Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System

Vor einem Jahr, am 27. Mai 2015, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.  In dem Beitrag ging es um eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen. Die hohen Richter in Karlsruhe haben sich einige Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu verkünden, die sicher enttäuscht aufgenommen wurde bei vielen, die gehofft haben, mit Hilfe einer in Karlsruhe testierten Verfassungswidrigkeit die Sanktionen im SGB II-System zu kippen: Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen, so kurz und bündig ist die Pressemitteilung des BVerfG vom 2. Juni 2016 überschrieben.

Die 3. Kammer des BVerfG hat einen Beschluss zur Vorlage des Sozialgerichts Gotha gefasst, dessen Kernaussage so zusammengefasst wird:

»Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betrifft die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Das Vorlagegericht war der Auffassung, dass die Sanktionsregelung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 GG sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar sei. Der Vorlagebeschluss entspricht jedoch nur teilweise den Begründungsanforderungen. Er wirft zwar durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Doch setzt er sich nicht hinreichend damit auseinander, ob diese auch entscheidungserheblich sind, da unklar ist, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen genügen. Wären die angegriffenen Bescheide bereits aufgrund fehlerhafter Rechtsfolgenbelehrungen rechtswidrig, käme es auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Wie immer bei diesen Wort für Wort durchkomponierten Sätzen muss man bei der Bewertung des Ergebnisses auf zentrale Aussagen achten: Die vielleicht wichtigste Botschaft an die, die sich Unterstützung aus Karlsruhe bei ihrem Kampf gegen die Sanktionen an sich erhofft haben, lautet: Das BVerfG erkennt „durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ in dem Vorlageschluss der Sozialrichter aus Gotha. Das lässt Spielraum für die Vorstellung einer späteren Doch-noch-Klärung dieser Fragen vor dem Verfassungsgericht.

Die Verweigerung der Annahme der Vorlage basiert primär auf einer verfahrenstechnischen Argumentation: Das BVerfG beklagt:

»Es fehlt … an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Jobcenter vor Erlass der Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II den gesetzlichen Anforderungen entsprechend über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung belehrt wurde, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Aus dieser Hauptargumentation des BVerfG für eine Nicht-Beschäftigung mit der grundlegenden Frage einer Verfassungswidrigkeit von Sanktionen könnte man ableiten, dass damit zwar diese Vorlage hinfällig geworden ist, nicht aber grundsätzlich die Möglichkeit einer „korrekten“ Vorlage. Also wenn das Sozialgericht Gotha in einem nächsten Fall den nun beklagten Mangel berücksichtigen würde und eine rechtsfehlerfreie Rechtsfolgenbelehrung stattgefunden hat, dann könnte es diesen Fall also nach Karlsruhe weiterleiten. Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit des Beschlusses.

Aber auf hoher See und vor Gericht ist man bekanntlich in Gottes Hand. Man kann durchaus auch die Hypothese vertreten, dass das BVerfG eine formalistisch daherkommende Begründung gesucht und gefunden hat, um den Kelch einer Befassung mit diesem Thema an sich vorüber ziehen zu lassen. Weil es eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen „gewichtigen verfassungsrechtlichen Fragen“ scheut und diese wenn irgendwie möglich vermeiden möchte.

Dafür hätten die Richter auch handfeste Gründe, denn eine mögliche Verfassungswidrigkeit von Sanktionen, also einer Kürzung des Existenzminimums, würde die gesamte Statik des bestehenden Grundsicherungssystems mit seiner Philosophie des Forderns und Förderns zerstören. Hartz IV würde seinen Charakter eines gerade „nicht-bedingungslosen Grundeinkommens“ (auf niedrigem Niveau) verlieren.

Und möglicherweise ist das, was die Verfassungsrichter in ihrem Beschluss „gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ nennen, der Aspekt, der dazu führt, dass man sich lieber nicht genauer damit beschäftigen möchte, weil es im Ergebnis zu einer Infragestellung des bestehenden SGB II-Systems führen würde, wenn man eine Verfassungswidrigkeit und damit eine Nicht-mehr-Anwendbarkeit des Instruments der Sanktionen statuieren würde.

Diese These ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Eine Parallele kann man durchaus erkennen in dem abweisenden Verhalten des BVerfG, sich mit den Missständen in der Pflege zu beschäftigen. Auch bei dieser Frage wurde eine Auseinandersetzung mit formalen Argumenten der Nicht-Zuständigkeit vermieden. Vgl. dazu die Blog-Beiträge Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab vom 10. Januar 2016 sowie Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vom 19. Februar 2016.

Es bleibt also spannend. Auf alle Fälle ist wieder einmal Zeit „gewonnen“. Denn eine neue Vorlage wird dauern und dann wird auch wieder eine Menge Wasser den Rhein runter fließen, bevor das BVerfG eine Entscheidung treffen wird.

Es gibt natürlich auch noch andere hohe Gerichte und das Bundessozialgericht wird noch im Juni in mehreren Verfahren Entscheidungen treffen, wo es um Sanktionen, unter anderem auch um Vollsanktionierung geht. Demnächst also hier wieder zu diesem Thema.

Ein Teil der armen Kinder im Blitzlicht der Medienberichterstattung, erneut die Abwertung von Geldleistungen und jenseits der Sonntagsreden sogar weitere Kürzungen ganz unten ante portas

In Bayern sind besonders wenige, in Bremen und Berlin besonders viele Kinder von Hartz IV abhängig. Schlechte Nachrichten zum Kindertag am 1. Juni, die man beispielsweise dieser Meldung entnehmen kann: Mehr Kinder müssen von Hartz IV leben: Insgesamt ist die Zahl der unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, im vergangenen Jahr gestiegen.
Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das geht aus einer Daten-Auswertung der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann von der Fraktion DIE LINKE anlässlich des internationalen Kindertags am 1. Juni hervor.

Im vergangenen Jahr waren im Schnitt 1,54 Millionen unter 15-Jährige betroffen. Das waren gut 30.000 Kinder und Jugendliche mehr als im Vorjahr. Die Angaben stammen von der Bundesagentur für Arbeit.
In Bremen und Berlin ist mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen abhängig (Ende 2015). In Sachsen-Anhalt sind es 21,8 Prozent, in Hamburg 20,4 Prozent. Prozentual am wenigsten Betroffene gibt es in Bayern mit 6,5 Prozent. Insgesamt sind in Ostdeutschland 20,3 Prozent der unter 15-Jährigen Hartz-IV-abhängig, in Westdeutschland 13,0 Prozent.

Man muss allerdings zum einen berücksichtigen, dass hier und den vielen anderen Berichten „nur“ von den Kindern unter 15 Jahre die Rede ist, die in einem Haushalt leben, der auf Hartz IV-Leistungen angewiesen ist. Darüber hinaus gibt es viele Kinder, die von elterlicher Einkommensarmut betroffen sind, aber in den Zahlen gar nicht abgebildet werden, weil die Familien knapp oberhalb der Hartz IV-Schwelle mit jedem Euro und Cent rechnen müssen. Zur Größenordnung: Fast drei Millionen Kinder leben am Rande des Existenzminimums, also in Familien, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht.

Außerdem wäre zu berücksichtigen, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht geben kann, es handelt sich immer um eine abgeleitete Einkommensarmut der Eltern (vgl. dazu auch den Beitrag Eine Armut, die es als solche gar nicht gibt, steigt. Sie wird ein Leben lang (nach)wirken: Kinderarmut in Deutschland. Und eine Realität zwischen Kleinkrämerei und struktureller Hilflosigkeit vom 8. April 2016).

Hinzu kommt – hinter den nackten Zahlen verbergen sich ganz unterschiedliche Schicksale und Lebenswege. Was aber sicher ist: Die materielle Ausstattung der Haushalte im Hartz IV-Bezug ist (aus haushaltspolitischen Gründen) derart eng gestrickt worden, dass viele, für „normale“ Familien selbstverständliche und gar nicht hinterfragte Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben verbaut sind. Diese an sich schon prekäre und belastende Situation verbindet sich dann nicht selten mit den Versuchen vieler Betroffener, den eigenen Status zu verbergen, oftmals spielen dabei Schamgefühle eine Rolle.

Darauf weist Ulrike Heidenreich in ihrem Artikel Bei Kindern macht Armut viel kaputt hin:

»Schön wäre es ja schon, im Fußballverein zu spielen. Der Einstieg ins Training würde dem Kind auch mit einem Zehn-Euro-Gutschein leichter gemacht. Zehn Euro pro Monat und Kind stehen Familien zu, die sich zum Beispiel Musikstunden oder eine Mitgliedschaft im Verein nicht leisten können – so sieht es das staatliche Bildungs- und Teilhabepaket vor. Auf dem Spielfeld aber wäre es mit der Chancengleichheit schnell vorbei. Denn was nützen zehn Euro im Monat, wenn das Kind auch noch ein Trikot, Stutzen und Fußballschuhe braucht?
Dann mal besser nicht anmelden. Das Kind bleibt zu Hause, das ist gratis. Der Verein oder die Freunde bekommen von all diesen Gedankenspielen nichts mit.
Armut ist peinlich. Armut ist oft unsichtbar. Sie geschieht im Geheimen. Betroffene Familien verstecken sie verschämt.«

Bedürftige Kinder aus diesen Familien werden systematisch benachteiligt, haben schlechtere Chancen in der Schule, überhaupt im Leben, so Ulrike Heidenreich. Und man bekommt sie auch zu Gesicht, wenn man beispielsweise Tafeln besucht:

»Laut Bundesverband Deutsche Tafel sind 24 Prozent der Bedürftigen dort Jugendliche unter 18 Jahren. Das sind etwa 350 000 junge Menschen.«

Parallel zur Veröffentlichung und Diskussion der Zahlen gab es einen „Aufruf gegen Kinderarmut“ von 30 Organisationen und 20 Einzelpersonen: Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist!, so ist der überschrieben. Auch darüber wurde berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bündnis fordert Grundsicherung oder in diesem Beitrag:  Für jedes Kind gleich viel. Wohlfahrtsverbände rufen zur Bekämpfung von Kinderarmut auf.

Es sei zutiefst ungerecht, dass Eltern mit höheren Einkommen für ihre Kinder mehr Unterstützung erhalten als Eltern mit mittleren oder niedrigen Einkommen, heißt es in dem Aufruf:

»Es ist ungerecht, wenn Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen für ihre Kinder mit ihrem Kindersteuerfreibetrag eine höhere Unterstützung erhalten, als Bezieherinnen und Bezieher normaler und niedriger Einkommen. Auf Grundsicherungsleistungen wie Hartz IV Angewiesene erhalten faktisch gar kein Kindergeld, denn es wird mit den Regelleistungen verrechnet. Auch der bürokratische Kindergeldzuschlag erreicht sehr viele Familien mit Kindern nicht.«

Die Initiatoren des Aufrufs kritisieren, dass Gutverdiener durch Steuerentlastungen bis zu 277 Euro im Monat erhalten, während Normalverdiener 190 Euro und Hartz-IV-Empfänger gar kein Kindergeld bekommen, da die Leistung verrechnet wird.

»Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland bezifferte die Summe, die einem Kind je nach Alter zukommen müsse, auf 250 bis 300 Euro im Monat. Das sind rund 50 Euro mehr als die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Die Regelungen unter anderem im Bildungs- und Teilhabepaket seien „viel zu kompliziert“ und erreichten bedürftige Familien häufig nicht.«

Und auch hier wieder der Hinweis auf die besondere Belastungssituation bei den Alleinerziehenden. So berichtet Gareth Joswig:

»Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter beziehen 39 Prozent der alleinstehenden Eltern Hartz IV, und die Hälfte aller Kinder mit Jobcenter-Leistungen leben bei Single-Eltern. Auch der Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sagt für Alleinerziehende ein Armutsrisiko von 42 Prozent voraus: „Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt.“«

Alleinerziehende und Hartz IV-Bezug – war da nicht was? Genau, eine von der Bundesregierung auf die Schiene gesetzte Kürzung der bestehenden, von vielen heute schon als zu niedrig dimensionierten Leistungen: Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter der sozialdemokratischen Ministerin Andrea Nahles will genau das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für ein 9. SGB II-Änderungsgesetz erreichen: Den Alleinerziehenden tageweise das Sozialgeld kürzen. Für die Tage, an denen sich das Kind beim umgangsberechtigten Elternteil aufhält, auch wenn der Ex-Partner selbst gar nicht im Hartz IV-Bezug ist.

Dazu aus dem Bericht der Linksfraktion über die öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat:

»Das ist eine „deutliche Verschlechterung“ gegenüber der aktuellen Praxis – urteilten u.a. die Sachverständigen Jäger und Sell. Beide Sachverständigen betonten, dass in der empirisch häufigsten Konstellation – Mutter leistungsberechtigt, der Ex-Partner aber nicht – eine Kürzung bei der Mutter derzeit nicht stattfindet. Dies bestätigte indirekt die Bundesagentur für Arbeit, denn: der Sachverhalt „temporäre Bedarfsgemeinschaft“ werde von Amts wegen gar nicht geprüft, sondern erst auf Initiative eines Elternteils betrachtet. Zukünftig soll – nach dem publik gewordenen Willen der Regierung, die aber formell noch kein Bestandteil des Gesetzes ist – grundsätzlich jeder Tag beim untergangsberechtigten Ex-Partner zu Kürzungen bei dem anderen Elternteil führen. Mehrere Sachverständige sprechen sich mit Nachdruck gegen Kürzungen bei der – zumeist – Mutter aus und fordern einen Umgangsmehrbedarf für den Partner. Eine einfache Lösung, die auch der Bundesrat befürwortet. Die Regierungsfraktionen müssen diese Lösung nur umsetzen wollen.«

Dazu wurde von zahlreichen Verbänden und Organisationen am 30.05.2016 dieser Aufruf veröffentlicht: „Kann ich mir Umgang mit dem Vater leisten?“. Verbände fordern Umgangspauschale für Kinder statt Leistungskürzungen bei Alleinerziehenden. Die sozialpolitische Sauerei, zugleich aber auch die bewusste Schaffung von Mehrarbeit in den Jobcentern kann man diesen Ausführungen aus dem Ausruf entnehmen:

»Der Bedarf von Kindern kann realistisch nicht tageweise berechnet werden. Zum einen fallen doppelte Kosten zum Beispiel für Kleidung und Ausstattung an und zum anderen werden laufende Kosten wie zum Beispiel für Versicherungen, Vereinsbeiträge oder das Handy im Haushalt der Alleinerziehenden auch bei tageweisen Abwesenheiten des Kindes nicht eingespart.

Beispiel: Für ein Kind im Alter von sechs bis 14 Jahren sieht das Sozialrecht neun Euro pro Tag vor. Wird das Sozialgeld für zwei Wochenenden bzw. fünf Tage im Monat gestrichen, muss die Alleinerziehende eine Kürzung von über 45 Euro verkraften.

Die von diesem Verfahren erhoffte Verwaltungsvereinfachung ist eine Illusion und verursacht (neue) Konflikte über Umgangszeiten in den Familien. Die Anzahl der Umgangstage kann monatlich wechseln und muss dann jeweils pro Monat neu berechnet werden. Eine Vereinfachung ist hier nicht erkennbar. Ein finanzieller Anreiz für die Reduzierung von Umgangstagen konterkariert darüber hinaus die von der Familienpolitik angestrebte Förderung partnerschaftlicher Elternschaft. Außerdem stellt sie einen Systembruch zum Familienrecht dar, wonach der Kindesunterhalt nicht einfach gekürzt wird, wenn das Kind sich beim Umgangsberechtigten aufhält.«

Es kann nicht wirklich sein, dass ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium eine solche Verschärfung und Leistungskürzung auf den Weg bringt. Und wenn doch, dann sehen wir hier ein (vorläufigen?) Tiefpunkt einer Politik erreicht, die sich ansonsten der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden fühlt. Also semantisch.

Es gibt finanzielle Hilfe für Kinder. Nur kommt diese nicht dort an, wo sie am nötigsten ist, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Verirrt im Förderdschungel. Auch er geht auf den Aufruf gegen Kinderarmut ein und spricht von einem „Kuddelmuddel von Fördersystemen“. Er zitiert auch die Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD):

„Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird“, ließ sie noch am Dienstag wissen. Will sagen: Mehr Geld hilft da nicht. Kinderarmut sei schließlich „vor allem Familienarmut“. Und der Schlüssel für den Kampf dagegen sei es eben, „einen oder am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“. So ließe sich der Teufelskreis von Erwerbslosigkeit und damit einhergehender Armut am besten durchbrechen. Und das hätte den Vorteil, dass es den Haushalt nicht zusätzlich belasten würde. Aber das sagte die Ministerin natürlich nicht.

Da ist es wieder, das alte Argument, das „Transferleistungen“, also Geld, nicht helfen würden. Angesichts der Beträge, mit denen die Menschen (nicht nur) im Hartz IV-System über die Runden kommen müssen, ist das – vorsichtig formuliert – eine mehr als wagemutige Ansage. Dann wird auch immer wieder gerne auf das Lösungsversprechen Erwerbsarbeit verwiesen, obgleich doch gerade die Bundesarbeitsministerin wissen sollte, was es finanziell für Millionen Arbeitnehmer bedeutet, wenn sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen und trotz Arbeit nicht über die Runden kommen bzw. keinen einzigen Sprung nach links oder rechts machen können.

Und das vor dem Hintergrund, dass man nach Jahren der intensiven Diskussion und der wissenschaftlichen Beiträge weiß, dass zum einen die Geldbeträge gerade im Hartz IV-System und vor allem für die Kinder definitiv zu niedrig angesetzt sind, also erhöht werden müssen – und das gleichzeitig für eine Verhinderung bzw. zumindest Abmilderung der oftmals zerstörerischen Armutsfolgen bei den Kindern erhebliche Investitionen in Kitas, Schulen und andere infrastrukturelle Angebote notwendig wären – kann die strategische Schlussfolgerung nur lauten: Nicht ein Entweder-Oder, sondern das eine tun und das andere nicht lassen.

Das deutsche „Jobwunder“ und seine Kelleretagen: „Arbeit auf Abruf“ auf dem Vormarsch. Den möglichen Endpunkt – „Null-Stunden-Verträge“ – kann man schon auf der Insel besichtigen

Das Spielzeug mag bei dem einen oder anderen Kind für glückliche Augen sorgen, aber bei denen, die das an die Frau oder den Mann bringen müssen, geht es weniger strahlend zu. Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben, so hat Anette Dowideit ihren Artikel überschrieben. In den Läden von Toys“R“Us sind neun von zehn Mitarbeiter Teilzeitbeschäftigte mit flexibler Arbeitszeit. Oft ist das Gehalt so gering, dass die Beschäftigten aufstockende Leistungen vom Jobcenter aus dem Grundsicherungssystem beziehen müssen. »90 Prozent aller Angestellten dort haben nach Informationen der „Welt am Sonntag“ flexible Teilzeit-Verträge. Diese garantieren den Angestellten lediglich eine Mindeststundenzahl. Erst über zusätzliche Mehrstunden, mit denen die Betroffenen jedoch nicht verlässlich planen können, kommen sie auf ein volles Gehalt … Nach Angaben der Gewerkschaft Ver.di führe die flexible Teilzeit dazu, dass es unter den rund 1.700 Angestellten in den 65 Toys“R“Us-Filialen eine signifikante Zahl an Aufstockern gebe. Diese müssen ihr Gehalt mit staatlichen Sozialleistungen aufbessern«, so Dowideit in ihrem Artikel.  Und sie benennt auch die, von denen man schon eher glückliche Augen erwarten darf: »Für Arbeitgeber sind solche kapazitätsorientierten Verträge attraktiv, da sie – gerade im hart umkämpften Einzelhandel – helfen, die Personalkosten gering zu halten. Sie verhindern, dass Mitarbeiter bezahlt werden müssen, wenn die Läden leer sind, während in Spitzenzeiten keine zusätzlichen Kräfte eingestellt werden müssen.«

Arbeitsverträge mit „flexiblen Einsatzzeiten“ seien schon heute in all jenen Branchen ein Thema, die von unplanbaren Nachfrageschwankungen abhängen, wie Gastronomie und Tourismus etwa. Und sie sind auch nicht ein neues Phänomen.

Aber es geht hier um die behauptete Expansion dieser Beschäftigungsform. Bereits im vergangenen Jahr konnte man dazu den Beitrag KAPOVAZ, Arbeit auf Abruf – ein ganz mieses Teilzeitmodell von Markus Krüsemann lesen:

»Über den Anteil der Beschäftigten, die Arbeit auf Abruf leisten, liegen abweichende Angaben vor. Ein WSI-Report vom November 2014 geht davon aus, dass mittlerweile acht Prozent der Betriebe in Deutschland Arbeit auf Abruf nutzen. Von dem Modell wären dann etwa 5,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten betroffen. Andere, auf Arbeitgeberbefragungen beruhende Quellen nennen auch höherer Anteilswerte. Abrufarbeit ist insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Bereich Wasserversorgung, im Handel, Gast- und Baugewerbe sowie im Verkehrsbereich verbreitet.«

Bei der von Krüsemann zitierten WSI-Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Nadine Absender et al.: Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik. WSI-Report 19, Düsseldorf, November 2014. Dort findet man auf der Seite 38 Beispiele aus der betrieblichen Praxis zur „Arbeit auf Abruf“.
Krüsemann schildert in seinem Beitrag Beispiele wie eine Regalauffüllerin im Einzelhandel oder die Nutzung des Instruments bei der Deutschen Post.

Doch mittlerweile gehen die Zahlen der Inanspruchnahme der Arbeit auf Abruf offensichtlich nach oben, wie Anette Dowideit in einem weiteren Artikel berichtet: Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder:

»Bundesweit sind bereits etwas über anderthalb Millionen Menschen betroffen von den „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeiten“, kurz Kapovaz. Dies hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auf Anfrage der „Welt“ berechnet.«

Und zahlreiche Unternehmen (nicht nur) aus dem Handel bedienen sich dieser Arbeitszeitgestaltung:

»Neben Toys“R“Us nutzen auch andere Handelsketten das Instrument, das dem Unternehmen Flexibilität verschafft und den Angestellten häufig an den Rand des Existenzminimums drängt. Kik zum Beispiel – ein entsprechender Arbeitsvertrag liegt der Redaktion vor. Auch Esprit, H&M und die süddeutsche Bekleidungskette Breuninger arbeiteten bereits mit ähnlichen Konstruktionen.«

Ein Aspekt, der bei der Bewertung dieser Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht vergessen werden sollte, bezieht sich auf die (potenziellen) Auswirkungen hinsichtlich der betrieblichen Mitbestimmung, denn man kann sich vorstellen, welches Druckmittel die Arbeitgeber gegen ihre derart beschäftigten Mitarbeiter haben, wenn diese beispielsweise einen Betriebsrat gründen wollen. Man könnte dann schlichtweg das Vorenthalten der „Mehrarbeit“, die normalerweise aber vorausgesetzt und seitens der betroffenen Arbeitnehmerinnen aus eingeplant ist, einsetzen, um die Betroffenen von solchen Aktivitäten „abzuhalten“. Und das wäre faktisch nicht illegal, denn der eigentliche Arbeitsvertrag enthält ja eine deutlich niedrigere Stundenzahl, die man erfüllen muss seitens des Arbeitgebers, aber auch nicht mehr.

Da ist noch Luft drin aus Arbeitgebersicht: »Tatsächlich ruft die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bereits nach einer Lockerung der derzeitigen gesetzlichen Vorgaben für solche Verträge: Die Ankündigungsfrist von zurzeit vier Tagen, wann ein Mitarbeiter zum Dienst eingeteilt werde, müsse verkürzt werden, sagte ein BDA-Sprecher auf Anfrage«, berichtet Anette Dowideit in ihrem Artikel Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben.

Gleichsam der Endpunkt dieser Entwicklung wären dann (aus Arbeitgebersicht) konsequenterweise „Null-Stunden-Verträge“, also die totale Flexibilisierung der Inanspruchnahme und zugleich Zugriffsmöglichkeit auf die betroffenen Arbeitnehmer. Die gib es bereits, in Großbritannien. Und dort werden sie intensiv genutzt und sind zugleich Gegenstand einer sehr kritischen Debatte. Die sogenannten „zero-hours contracts“ wurden auch hier schon thematisiert, beispielsweise am 14. März 2014 in dem Blog-Beitrag Schon mal was von „Nullstundenverträgen“ gehört? sowie durchaus passend am 1. Mai 2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“: Ein „Arbeitgeber-Traum“ und ein Albtraum für Arbeitnehmer am Tag der Arbeit – ein Blick in das Land der „Null-Stunden-Arbeitsverträge“.

Das ist in Großbritannien wirklich kein Nischenproblem mehr: So kann man dem Guardian am 9. März 2016 diesen Artikel entnehmen: UK workers on zero-hours contracts rise above 800,000. Ganz offensichtlich expandiert diese Beschäftigungsform auf der Insel enorm: »The number of workers on zero-hours contracts has increased by more than 100,000 over the past 12 months to exceed 800,000 for the first time, official figures show.«

Auch in Großbritannien kann man erkennen, dass diese besonders ungleichgewichtige Beschäftigungsform dort praktiziert wird, wo „schwache“ Beschäftigtengruppen entsprechend genötigt werden können, also in bestimmten Branchen und bei einem sehr hohen Frauenanteil und bei einem schwachen bis nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad:

»Zero-hours contracts are disproportionately offered to more vulnerable workers with weak bargaining power in sectors such as hotels and food services, health and social work.«

Auch Krüsemann hatte in seinem Beitrag auf die Entwicklung in Großbritannien hingewiesen und das Problem auf den Punkt gebracht:

»Da vertraglich nicht einmal eine Mindestbeschäftigungszeit festgelegt wird, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, Arbeit anzubieten, gearbeitet wird nur dann, wenn Arbeit anfällt. Und natürlich wird auch nur für die Arbeit gezahlt, die auch geleistet worden ist. Wenn gar keine Arbeit anfällt, gehen die Beschäftigten auch beim Lohn leer aus.«

Ralf Wurzbacher greift das Thema ebenfalls auf in seinem Artikel Kapovaz für Arme:

»Ganz soweit ist man hierzulande (noch) nicht. Bei fehlender Vereinbarung zum Arbeitsumfang gelten grundsätzlich mindestens zehn Stunden bezahlte Wochenarbeitszeit als gesetzlich verpflichtend. Außerdem müssen laut Teilzeit- und Befristungsgesetz Einsatzzeiten vier Tage im voraus festgelegt werden.«

Allerdings, so Wurzbacher, gibt es immer wieder Hinweise, dass diese Vorschrift in der Praxis nicht eingehalten wird. Besonders schwer treffe es dabei die sogenannten Minijobber, deren Lage doppelt prekär sei. Zur fehlenden sozialen Absicherung und dem geringen Verdienst käme bei Kapovaz im Minijob noch die Ungewissheit über Einsatzzeiten und die am Monatsende bezahlte Gesamtstundenzahl.

Die Flexibilisierung zugunsten der Arbeitgeber schreitet offensichtlich voran. Das geht über die skizzierte „Arbeit auf Abruf“ hinaus, Anette Dowideit spricht in ihrem Artikel Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder einen weiteren Punkt an, der ebenfalls dem gleichen Mechanismus folgt: Externalisierung von Arbeitgeberrisiken auf die Beschäftigten.

Das kann man auch über bestimmte Tochtergesellschaftskonstruktionen erreichen. Dazu schreibt sie:

»Die Möbelhauskette XXXL etwa, die überall in Deutschland riesige Läden betreibt, stellt ihre Verkäufer bei Tochtergesellschaften des Möbelkonzerns an. Die bekommen dann von der Betreiberfirma des jeweiligen Möbelhauses einen Auftrag.
Wird dieser Auftrag gekündigt, ist die Beschäftigungsgesellschaft insolvent – und die Mitarbeiter können auf einen Schlag betriebsbedingt gekündigt werden.«

Das wurde ebenfalls hier schon mit einem eigenen Beitrag „gewürdigt“: Arbeitnehmer entsorgen: Multi-Outsourcing der Beschäftigten in Zombie-Gesellschaften. Ein Beispiel aus der Welt der Möbelhäuser vom 20. März 2016.

Nun könnte man meinen, dass solche Entwicklung die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles nicht ruhen lässt und das bereits eifrig gegrübelt wird, ob und wie man was dagegen machen kann. Da muss man aber enttäuscht werden, wenn es stimmt, was Dowideit berichtet:

»Ministerin Nahles will jedoch weder Kapovaz-Verträgen noch Tochtergesellschaftskonstruktionen etwas entgegensetzen. Man sehe keinen Handlungsbedarf, teilt das Ministerium zum Thema Arbeit auf Abruf mit.«

Man sieht nichts. Ministerielle Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Das irgendwie kennt man derzeit auch aus so einigen anderen sozialpolitisch relevanten Feldern.