaftliche Vorteile generieren können. Oder wie es in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Grünen (Politischer Handlungsbedarf – 40 Jahre Unternehmensmitbestimmung in Deutschland, Bundestags-Drucksache 18/8354 vom 06.05.2016) von den Fragestellern als Vorbemerkung formuliert wurde:

»Die Vorteile der Unternehmensmitbestimmung sind vielfältig. Sie kann sich nicht nur positiv auf die Produktivität, sondern auch auf die Rentabilität und Kapitalmarktbewertung von Unternehmen auswirken … Zudem trägt sie zur guten Unternehmensführung im Sinne eines nachhaltigen sowie sozial verträglichen Wirtschaftens bei, denn sie befördert soziale Stabilität und Zusammenhalt. Durch transparente, gemeinschaftlich vereinbarte Unternehmenskonzepte entsteht Vertrauen und in der Folge eine hohe Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen. Vor allem ist die Unternehmensmitbestimmung ein wichtiger Teil unserer demokratischen Kultur.«

Das hört sich nach einer echten Erfolgsgeschichte an – aber dennoch geht die Entwicklung in eine andere Richtung. Zum einen häufen sich die Berichte über eine eigene Welt der Verhinderer von betrieblicher Mitbestimmung, eine eigene Industrie des „Union Busting“ ist entstanden (vgl. hierzu beispielsweise Werner Rügemer und Elmar Wiegand: Union-Busting in Deutschland. Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/Main 2014). Und in der erwähnten Anfrage der Grünen wird ausgeführt, dass trotz der genannten Vorteile »werden die weißen Flecken der Unternehmensmitbestimmung auf der Landkarte der Bundesrepublik Deutschland immer größer, weil sich einige Unternehmen durch den geschickten Gebrauch von anerkannten Rechtsformen der Mitbestimmung entziehen. Die Unternehmen im kirchlichen Bereich verfügen über keinerlei Unternehmensmitbestimmung, weil sie im kirchlichen Arbeitsrecht nicht vorgesehen ist.«

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat nun Daten veröffentlicht, die einen genaueren Blick auf den Vorwurf einer Flucht aus und vor der Mitbestimmung durch Rechtsformgestaltung ermöglichen (vgl. dazu auch Sebastian Sick: Mitbestimmungsfeindlicheres Klima. Unternehmen nutzen ihre Freiheiten – Arbeitnehmer werden um ihre Mitbestimmungsrechte gebracht, Düsseldorf, September 2015). Und ein detaillierterer Blick ist auch dringend notwendig, denn das für die Bundesregierung antwortende Bundesarbeitsministerium kann auf die meisten Fragen der Grünen keine Antwort geben, weil ihr (angeblich) „belastbare Daten“ fehlen. Die Auswertungen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen hingegen konkret das Ausmaß von Mitbestimmungsvermeidung in Deutschland:

»So werden allein mehr als 800.000 Beschäftigte von Großkonzernen durch juristische Tricks um die paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht. Und hunderte mittelgroße Unternehmen bilden keine Aufsichtsräte mit Arbeitnehmerbeteiligung, obwohl sie nach dem sogenannten Drittelbeteiligungsgesetz dazu verpflichtet sind.«

Ende 2015 gab es insgesamt 635 paritätisch mitbestimmte Unternehmen, 2002 waren es noch 767. Paritätische Mitbestimmung sieht das Gesetz für Kapitalgesellschaften mit mindestens 2.000 Beschäftigten in Deutschland vor. Hinzu kamen etwa 1.500 Unternehmen, die mehr als 500 Beschäftigte und eine Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat hatten.

Wie muss man sich nun die angesprochenen Umgehungsstrategien praktisch vorstellen? Erläutert wird das am Beispiel von Aldi:

»Die rechtlich unabhängigen Unternehmen Aldi Süd und Aldi Nord, die zusammen weltweit 170.000 und deutschlandweit 66.000 Menschen beschäftigen, werden durch zwei Familienstiftungen gesteuert. Den Stiftungen können die Arbeitnehmer aber nicht zugerechnet werden, weil diese vom Mitbestimmungsgesetz nicht erfasst werden. Daher kommen sie auch nicht als „herrschende Unternehmen“ in Betracht, die einen mitbestimmten Aufsichtsrat bilden müssen. Unterhalb der Stiftungsebene operieren verschiedene Regionalgesellschaften, die gerade so groß sind, dass sie die Schwelle von 2.000 Mitarbeitern für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes nicht überschreiten. Die gewählte Form der GmbH & Co. KG stellt zugleich sicher, dass es auch keine Drittelbeteiligung gibt, weil diese Unternehmensart vom Gesetz ausgenommen ist. Auf diese Weise werde den Aldi-Beschäftigten komplett ihr Recht auf unternehmerische Mitbestimmung vorenthalten, erklärt der Unternehmensrechtler Sick.«

Eine weitere Möglichkeit, sich der Mitbestimmung zu entziehen, bietet die Europäische Aktiengesellschaft (SE). Die Praxis zeige, dass Unternehmen regelmäßig kurz vor Erreichen der Schwellenwerte von 500 Mitarbeitern für die Drittelbeteiligung oder 2.000 für die 1976er-Mitbestimmung zur SE umgewandelt werden.

Eine weitere Variante geht so:

»Auch Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die Ltd. & Co. KG können zur Umgehung von Arbeitnehmerrechten instrumentalisiert werden. Grund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sich die Vorschriften in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben.«

Und immer wieder der Einzelhandel, über den auch hier bereits viele Beiträge hinsichtlich der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen verfasst wurden:

»Eine besondere Häufung von Unternehmen, die sich der paritätischen Mitbestimmung durch Ausnutzen von Rechtslücken entziehen, konstatieren die Fachleute der Stiftung im Einzelhandel … In den 21 Einzelhandelskonzernen, die sich der Mitbestimmung über Rechtslücken entziehen, würden rund 400.000 Arbeitnehmer im Inland von der Mitwirkung im Aufsichtsrat ausgeschlossen. Zu diesen Konzernen gehören unter anderem Aldi, Norma, Edeka, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, Netto, C&A, H&M, Primark, Zara, Müller-Drogeriemärkte, Bauhaus, Zalando und Deichmann.«

Wird man angesichts dieser Fakten auf Abhilfe seitens der Bundesregierung hoffen können? Wohl kaum. So berichtet Detlef Esslinger in seinem Artikel Arbeitnehmer außen vor von dem Heilgen Gral der Großen Koalition, den Koalitionsvertrag und man ahnt schon, was kommt:

»“Handlungsdruck“ gibt es bei dem Thema auch laut Nahles. Das Wort gebrauchte sie, als sie im April bei der Böckler-Stiftung zu Gast war. Weiter sagte sie, Gesetzeslücken müssten geschlossen werden. Eine Überarbeitung des Mitbestimmungsrechts sieht der Koalitionsvertrag allerdings nicht vor. Dem Vernehmen nach sieht Nahles daher wenig Chancen, bis zur Bundestagswahl 2017 auf den „Handlungsdruck“ zu reagieren.«

Könnte man denn überhaupt etwas tun, wenn man denn wollen wollte?

Dazu schreibt die Hans-Böckler-Stiftung:

»Der Gesetzgeber hat nach Ansicht der Stiftungsexperten viele Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen. Nach Einschätzung der Fachleute ist der gesetzgeberische Aufwand eher gering. Sie empfehlen drei zentrale Reformen:

  • Im Drittelbeteiligungsgesetz müsse die Konzernregelung analog des Mitbestimmungsgesetzes eingeführt werden. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen dann dem herrschenden Unternehmen zugerechnet werden. Klarstellung sei bei der Rechtsform GmbH & Co. KG notwendig, sie sollte in das Drittelbeteiligungsgesetz aufgenommen werden.
  • Ebenso wichtig sei es, auszuschließen, dass die Wahl einer ausländischen Rechtsform die Mitbestimmung aushebeln kann. Es gelte sicherzustellen, dass alle Unternehmen ab 500 Beschäftigten die Mitbestimmungsgesetze anwenden müssen.
  • Im Beteiligungsgesetz der Europäischen Gesellschaft (SE) müsse klargestellt werden, dass die Anzahl der Beschäftigten in Deutschland entscheidend ist und bei entsprechendem Personalaufbau eine Beteiligungsvereinbarung neu verhandelt werden muss. Als Orientierung für die Mitbestimmung nennen die Fachleute die deutschen Schwellenwerte von 500/1000/2000 Beschäftigten.«

Aber wie gesagt, im Koalitionsvertrag steht davon nichts, also wird da auch bis 2017 nichts passieren.

Nun könnte man das fast schon für ein Luxusproblem in Deutschland halten, wenn man sich mit dem  Beitrag Im Windschatten der Krise: Gewerkschaftsrechte europaweit in Bedrängnis von Sandra Breitender und Wolfgang Greif befasst.
»Seit Beginn der Finanzmarkt-und Wirtschaftskrise gehen Regierungen in immer mehr Ländern Europas daran, im Zuge vermeintlicher „Krisenlösungspolitiken“ Gewerkschaftsrechte empfindlich einzuschränken«, berichten die beiden Autoren.

Sie beziehen sich zum einen auf »Veröffentlichungen der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, in welchen ein „beschäftigungsförderndes“ Bündel an Maßnahmen empfohlen wird, das unter anderem auch mit folgenden „tarifpolitischen Giftzähnen“ bestückt war:

  • Senkung gesetzlicher und kollektivvertraglich festgelegter Mindestlöhne
  • Reduzierung der Kollektivvertragsbindung
  • Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeit von Kollektivverträgen
  • Dezentralisierung der Verhandlungsebenen bei der Lohnfindung
  • Abschaffung automatischer Lohnindexierungen
  • Schwächung der Regelungen zur Günstigkeit übergeordneter Vertragsebenen
  • Erweiterung der Möglichkeit zur betrieblichen Abweichung von Flächenkollektivverträgen
  • Reduzierung rechtlicher Unterstützung gewerkschaftlicher Lohnsetzungsmacht

In Summe zielen diese Empfehlungen der EU-Kommission auf eine radikale Dezentralisierung der Lohn- und Gehaltsfindung, die ohne substantielle Schwächung gewerkschaftlicher Macht nicht gelingen kann.«

Sie beschreiben dann im weiteren Verlauf ihres Beitrags die erkennbaren Entwicklungen in unterschiedlichen Regionen der EU. In ihrem Fazit bilanzieren sie:

»Die neoliberale Ideologie hat sich jedenfalls soweit durchgesetzt, dass Gewerkschaften in weiten Kreisen der herrschenden Eliten als Hemmnis des Aufschwungs und als hinderlich für die Krisenbewältigung gesehen werden. Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise wird offensichtlich dazu genutzt, all das an Strukturreformen durchzusetzen, was jahrzehntelang von wirtschaftsliberalen Kreisen zwar gewünscht, unter „normalen“ Verhältnissen jedoch nicht durchsetzbar war.«

Das hört sich nicht nur bedrohlich an. Das ist es auch.

Ein „Kuckuckskind“ inmitten der „historischen Reform“ der Leiharbeit? Eine handfeste Rosstäuscherei? Auf alle Fälle eine Verschlechterung und ein „toller Trick“

Es ist schon ein Kreuz mit der Sozialpolitik und ihren Baustellen in diesen Tagen. Da wird jahrelang über Möglichkeiten des dringend erforderlichen Bürokratieabbaus für die Jobcenter diskutiert, zahlreiche Vorschläge gemacht und am Ende kommt nach langem Fingerhakeln in der Großen Koalition der Entwurf eines „Rechtsvereinfachungsgesetzes“ heraus, das nicht nur so gut wir keinerlei substanzielle Vereinfachungen enthält, sondern ganz im Gegenteil wurden an zahlreichen Stellen faktische Rechtsverschärfungen zuungunsten der Hartz IV-Empfänger eingebaut, die noch für manchen Ärger sorgen werden. Und man muss es an dieser Stelle deutlich sagen – dieser Entwurf stammt aus einem sozialdemokratisch geführten Ministerium und die SPD befindet sich derzeit ganz offensichtlich auf dem Sinkflug. Zum einen sicherlich von einem Teil der Medien herbeiberichtet, zum anderen aber eben auch, weil sozialdemokratisches Kernkapital erneut vernichtet wird mit dieser doch oft sehr einseitig und zuungunsten der Arbeitnehmer und der Hilfeempfänger daherkommenden, zudem kleinteilig angelegten und nicht selten nur noch als krämerhaft zu bezeichnenden sozialpolitischen Gesetzgebung. Das merken die Menschen.

In so einer Gemengelage ist es für die Verantwortlichen immer besonders wichtig, etwas, was man als Erfolg verkaufen will und muss und meint zu können, zu feiern und das nicht durch irgendwelche Kritik verunreinigen zu lassen. Man braucht was für die Bilanz. Und diese Tage waren wir Zeugen einer solchen Inszenierung, deren Gelingen immer auch voraussetzt, dass die Kritik oder die Hinweise darauf, dass es eigentlich gar nicht so ist wie behauptet, nicht zu schnell kommt, denn nach einiger Zeit haben die Menschen die Sache abgespeichert und vergessen und übrig bleibt das Bild im Kopf, dass da eine ordentliche Regelung auf den Weg gebracht wurde. Gemeint ist hier der gefeierte Durchbruch bei der Regulierung der Leiharbeit.

Dass man das, was da abgefeiert wurde, durchaus kritisch sehen kann, wurde bereits am 13. Mai 2016 in diesem Beitrag angedeutet: Ein „historischer Schritt“ oder doch eher nur Reformsimulationsergebnisse? Auf alle Fälle hat die Bundesregierung das ungeliebte Thema Leiharbeit und Werkverträge (vorerst) vom Tisch. Und Arbeitgeber und Gewerkschaften geben sich gemeinsam erleichtert. Und zwischenzeitlich zeichnen sich immer deutlicher die Konturen der Folgen einer Umsetzung dessen ab, was in den bisherigen Referentenentwürfen (vgl. dazu den letzten Referentenentwurf vom 14.04.2016) unter Berücksichtigung der noch einzuarbeitenden Kompromisspunkte aus dem Koalitionsausschuss vom 10.05.2016.

Während auch die Presse weitgehend unkritisch die Jubelbotschaft von der gelungenen Verbesserung der Lage der Leiharbeiter unters Volks getragen hat, kommen Fachleute zu teilweise völlig anderen Bewertungen als beispielsweise die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die es als großen Fortschritt feiert, das Leiharbeiter endlich „verbriefte Rechte“ bekommen werden.

Als Beispiel sei hier der renommierte Arbeitsrechtler Peter Schüren in den Zeugenstand gerufen, seines Zeichens Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Universität Münster. Schüren hat der Sendung „Arbeitsplatz“ (SWR 1) am 14.05. 2016 ein Interview gegeben: Konzept gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen – Großer Wurf oder fauler Kompromiss?, so die Fragestellung des Gesprächs (» Audio-Datei). Auf die Frage, ob sich nun die Situation für die Leiharbeiter verbessern wird, antwortet er mit nein, er sieht sogar eher eine Verschlechterung gegenüber dem Status Quo. Das lässt aufhorchen. Er macht die angesprochene Verschlechterung beispielsweise daran deutlich, dass seit 2011 eine Überlassung von Arbeitnehmern nur vorübergehend folgen darf. Genau diese Begrenzung wird jetzt aufgehoben, was Schüren kritisiert. Aber wird nicht überall herausgestellt, dass ein Punkt im neuen Gesetz die Begrenzung auf 18 Monate ist als Normalfall, für die längstens ein Arbeitnehmer verliehen werden darf?
Hier nun gilt zum einen, dass vorgesehen ist, dass diese maximale Überlassungsdauer durch tarifvertragliche Regelungen in der – wohlgemerkt – Entleihbranche, also beispielsweise der Metallindustrie, sogar ohne gesetzgeberische Begrenzung nach oben verlängert werden kann. Das ist schon heftig, wenn man normalerweise das Bild vor Augen hat, dass mit Tarifverträgen die Situation der Arbeitnehmer verbessert werden soll. Aber ein zweiter Punkt ist noch entscheidender: Die maximale Einsatzdauer von 18 Monaten bezieht sich nämlich auf den einzelnen Leiharbeitnehmer und nicht auf den Arbeitsplatz im Einsatzbetrieb. Das ist eben kein trivialer Unterschied.

Auf das Grundproblem habe ich bereits 2013, als es um die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ging, in einem Interview mit Spiegel Online hingewiesen (vgl. „Karussell für Leiharbeiter“ vom 28.11.2013): »Schon jetzt sieht das Karussell für viele Leiharbeiter doch so aus: Sie werden von einer Leiharbeitsfirma angestellt, die verleiht sie an einen Betrieb. Nach der vorgeschriebenen Frist müssen sie dort gehen, werden vom Arbeitnehmerüberlasser gekündigt. Dann sind sie arbeitslos, bis das Spiel von vorne anfängt.«

Der jetzt im Jahr 2016 vorliegende Referentenentwurf lässt genau das zu: Ein Dauerbedarf beim Entleiher kann mit einer endlosen Kette von Leiharbeitern befriedigt werden. Das wird nunmehr ganz legal gestellt.

Dazu passt dann auch, dass ein Ergebnis des im Koalitionsausschusses vom 10. Mai 2016 gefundenen „Durchbruchs“ lautet: »Bei der Errichtung der Überlassungszeit eines Arbeitnehmers werden die sog. „Unterbrechungszeiten“ verkürzt von sechs auf drei Monate.« Wie praktisch. Wenn jemand 18 Monate auf einem Arbeitsplatz im Entleihunternehmen gearbeitet hat, muss er oder sie nur drei Monate woanders eingesetzt werden oder arbeitslos gewesen sein, um auf dem gleichen Arbeitsplatz wieder entliehen zu werden und er oder sie fängt dann wieder bei Null an.

Man könnte mit Blick auf die faktischen Verschlechterungen im Kontext des von den Protagonisten derzeit bejubelten“Fortschritts“, dass nach 9 Monaten im Grunde „equal pay“ erreicht werden muss (es sei denn, es bestehen – wieder – tarifvertragliche Sonderregelungen, konkret: Branchenzuschläge, die einen längeren Übergang ermöglichen) auch darauf hinweisen, dass bislang die Rechtslage so war, dass eigentlich ab dem 1. Tag „equal pay“ vorgeschrieben ist. Es sei denn, es gibt eine davon abweichende tarifvertragliche Regelung in der Verleihbranche mit den Gewerkschaften. Genau die gibt es bekanntlich zwischen den Leiharbeitarbeitgebern und der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit. Und die normieren eigene Tarife für die Leiharbeiter und heben damit das „equal pay“-Gebot aus. Diese Tarifverträge laufen derzeit noch bis 31.12.2016. Wenn die Gewerkschaften dieses Tarifverträge auslaufen lassen würden und zugleich erklären würden, dass sie keine Folgeverträge aushandeln würden, dann wäre ein tarifloser Zustand gegeben und mithin „equal pay“ ab dem ersten Tag vorgeschrieben, also ab dem 1.1.2017, weil auch eine Nachwirkung verhindert wird durch die Erklärung, keinen neuen Tarifvertrag abzuschließen zu wollen. Nur mal so als Anmerkung, was man durchaus machen könnte, wenn man sich denn vorstellen könnte, zu wollen.

In diesem Beitrag soll es aber vor allem um einen weiteren Punkt in der Liste der Verschlechterungen gehen: Es geht um das leidige Thema der illegalen Arbeitnehmerüberlassung und der damit – eigentlich – verbundenen Rechtsfolgen. Das habe ich bereits in dieser 2013 publizierten Veröffentlichung angesprochen:

Sell, Stefan: Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013, Remagen 2013

Dort findet man auf den Seiten 6-7 folgende Hinweise:

»Eigentlich ist die Sache relativ einfach: Wenn unter dem Deckmantel eines Werk- oder Dienstvertrags faktisch eine Arbeitnehmerüberlassung betrieben wird, dann sind die Konsequenzen, die bereits heute im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt sind, hart und einfach: Der Schein-Vertrag ist nichtig, der Arbeitsvertrag zwischen dem faktischen Verleiher und den überlassenen Arbeitnehmern ebenfalls und der überlassene Arbeitnehmer wird zum Arbeitnehmer des Entleihers mit allem daraus resultierenden Ansprüchen. Besonders bedrohlich für den Entleiher ist die Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung gemäß § 266a StGB. Besonders aus diesem Bedrohungsszenario könnte eine wirkungsvolle Abschreckung funktionieren, so dass viele Unternehmen, die in Inhouse-Outsourcing praktizieren, darauf achten müssen, die Grenzen zu Arbeitnehmerüberlassung nicht zu überschreiten. Was aber soll an dieser Stelle das „könnte“ im letzten Satz? Es soll überleiten zu dem bereits erwähnten Schlupfloch, mit dem man den dadurch erreichen Abschreckungseffekt wieder neutralisieren kann. Denn „erfreulicherweise“ für den Auftraggeber funktioniert die skizzierte Abschreckungswirkung heute nicht richtig – und zwar dann nicht, wenn der Scheinwerkunternehmer oder Scheindienstleister über eine Überlassungserlaubnis verfügt. Wenn das der Fall ist, dann tritt die beschriebene Rechtsfolge eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher nicht ein. Die Ansprüche des eigentlich überlassenden Arbeitnehmers richten sich in diesem Fall nicht gegen das Entleih-Unternehmen, sondern gegen das Verleih-Unternehmen. Und genau diese Konstruktion ist in der Praxis weit verbreitet: Die Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis fungiert demnach als „Reservefallschirm“ bei verdeckter Überlassung. Im Ergebnis bedeutet das, dass der faktische Entleiher bei einem Scheinwerk- oder Scheindienstvertrag praktisch kein Risiko eingeht, aber die Kostenvorteile, die sich realisieren lassen, mitnehmen kann.«

Und bereits damals habe ich mit Bezug auf den Arbeitsrechtler Peter Schüren darauf hingewiesen, dass man das relativ einfach heilen kann, wenn man denn gesetzgeberisch will:

»Aus der Logik einer anzustrebenden Abschreckungswirkung liegt der Lösungsansatz für dieses Problem auf der Hand: Man muss durch eine gesetzgeberische Änderung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz den Durchgriff der Sanktionen auf den Auftraggeber sicherstellen.
Der Arbeitsrechtler Peter Schüren hat hierzu einem handhabbaren – und gesetzgeberischen Willen vorausgesetzt auch schnell umsetzbaren – Vorschlag entwickelt: Um zu verhindern, das Schein-Werk- bzw. Schein-Dienstverträge unter dem „Schirm“ einer vorhandenen Überlassungserlaubnis gelangen, sollte der bestehende Gesetzeswortlaut im § 9 Nr. 1 AÜG geändert werden. Vorgeschlagen wird die folgende Ergänzung des § 9 Nr. 1 AÜG (die Ergänzung ist hier kursiv hervorgehoben):
„Unwirksam sind:
1. Verträge zwischen Verleihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern, wenn der Verleiher nicht die nach § 1 erforderliche Erlaubnis hat oder bei vorhandener Erlaubnis die Überlassung des Leiharbeitnehmers nicht eindeutig als Arbeitnehmerüberlassung kenntlich macht,“ (Schüren 2013: 178) … Durch diese überaus scharf wirkende Ergänzung innerhalb des AÜG würde der faktische Entleiher erhebliche Sanktionen fürchten müssen, bis hin zur Strafbarkeit seines Verhaltens, was eine erhebliche Abschreckungswirkung entfalten würde.« (Sell 2013: 11).

Nun sind drei Jahre ins Land gezogen – und endlich scheint sich dieser auf Schüren zurückgehende Vorschlag in die Wirklichkeit zu begeben. Selbst die IG Metall jubelt, folgt man dem Artikel Große Koalition beendet Gesetzes-Blockade auf der Seite www.faire-werkvertraege.de. Dort findet man unter der Überschrift „Scheinwerkverträge erschwert“ folgenden Passus:

»Bei Werkverträgen macht der Gesetzesentwurf Schluss mit dem verbreiteten Etikettenschwindel: Werden Arbeitgeber bei einem illegalen Scheinwerkvertrag erwischt, drohen ihnen künftig rechtliche Konsequenzen. Eine Verleiherlaubnis „auf Vorrat“ hilft nicht mehr weiter. Vielmehr muss laut dem Gesetzesentwurf von Anfang an vertraglich klargestellt werden, ob es sich um Arbeitnehmerüberlassung oder um einen Werkvertrag handelt. Ein Umdeklarieren während der Vertragslaufzeit soll nicht mehr möglich sein. Auch die Informationsrechte von Betriebsräten werden gestärkt. Zudem sieht Gesetzesentwurf ein Beratungsrecht im Rahmen der Personalplanung bei Fremdvergabe vor.«

Also alles gut? Mitnichten.

Wem auch immer ist es gelungen, in den Referentenentwurf, der nunmehr in das Gesetzgebungsverfahren eingespeist wird, einen folgenschweren Passus einzubauen, der die Hoffnung der IG Metall, die man dem Zitat entnehmen kann, ein grausiges Ende bereiten wird. Peter Schüren hat das in einem Beitrag unter der Überschrift „Widerspruchsrecht gem. § 9 Nr. 1 AÜG 2017 – Ein Kuckuckskind im Koalitionsvertragsnest?“ (Schüren, jurisPR-ArbR 19/2016 Anm. 1) so auf den Punkt gebracht:

»Das fingierte Arbeitsverhältnis zum Entleiher ist seit 1972 die Rechtsfolge bei der Überlassung eines Arbeitnehmers ohne Erlaubnis. Die Folgen sind bekannt, furchterregend und folglich abschreckend. Ein Unternehmen, das Scheinwerkverträge zur Kostensenkung nutzt, geht ein großes Risiko ein.
Der BMAS-Entwurf (3. Versuch, Fassung vom April 2016) sieht für die illegale Überlassung ein Widerspruchsrecht des einzelnen Arbeitnehmers gegen das fingierte Arbeitsverhältnis vor …
Auf den Punkt gebracht: Das Widerspruchsrecht bei illegaler Überlassung schützt nur den illegalen Entleiher – den schützt es freilich sehr wirksam.«

Das geplante Widerspruchsrecht konterkariert vollständig die seit langem geforderte und an sich folgenschwere sowie konsequente Inhaftnahme des faktischen Entleihers bei Scheinwerkverträgen.
»Die Regelung wäre für einige ein Segen: Unternehmen, die sich illegal Personal ausleihen, könnten damit viele Millionen sparen. Und die beteiligten Führungskräfte würden besser schlafen, weil sie sich nicht mehr vor dem Staatsanwalt fürchten müssen«, so Peter Schüren.

Der hat gemeinsam mit Sabrina Fasholz bereits 2015 auf das Scheunentor hingewiesen, das nunmehr offensichtlich geöffnet werden soll: In dem Artikel „Inhouse-Outsourcing und Diskussionsentwurf zum AÜG – Ein Diskussionsbeitrag“, erschienen in der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht (Heft 24/2015, S. 1473 ff.), führen die beiden mit Blick auf die vorgesehene „schriftliche Erklärung“, beim Verleiher bleiben zu wollen, aus:

»Indessen legt die Regelung ist dem vorausschauenden Verleiher und dem vorsichtigen Entleiher nahe, alle Arbeitnehmer, die im Rahmen eines dubiosen Werk- oder Dienstvertrags überlassen werden, eine solche Erklärung vor Arbeitsantritt beim Kunden vorsorglich unterschreiben zu lassen. Dann könnte die neue Regelung tatsächlich ein „Riesenproblem“ lösen: Die fingierten Arbeitsverhältnisses zum Endlager mit der anknüpfenden Beitragspflicht in den Zweigen der Sozialversicherung wären weg.
Will das BMAS den großen „Reservefallschirm“ Überlassungserlaubnis beseitigen – und dann durch viele kleine Reservefallschirme ersetzen? So wie der Vorschlag jetzt ist, gleicht die schriftliche Erklärung der möglicherweise illegal überlassenen Arbeitnehmer, sie wollten beim Verleiher bleiben, in ihrer Wirkung den teils dubiosen Entsendebescheinigungen (A1), die bei ausländischen Scheinwerkunternehmen „zur Sicherheit“ für die Mitarbeiter aus der Heimat mitgebracht werden und die so ein fingiertes Arbeitsverhältnis bei illegaler Überlassung seit 2006 verhindern.« (Schüren/Fasholz 2015: 1475).

Auch Wolfgang Hamann von der Universität Duisburg-Essen hat in einem Beitrag in der Zeitschrift „Arbeit und Recht“ (Heft 4/2016) darauf hingewiesen:  »Ob die geplante Neuregelung geeignet ist, das Ende der „Vorratserlaubnis“ einzuläuten, muss bezweifelt werden. Eher werden zukünftig die im Rahmen grenzwertiger Werkverträge zum Einsatz kommenden Arbeitnehmer selbst für das „Auffangnetz“ sorgen. Sie werden vor oder spätestens bei Aufnahme der Arbeit im Fremdbetrieb in einem ihnen von ihrem Arbeitgeber oder dessen Auftraggeber vorgelegten Formular erklären, dass sie an den Arbeitsvertrag mit ihrem Vertragsarbeitgeber festhalten. Derartige Erklärungen sind der Entwurfsfassung zufolge nicht ausgeschlossen.« (S. 136).

Diesen problematischen Punkt behandeln auch Klaus Ernst und Jutta Kielmann in ihrer Kommentierung: Die Bundesregierung plant Verschlechterungen bei Leiharbeit und Werkverträgen – Kritik am Referentenentwurf des BMAS (April 2016), Berlin, 12.05.2016. Sie schreiben:

»Wenn das neue Widerspruchsrecht eingeführt ist, wird das Unternehmen, das solches Fremdpersonal einsetzt, schon bei Arbeitsaufnahme von jedem Fremdmitarbeiter verlangen, dass er einen solchen Widerspruch abgibt. Dann ist der illegale Entleiher in Sicherheit: Es gibt kein Arbeitsverhältnis zum Entleiher, keine Lohnzahlungspflicht und zwangsläufig keine Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung mehr. Der illegale Entleiher stünde nach dieser „Reform“ sogar besser da als ein legaler Entleiher, denn er haftet nicht einmal als Bürge für die Sozialversicherungsbeiträge – diese Haftung gibt es bei legaler Überlassung.«

Möglicherweise fragt sich an dieser Stelle der eine oder die andere, warum überhaupt bzw. mit welcher Begründung die Bundesregierung diese Regelung aufgenommen hat in den Gesetzestext für den Entwurf: Man will den Arbeitnehmer davor „schützen“,  dass er vom Entleiher in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen werden müsste. Das nun wiederum ist ein wirklich putziges Argument angesichts der empirischen Realität. Dazu wieder Peter Schüren:

»Aus der Praxis ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein Arbeitnehmer erfolgreich gezwungen wurde, nach einer illegalen Überlassung beim Entleiher zu bleiben. Normalerweise muss sich ein Arbeitnehmer gegen harten Widerstand einklagen, wenn er tatsächlich im fingierten Arbeitsverhältnis bleiben will. Auch das BMAS hat keinen solchen Fall gefunden, in dem ein Arbeitnehmer über das fingierte Arbeitsverhältnis seinen Arbeitsplatz beim illegal tätigen Verleiher gegen seinen Willen wegen der Fiktion verloren hat.
Aber es gäbe in Zukunft mit Sicherheit tausende von Fällen der illegalen Überlassung, in denen das Widerspruchsrecht die Führungskräfte der illegalen Entleiher vor der Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung schützen könnte.«

Vor diesem Hintergrund hat Schüren die vorgesehene Widerspruchsregelung in seinem SWR-Interview auch als einen „tollen Trick“ bezeichnet – aber nicht für die betroffenen Leiharbeiter, sondern für die illegalen Arbeitnehmerüberlasser.

Fazit: Wir sind hier mit einem echten Schildbürgerstreich konfrontiert, wenn es denn einen um die Begrenzung der missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leiharbeit geht. Oder steckt da mehr hinter als nur ein Versehen, eine gesetzgeberische Tollpatschigkeit? Das wäre ein starkes Stück, aber nicht wirklich überraschend.

Man kann folglich nur hoffen, dass im Gesetzgebungsverfahren diese Verschlechterung noch gekippt wird. Die Gewerkschaften müssten – eigentlich – ein großes Interesse daran haben, das zu erreichen. Wenn nicht, dann müsste man über deren wahren Interessen nochmals nachdenken. Aber vielleicht ist es ja auch so, dass das mit dem „tollen Trick“ für die anderen einfach noch nicht wirklich angekommen ist. Das wäre zu hoffen.

Die Leiharbeitsbranche selbst versucht derzeit, von diesen wirklichen Problemen abzulenken. So berichtet die FAZ unter der Überschrift: Zeitarbeit sorgt sich um Tausende Arbeitsplätze:  »In einer aktuellen Umfrage durch die Marktforschungsgesellschaft Lünendonk rechnen die 25 größten Anbieter für Leiharbeit im laufenden Jahr nur noch mit einem Marktwachstum von 2,9 Prozent. Im vergangenen Jahr legte die Branche noch um 6,4 Prozent auf knapp 30 Milliarden Euro zu. Die Zahl der Leiharbeiter stieg um 3,5 Prozent auf rund 930.000, wie aus der Studie hervorgeht«, berichtet Sven Astheimer in seinem Artikel:

»Die Unsicherheit der Unternehmen entspringt vor allem Nahles’ Vorgabe, dass Zeitarbeiter und Stammkräfte des Einsatzunternehmens nach neun Monaten gleich bezahlt werden müssen. Aber bis heute sieht das Gesetz keine Definition vor, welche Bestandteile das umfasst: nur das Grundgehalt oder ist die komplette Vergütung gemeint? Dann müsste das Zeitarbeitsunternehmen bei der Bezahlung seiner Mitarbeiter vielleicht auch den Kantinen-, Dienstwagen- oder Kitazuschuss der vergleichbaren Stammbelegschaft des Kunden abbilden. Geklärt würde die Frage dann wohl vor Gericht, eine Prozesslawine droht.«

Und weiter: »Denn wenn die Rechtsunsicherheit so hoch bleibe, würden viele Zeitarbeitskonzerne und Kunden auf Nummer Sicher gehen und ihre Mitarbeiter vor Ablauf der neun Monate abziehen.« Klar, das werden sie sowieso in vielen Fällen machen, das sieht man doch schon heute als Normalfall. Und darüber hinaus gibt es ja auch noch eine andere Option:

»Wenn das Gesetz in den kommenden Wochen ausgearbeitet wird, will die Branche bei Nahles deshalb darauf dringen, dass den Tarifpartnern die Möglichkeit für eine Pauschalierung der Gleichbezahlung gegeben wird. Die IG Metall habe schon angedeutet, dass sie sich auf die Lösung „Stundenentgelt plus Zulagen“ einlassen würde, das sei akzeptabel. Damit wäre die hohe Rechtsunsicherheit ausgeräumt.«

Man könnte auf die Idee kommen, dass die Gewerkschaften ein Interesse haben (müssen), auch diesen Punkt abzuräumen – so jedenfalls die Interpretation, die sich aufdrängt, wenn man dem Artikel folgt. Sollte es wirklich so sein, dass die mächtigen Betriebsräte der großen Unternehmen wie Daimler und andere sich durchgesetzt haben dergestalt, dass man die Leiharbeiter als Flexibilitätsreserve für die Absicherung der Stammbelegschaften braucht? Das wäre keine ehrenrührige Debatte, sie müsste nur mal endlich mit offenen Visier geführt werden.

Auf der anderen Seite – so schlecht scheint es der Branche nicht zu gehen, wenn man solche Zahlen zur Kenntnis nehmen muss:

»An der Spitze stand auch im vergangenen Jahr der niederländische Randstad-Konzern, der auf einen Umsatz von knapp 2 Milliarden Euro in Deutschland kam. Wenn sich die gute Entwicklung des ersten Quartals fortsetzt, könnte die Marke von 2 Milliarden Euro im Jahresverlauf geknackt werden. Der weltgrößte Personaldienstleister Adecco aus der Schweiz hat mit 1,65 Milliarden Euro den zweiten Platz souverän behauptet. Auf Rang drei der Liste kehrte Manpower mit 775 Millionen Euro Jahresumsatz zurück.«

Aber auch hier darf die Tränenvase für die „arme Branche“ nicht fehlen:

»Eine weitere Entwicklung, die das Wachstum der Branche bremst, sind zunehmende Engpässe an Personal. Gerade in Süddeutschland, wo vielerorts Vollbeschäftigung herrscht, sei es kaum noch möglich, qualifiziertes Personal zu finden, heißt es. Selbst Helfer seien mancherorts rar. Deshalb rekrutieren die Unternehmen verstärkt im Ausland, etwa in Polen oder Tschechien.«

Wundert es uns an dieser Stelle, dass die betroffenen Unternehmen sogleich Forderungen an den Staat richten? Nicht wirklich: „Die Anerkennung von Qualifikationen ist aber weiterhin ein großes Problem“, wird Reiner Dilba, Geschäftsführer der Leiharbeitsfirma Orion, zitiert. Da bekommt das BMAS doch gleich neue Hausaufgaben.

Während die Verleiher munter weiter vor sich hinfordern, sollte man die wirklich enttäuschende Regelungsfolgen, die in diesem Beitrag angesprochen worden sind, nicht vergessen. Wenn das so bleibt, dann ist die „Reform“ des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein trojanisches Pferd im Arbeitnehmerlager. Das kann doch nicht gewollt sein. Oder?