Gratwanderung zwischen Freiheit und Zwang. Das Bundesverfassungsgericht erleichtert die medizinische Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) genießt in weiten Teilen der Bevölkerung einen exzellenten Ruf. Das hängt nicht nur, aber auch mit den Themen zusammen, die hier aufschlagen sowie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts dazu. Immer wieder geht es um fundamentale Freiheitsfragen und den Schutz der individuellen Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Anmaßungen und Zumutungen.

Als eine solche fundamentale Freiheitsfrage kann und muss man sicherlich die Möglichkeit des Staates, Menschen auch gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, einordnen. Jeder wird erwarten, dass man diese letzte Option so restriktiv wie möglich ausgestaltet, um Missbrauch und übergriffiges Verhalten zu verhindern. Und man wird prima facie erwarten dürfen, dass das BVerfG diesen Schutz im Auge hat und verteidigt. Vor diesem Hintergrund wird der eine oder andere vielleicht mehr als überrascht gewesen sein, als aus Karlsruhe diese Entscheidung bekannt gegeben wurde: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar, so hat das Gericht eine Pressemitteilung überschrieben. »Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen«, so das Gericht mit Bezug auf den Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15. Also das Recht des Staates, sich gegen den Willen der Menschen eine Behandlung durchzuführen, wurde nicht begrenzt, sondern die Pflicht des Staates, das zu machen, wurde ausgeweitet. 

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USA: Gefängnisse als lukrative Profitquelle, Reformimpulse des Bundes und das Aufbegehren einiger Insassen. Und bei uns?

Die USA sind ein in jeder Hinsicht großes Land. Groß, sehr groß, ist auch die Zahl der Menschen, die sich hinter Gittern befinden. Insgesamt sitzen mit 2,2 Millionen Menschen in den USA mehr Bürger im Gefängnis als in Russland und China zusammen. Verglichen mit Deutschland liegt die Quote neunmal höher pro Kopf der Bevölkerung.  Die USA stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen. Seit 1980 hat sich die Zahl der Einsitzenden von 500.000 auf 2,2 Millionen mehr als vervierfacht. Und die meisten wird es auch nicht überraschen, dass es vor allem Schwarze und Latinos sind, die einsitzen. Beide Gruppen stellen 30 Prozent der Bevölkerung, aber mehr als 60 Prozent der Gefängnisinsassen. Einer von 35 männlichen Schwarzen und einer von 88 Latinos sitzt derzeit im Gefängnis. Dagegen sitzt nur einer von 214 weißen Männern in einer Haftanstalt. Das Thema Knast fasziniert und polarisiert in den Vereinigten Staaten. Auf der einen Seite: Die Netflix-Serie „Orange is the New Black“ ist Kult, sie spielt hinter Gittern. Davor gab es andere Serien wie „Prison Break“. Auf der anderen Seite war Barack Obama der erste Präsident überhaupt, der ein Gefängnis besucht hat. Dazu der Beitrag Obama verlangt Reform des US-Strafrechts von Marcus Pindur aus dem Juli 2015: »Die Visite in der Bundeshaftanstalt El Reno ist Teil seiner Bemühungen, eine Strafrechtsreform zu erreichen. Amerikas Gefängnisse sind nach Ansicht vieler Demokraten und Republikaner zu voll, die harten Strafen treffen Angehörige ethnischer Minderheiten überproportional. Das El-Reno-Gefängnis in Oklahoma ist in vieler Hinsicht durchschnittlich. 1.300 Gefangene, mittlere Sicherheitsstufe, zu fast 50 Prozent überbelegt. Die meisten Insassen sitzen wegen kleinerer Drogenvergehen ein, müssen aber teilweise drakonische Strafen verbüßen.«

„Hier sind junge Leute, die Fehler gemacht haben. Fehler, die sich nicht viel von denen unterscheiden, die ich gemacht habe, und die viele von Ihnen gemacht haben“, so Barack Obama beim Besuch des Gefängnisses.

Man muss sich das mal vorstellen: »In den 90er-Jahren, während der Crack-Kokain-Epidemie, führten viele Bundesstaaten drakonische Strafen selbst für kleinere Drogenvergehen ein. Wer in Kalifornien beispielsweise dreimal bei einem Drogendelikt erwischt wird, und seien es nur wenige Gramm Marihuana, den muss der Richter qua Gesetz lebenslang ins Gefängnis schicken.«

Selbst auf der republikanischen Seite gibt es Unterstützung für Obamas Anliegen einer Strafrechtsreform, beispielsweise vom Gouverneur Chris Christie, der so zitiert wird:

„Wenn wir schon Leute ins Gefängnis stecken, dann müssen wir ihnen etwas Sinnvolles zu tun geben, sie sollten nicht nur den ganzen Tag fernsehen. Wir sollten zum Beispiel darauf dringen, dass sie einen Highschool-Abschluss nachholen, damit ihre Chancen nach der Freilassung besser sind.“

Das war vor einem Jahr. Wie sieht es aktuell aus? Warum hat sich bislang so wenig getan? Man liegt nicht falsch mit der Annahme, dass es Interessen, mächtige Interessen geben muss, die einer solchen Reform entgegenstehen. Darüber berichtet Frank Wiebe in seinem Artikel Das lukrative Geschäft mit dem Knast.  Er weist darauf hin, dass viele Gefangene in privaten Haftanstalten einsitzen, und die bringen das große Geld. Die Politik will das ändern – zum Ärger der Aktienbesitzer.

»Sally Yates, stellvertretende Generalstaatsanwältin des Landes, möchte auf Bundesebene den Strafvollzug verbessern und sich von privaten Gefängnisbetreibern verabschieden.«
In einem Memorandum hat die Staatsanwältin ausgeführt:

»„Private Gefängnisse spielten eine wichtige Rolle in einer schwierigen Periode, aber im Lauf der Zeit hat sich gezeigt, dass sie im Vergleich zu den staatlichen Einrichtungen schlechter abschneiden. Sie bieten im Strafvollzug einfach nicht dasselbe Niveau an Service, Programmen und Ressourcen; sie bringen auch keine deutliche Kostenersparnis.“
Noch wichtiger aber ist: „Sie bieten nicht dasselbe Maß an Sicherheit.“ Es habe sich als schwierig erwiesen, Erziehungsprogramme in private Einrichtungen auszulagern – diese Programme seien aber wichtig, um Rückfälle von entlassenen Häftlingen zu vermeiden … Yates will daher bestehende Verträge auslaufen lassen und letztlich die privaten Gefängnisse ganz loswerden.«

Dieses von der Presse veröffentlichte interne Memorandum hat ganz handfeste Auswirkungen gehabt:

»Als Folge dieser Ankündigung brachen die Aktienkurse der privaten Gefängnisbetreiber dramatisch ein. Die Papiere von Corrections Corporation of America etwa rutschten um 35 Prozent ab. Das Unternehmen wurde 1983 gegründet und ist der größte private Gefängnisbetreiber der USA mit über 60 Einrichtungen und 90.000 Betten. Im ersten Halbjahr 2015 erzielte das Unternehmen 911 Millionen Dollar Umsatz und 104 Millionen Gewinn nach Steuern.«

Und das, obwohl die Ankündigung nur einen kleineren Teil der Gefängnisse betrifft, denn: »Die Bundesregierung kann … nur über die Bundesgefängnisse entscheiden. Die weitaus größere Zahl der Insassen befindet sich im Gewahrsam der 50 Bundesstaaten, die in großem Umfang über eigene Gefängnisse verfügen. Ebenfalls unberührt von der neuen Regelung bleiben offenbar auch Verträge der Einwanderungsbehörde mit privaten Anbietern.«

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der kommerziellen, profitgetriebenen Interessen wird es nicht einfach werden, die verfehlte Strafvollzugspolitik in den USA zu verändern (vgl. dazu bereits auch meinen Blog-Beitrag Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat vom 18. November 2014), obgleich es gute Gründe dafür gibt:

»Bereits seit einigen Jahren gibt es Versuche, die Zahl der Gefangenen zu senken – zum Teil aus humanitären Gründen, zum Teil aber auch, weil die Gefängnisse teuer sind. Zudem setzt sich die Erkenntnis durch, dass gerade in problematischen Stadtteilen häufig Jugendliche schon früh wegen kleiner Delikte hinter Gittern landen und dort erst zu richtigen Verbrechern werden.
Außerdem führen lange Gefängnisstrafen für Väter dazu, dass die Mütter mit allen Finanz- und Erziehungsproblemen alleine klar kommen müssen, was zur Benachteiligung der Kinder und damit oft gleich wieder zum Abrutschen in die Kriminalität führt«, so Frank Wiebe in seinem Artikel.

Auch Andreas Ross beschäftigt sich in seinem Beitrag Wie Amerika seine Gefangenen besser behandeln will mit dem Thema. Er berichtet von einer Gefangenenrevolte im Mai 2012 in einer Justizvollzugsanstalt des Bundes in Mississippi, die von dem privaten Gefängniskonzern Corrections Corporation of America betrieben wird. Die Forderungen der Gefangenen werden so zitiert: „Wir wollen besseres Essen, ärztliche Versorgung, Aktivitäten, Kleidung. Und wir wollen etwas Respekt!“

Aber auch Ross weist darauf hin, dass der Vorstoß für eine Justizreform seitens des Bundes nur eine sehr kleine Minderheit der Gefangenen insgesamt betrifft: Insgesamt haben wir 2,2 Million Gefangene in den USA. Von den knapp 200.000 Häftlingen des Bundes wurde noch nicht einmal jeder Achte in eine von dreizehn privaten Einrichtungen eingewiesen. Und von dem angekündigten Abschied von den privaten Betreibern ist auch nicht die Einwanderungspolizei betroffen, die kaum eigene Gefängnisse besitzt und die Inhaftierung zu deportierender Ausländer fast vollständig externen Dienstleistern überlässt.

»Die großen Gefängniskonzerne dürften weiterhin das Ohr maßgeblicher Politiker haben. Vor allem ihre Personalkosten fallen niedriger aus, weil Bundesstaaten als Arbeitgeber oft großzügigere Löhne und Sozialleistungen bieten müssen. Doch nach Ansicht der Kritiker führt gerade das zu einem Mangel an qualifizierten Wärtern und Betreuern, wodurch wiederum Sicherheits- und Gesundheitsrisiken entstünden.« Damit legt Ross den Finger auf eine klaffende Wunde. Er selbst formuliert das so: » In der Lobbymacht des in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu explodierten Wirtschaftszweigs liegt vielleicht das grundlegendste Problem, das die Privatisierung verursacht hat. Mit Wahlkampfspenden, Lobbying und „Formulierungshilfen“ für ehrenamtliche Volksvertreter versuchen sie, ihre Interessen durchzusetzen. Und das ist leicht zu ergründen: Wenn immer mehr Personen immer länger weggesperrt werden, dann locken umso saftigere Profite.«
Und gleichsam als Ausblick, der mehr als nachdenklich stimmen sollte:

»Den gegenläufigen Trend haben die Gefängniskonzerne natürlich nicht erst jetzt erkannt. Längst bieten sie den Staaten ihre Dienste auch auf den Gebieten des Drogenentzugs und der Betreuung geistig Kranker an. Immer mehr Politiker mögen in Rehabilitationsprogrammen die Lösung für ein gesellschaftliches Großproblem sehen. Für manche Unternehmen sind sie die nächste Wachstumsbranche.«

Und was ist mit den Betroffenen selbst? Über eine Entwicklungslinie berichtet Jürgen Heiser in diesem Artikel: Wider das Sklavensystem: US-Gefangene planen am 9. September landesweiten Streik in den Gefängnissen.

»Ab dem 9. September werden sich die Insassen zahlreicher US-Gefängnisse mit Arbeitsstreiks gegen ihre sich dramatisch verschlechternde Lage zur Wehr setzen. Das gab ein Aktionsbündnis bekannt, in dem sich Gruppen zusammengeschlossen haben, die Gefangene in ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen den institutionellen Rassismus im Land unterstützen. Nach monatelangen Vorbereitungen gehen die Organisatoren derzeit von einer Beteiligung in wenigstens 20 US-Bundesstaaten aus.«

Der 9. September wurde nicht ohne Grund für die geplante Aktion ausgewählt: Der Tag »markiert den 45. Jahrestag eines Aufstands in der Haftanstalt von Attica im Norden des US-Bundesstaats New York. 1.500 Insassen, vorwiegend Schwarze und Latinos, erhoben sich 1971 gegen die unhaltbaren Zustände in dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis … Dabei starben 30 Gefangene und neun Wärter.«

Wogegen richten sich die geplanten Proteste?

»Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den seit Jahren wachsenden Druck auf die Insassen, weil die Haftanstalten überfüllt sind, die medizinische Versorgung miserabel ist und Resozialisierungs- oder Wiedereingliederungsprogramme kaum noch existieren. Den zunehmend höheren Strafurteilen steht die immer seltenere Aussetzung der Strafen zur Bewährung gegenüber. So wächst das Heer rechtloser Zwangsarbeiter in der lukrativen Gefängnisindustrie staatlicher und privater Vollzugsanstalten. Wer dort keinen Willen zu arbeiten zeigt und sich nicht absolut der Anstaltsdisziplin unterwirft, verliert jeden Anspruch auf Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlassung, wird statt dessen isoliert oder mit Besuchsverboten und ähnlichem schikaniert.«

Maßgeblicher Akteur ist die „Formerly Incarcerated, Convicted People and Families Movement“ (FICPFM), eine von Exgefangenen und ihren Familien gegründete Bürgerrechtsorganisa­tion im kalifornischen Oakland. Für den 9. und 10. September hat die FICPFM ihre erste nationale Konferenz nach Oakland einberufen.

Es tut sich also einiges, aber so bitter das klingen mag: Wirklich tiefgreifende Reformen sind erst dann zu erwarten, wenn die Kosten des irrsinnigen Strafvollzugssystems entsprechende Maßnahmen auslösen und gleichzeitig sollte man sich darüber bewusst sein, dass es in den USA zahlreiche Widerstände gegen eine Lockerung des Strafvollzugs gibt, die neben den ökonomischen Interessen der Gefängnisindustrie in Rechnung zu stellen sind.

Und bei uns?

Schauen wir zuerst auf die europäische Ebene. Hierzu hat Frieder Dünkel, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Greifswald und Präsident der European Society of Criminology, einen aktuellen Beitrag verfasst unter der Überschrift The rise and fall of prison population rates in Europe:

»Europe in the early 2000s was rather clearly divided in the “good” and the “bad” countries on this basis. On the one hand we had the “good” Scandinavian countries, with very low prison population rates, and on the other hand Eastern European countries of the old Soviet empire, in particular Russia, the Ukraine and the Baltic states. These Eastern “bad guys” were competing with the US, the nation boasting the highest incarceration rates in the world, with more than 700 prisoners per 100.000 of the population.«

Bis in die frühen 2000er Jahre kann man in den Daten einen Anstieg der Zahl der Inhaftieren in Europa erkennen, was als Ausdruck des „punitive turn“ interpretiert wurde. England und Wales standen als Prototypen für das “neo-correctional model”.

Doch das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Beispiel Niederlande: »Data for some Western European countries … indicate astonishing changes in prison population rates. The Netherlands, with traditionally low levels in the 1980s experienced a quadruplicating prison population by 2006, and then a decrease in the following 10 years by 46% (from 128 to 69).« In Deutschland hat die Zahl der Gefangenen seit 2003 um 22 Prozent abgenommen. Aber dieser Trend einer Abnahme der Gefangenenzahlen wird als nicht gesichert angesehen, denn »there is a great deal of uncertainty about future developments: The refugee problem could lead to a new wave of incarceration and the moderate crime policy development in some countries, such as Germany, could be reversed by terrorist acts and influence the penal climate … New right wing populist parties, although not yet part of the government, demanded tough crime policies, not only for extraditing foreigners and migrants more easily, but also for sentencing “ordinary” offenders.«

Auf der Ebene der Inhaftierten selbst kann berichtet werden, dass im Mai 2014 von mehreren Inhaftierten der JVA Tegel in Berlin die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet worden ist. Das Anliegen und die Forderungen verweisen auf sozialpolitische Kernfragen. So kann man dem Selbstporträt der Organisation entnehmen:

»Die GG/BO stellt die soziale Frage hinter Gittern: kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz, kein „Hartz IV“ für Beschäftigungslose in der Haft – das ist die Realität des bundesdeutschen Strafvollzugs für Inhaftierte.
Die GG/BO, die vor und hinter den Gefängnismauern existiert, leitet aus dieser sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung Kernforderungen ab: Einbeziehung der inhaftierten Beschäftigten in den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und in die komplette Sozialversicherungspflicht, Abschaffung der Arbeitspflicht, Aufstockung des Taschengeldsatzes und vor allem volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern.«

Zuweilen wird darüber auch in den Medien berichtet (vgl. z.B. Rente und Mindestlohn – auch hinter Gitter), sowie beispielsweise in dem Artikel Mindestlohn hinter Gittern von Janina Brühl aus dem Januar 2015. Zu dem Zeitpunkt ging es vor allem um den gesetzlichen Mindestlohn, der zum 1. Januar 2015 eingeführt worden ist, aber von dem die arbeitenden Gefangenen nicht profitieren:

»Sie kleben Tüten, polstern Sessel oder bauen Faltkartons zusammen. Zehntausende Häftlinge müssen in deutschen Gefängnissen arbeiten. Für die Bundesländer lohnt sich das, 150 Millionen Euro haben sie 2013 so eingenommen, die Häftlinge profitieren weniger: Sie verdienen zwischen sieben und 16 Euro – am Tag. Viele Insassen wollen sich das nicht mehr gefallen lassen, immer mehr schließen sich zu einer Art Knast-Gewerkschaft zusammen. Es begann vergangenen Sommer in Berlin, nun breitet sich die Idee in Nordrhein-Westfalen aus: Von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Willich aus koordiniert der Gefangene André Schmitz, der wegen Drogenbesitzes einsitzt, die Arbeit im Westen. 100 Mitglieder hat er in kurzer Zeit gewonnen, bundesweit sind es bereits gut 400 aus 30 Gefängnissen. „Wir kämpfen gegen Ausbeutung“, sagt Schmitz. Zwei Ziele hat die Gruppe: Der neue Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll auch für arbeitende Häftlinge gelten. Und der Staat soll für sie in die Rentenversicherung einzahlen. Denn für die Zeit der Knastarbeit fehlt den Gefangenen im Alter die Rente.«

Und schon sind wir mittendrin in den Tiefen und Untiefen des deutschen Sozialrechts. In dem Artikel wird der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke zitiert: »Häftlinge seien bereits in der Arbeitslosenversicherung, warum also nicht auch in der Rentenversicherung? „Bei lebenslang sind das schnell mal 15 Jahre, in denen ein Gefangener arbeitet, aber nichts für seine Rentenkasse zusammenkommt. Da ist Altersarmut zwangsläufige Folge“, sagt Maelicke. Das empfänden viele Häftlinge als doppelte Bestrafung.«

Matthias Birkwald, der Rentenexperte der Linken-Fraktion im Bundestag, verweist darauf, dass laut Gesetz nur derjenige einen Rentenanspruch erwirbt, der freiwillig arbeitet. Doch in 13 der 16 Bundesländer herrscht hinter Gittern Arbeitspflicht. Deshalb müssten alle Länder die Arbeitspflicht abschaffen, fordert Birkwald.

Und erneut werden wir Zeugen unterlassenen Tuns in der Vergangenheit und den Folgen einer Föderalisierung in Verbindung mit Bundesländern, die Haushaltsprobleme haben, denn:

»Eigentlich sollte das Problem seit 37 Jahren gelöst sein: Das Strafvollzugsgesetz von 1978 sieht eine Sozialversicherung für Gefangene vor – der Bund hat das nur nie umgesetzt. Seit der Föderalismusreform kümmern sich die Länder um die Gefangenen. Sie müssten den Arbeitgeberanteil zahlen, die meisten wollen das aber nicht.«

An dieser Stelle setzt ein neuer Vorstoß an: Der Deutsche Verein für öffentlich und private Fürsorge hat im Juni 2016 Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung verabschiedet und veröffentlicht, die sich genau auf diesen vor über dreißig Jahren im Gesetz verankerten Punkt der Einbeziehung in die Rentenversicherung (§§ 190, 198 Abs. 3 StVollzG) beziehen.

Der Deutsche Verein empfiehlt dem Gesetzgeber

  • Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und hierzu ein entsprechendes Bundesgesetz zu verabschieden,
  • in diesem Gesetz niederzulegen, dass der Anknüpfungspunkt für die Leis- tung von Beiträgen jede im Vollzugsplan festgelegte und gegen Arbeitsentgelt geleistete Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung sowie gegen Ausbildungsbeihilfe geleistete Teilnahme an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen ist,
  • mit diesem Gesetz sicherzustellen, dass im Strafvollzug geleistete Arbeit in Anbetracht der zur Bemessung ungeeigneten geringen Verdienste der Gefangenen vollständig – d.h. sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerbeitrag – in einer angemessenen Höhe der Bezugsgröße getragen wird.

»Aufgrund der landesrechtlichen Kompetenz im Strafvollzug bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung der Länder. Der Deutsche Verein appelliert an die Länder, einem Bundesgesetz zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zuzustimmen.«

Wir werden sehen, dass die damit verbundenen Kosten nicht erwarten lassen, dass der Vorstoß demnächst bzw. überhaupt umgesetzt wird.

Abbildung 1: Dünkel, Frieder (2016): The rise ans fall of prison population rates in Europe 

Wenn Österreich von Deutschland lernen sollte. Beispielsweise beim Thema „Ein-Euro-Jobs“ und dann auch noch für Flüchtlinge

Also grundsätzlich ist das ja so eine Sache, wenn einem empfohlen wird, man möge doch bitte von diesem oder jenem Land „lernen“, wie es besser gehen kann oder aber wie etwas nicht funktioniert. Partielle Ländervergleiche sind mit Vorsicht zu genießen, vor allem, wenn es um historisch gewachsene und eigenartige Gebilde wie sozialpolitische Institutionen und Instrumente geht. Die hier nur angedeutete Skepsis geht in die eine wie auch in die andere Richtung. Also egal, ob einem der Vergleich ins Konzept passt oder nicht. Aber zuweilen – und vor allem, wenn die Länder durchaus strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen – kann das Abkupfern von den anderen eine durchaus legitime und effektive Option sein. Nehmen wir beispielsweise die beiden Länder Deutschland und Österreich.
Da gab und gibt es immer wieder den Versuch, auf das eine oder andere Land zurückzugreifen. Da könnte man beispielsweise auf die Renten-Debatte verweisen. Anfang dieses Jahres wurde Österreich als Vorbild in die deutsche Diskussion geworfen: »Deutschland und Österreich sind sich sozial, wirtschaftlich und politisch sehr ähnlich. Trotzdem sind die beiden Länder bei den Reformen ihrer Rentensysteme ganz unterschiedliche Wege gegangen.

In Österreich konzentriert sich die Altersversorgung nach wie vor weitgehend auf die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), in die auch die Selbständigen einbezogen wurden und deren Bestimmungen schrittweise für Beamte zur Anwendung kommen«, konnte man dem Artikel Rente: Deutsche oft deutlich schlechter abgesichert als Österreicher entnehmen. Das österreichische Modell der Alterssicherung wird hier als Vorbild für Deutschland herausgestellt. Weitere Details finden sich in der Studie, über die der Artikel berichtet hat:

Florian Blank et al.: Alterssicherung in Deutschland und Österreich: Vom Nachbarn lernen? WSI-Report Nr. 27, Januar 2016

In anderen Bereichen möchte man den Österreichern zurufen: Schaut euch die Erfahrungen hier bei uns in Deutschland an und vermeidet die Fehler, die wir begangen haben. Das leitet über zu dem in diesem Blog-Beitrag im Mittelpunkt stehenden Thema: Die Forderung nach „Ein-Euro-Jobs“, im konkreten Fall für Flüchtlinge. Denn darüber hat sich eine heftige Debatte im Nachbarland entzündet.

Begonnen hat alles mit einem nicht nur, aber auch populistisch zu verstehenden Vorstoß eines österreichischen Regierungsmitglieds, das auch in Deutschland durch einige Talkshow-Auftritte bekannt und dem einen oder anderen auch angesichts seines jungen Alters in Erinnerung geblieben ist: »Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat … Pläne zur Verschärfung der Ausländer-Gesetzgebung vorgelegt. Er fordert verpflichtende gemeinnützige Ein-Euro-Jobs für arbeitslose Asylberechtigte, eine Reduktion der Mindestsicherung und Maßnahmen gegen die Vollverschleierung von Frauen«, berichtete die Tageszeitung Die Presse in dem Artikel Kurz will verpflichtende Ein-Euro-Jobs für Asylberechtigte. Die Maßnahmen sollen in einem neuen Integrationsgesetz gebündelt werden.

»Als Kernpunkt seines Sammelgesetzes sieht der Minister die verpflichtenden gemeinnützigen Ein-Euro-Jobs. Er zielt damit auf die derzeit rund 25.000 beim AMS gemeldeten arbeitslosen anerkannten Flüchtlinge ab, monatlich kämen 1000 hinzu. Grundsätzlich könne man diese Pflicht zwar nicht auf diese reduzieren, angestammte Österreicher will das Integrationsressort aber durch ein Abstellen auf die Sprachkenntnisse ausnehmen.
Die Tätigkeiten sollen etwa die Instandhaltung öffentlicher Flächen, die Betreuung von Asylwerbern und anderen Gruppen sowie die Mitarbeit in Sozialeinrichtungen umfassen. Die Vermittlung soll über das AMS erfolgen, hier könnte auch die Residenzpflicht greifen. Anbieten sollen die Jobs in einem ersten Schritt nur Gebietskörperschaften, in einem zweiten Schritt eventuell auch Nichtregierungsorganisationen. Wer nicht zur Annahme bereit sei, dem sollen die Sozialleistungen gekürzt werden, so der Minister.«

Der Mann kann austeilen: „Wer den ganzen Tag zu Hause und im Park herumsitzt, der hat auch einmal Tagesfreizeit, um auf blöde Ideen zu kommen“, sog wird Kurz in dem Artikel zitiert. Und auch die „bedarfsorientierte Mindestsicherung“, die 2010 in Österreich eingeführt wurde und die die bis dato in den Ländern unterschiedlich geregelte Sozialhilfe ersetzt hat bzw. dies soll, hat der smarte Minister im Visier: Er plädiert für »eine Reduktion der bedarfsorientierten Mindestsicherung für Neuankömmlinge. Fünf Jahre rechtmäßiger Aufenthalt wäre aus seiner Sicht die Schwelle für den vollen Bezug. „Es muss einen Unterschied geben zwischen jenen, die frisch hier sind und denen, die eingezahlt haben“, argumentierte er.« Wieso eingezahlt? Wie Sozialhilfe funktioniert, sollte er eigentlich wissen.

Eines hat Minister Kurz geschafft – in Österreich ist eine breite Debatte entfacht worden über den Sinn und Unsinn der sogenannten „Ein-Euro-Jobs“. Vorweg sei angemerkt, dass er die aus Deutschland stammende Begrifflichkeit mit Sicherheit nicht zufällig verwendet hat, sondern dass dem eine Signalfunktion innewohnt, die auf das Hartz IV-System als solches verweist, denn seit einiger Zeit wird auch in Österreich immer wieder gefordert, die angeblich so erfolgreichen Hartz-Reformen zu übernehmen, wenigstens Teile davon.

Aber bleiben wir bei dem Instrumentarium, das bei uns ganz korrekt und marketingtechnisch natürlich katastrophal „Arbeitsgelegenheiten nach der Mehraufwandsentschädigungsvariante“ (geregelt im § 16d SGB II) heißt, was auch bei uns dazu geführt hat, immer von den „Ein-Euro-Jobs“ zu sprechen, was nicht unproblematisch ist.

Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Diskussion. Ein Auszug: Ein-Euro-Jobs allein werden das Problem nicht lösen, so Matthias Auer:

»Auf den ersten Blick wirken die Zahlen nicht dramatisch: Gerade einmal 6,6 Prozent der 380.000 Arbeitslosen im Land sind anerkannte Flüchtlinge. 25.000 Menschen klingt nach wenig, doch der Schein trügt. Denn der Großteil der 100.000 Syrer und Afghanen, die seit 2015 in Österreich Asyl beantragt haben, sind noch nicht auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Sie sitzen noch in Flüchtlingsheimen und warten – zur Untätigkeit verdammt– auf das Ende ihrer Asylverfahren. Etwa jeder Dritte von ihnen dürfte als Flüchtling anerkannt werden – erst dann erhalten sie Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt. Ihr Problem: Bis dahin sind selbst syrische Ärzte nach langer Flucht und oft ebenso langen Asylverfahren nur noch Langzeitarbeitslose ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Ihre Chancen, bald einen Job zu finden, sinken gegen null.«

Über die Ein-Euro-Jobs sollen anerkannte Flüchtlinge aktiv bleiben und schrittweise an die Arbeitswelt herangeführt werden, so die Idee. „Das ist vorstellbar und machbar“, wird Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice AMS, zitiert, der noch eine Rolle spielen wird. Auer stellt die Frage: Ist das aber auch sinnvoll?

»Gesellschaftspolitisch könnte es unter dem Motto „Aufrechterhaltung der Solidarität“ durchaus ein probates Mittel sein, jenen ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz eine Perspektive oder zumindest eine Beschäftigung zu geben. Denn es gibt sie, die 45-jährigen Afghanen, die in ihrem Leben noch nie eine Schule von innen gesehen haben und in Österreich wohl lang auf einen Job als Hirte oder Soldat warten werden. Für sie gibt es keinen Plan. Hier könnten Ein-Euro-Jobs (mit entsprechender finanzieller Aufstockung) ein gangbarer Weg sein.
Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht fällt die Bilanz der Ein-Euro-Jobs durchwachsen aus.«

An dieser Stelle wird dann immer – allerdings höchst selektiv – auf die „deutschen Erfahrungen“ Bezug genommen (vgl. auch den Artikel Ein-Euro-Jobs: Deutschlands umstrittene „Arbeitsgelegenheiten“). Dabei gerät so einiges völlig durcheinander, beispielsweise wenn Auer schreibt:

»Der Blick zum nördlichen Nachbarn zeigt, dass die mit den Hartz-IV-Reformen eingeführten Ein-Euro-Jobs tatsächlich die Arbeitslosigkeit im Land senken konnten. Das gehe auf Kosten der Arbeitnehmer, kritisieren die Gegner. Die Zahl jener, die unter ihrer Qualifikation (und damit deutlich schlechter bezahlt) arbeiten, sei gestiegen.«

Das ist so natürlich nicht richtig bzw. die beschriebenen Effekte haben nun wirklich nichts mit den Ein-Euro-Jobs zu tun. Offensichtlich wird der generell in Deutschland im Zuge der Hartz-Reformen stark expandierende Niedriglohnsektor in der „normalen“ Wirtschaft mit den Ein-Euro-Jobs verbunden, aber das ist falsch, denn die Arbeitsgelegenheiten spielen überwiegend in den marktfernen Bereichen gemeinnütziger Anbieter eine Rolle und höchstens an den ganz außen liegenden Rändern des Arbeitsmarktes lassen sich kleinere Einschläge registrieren.

Da geht wirklich einiges durcheinander. Beispielsweise wenn Auer schreibt: »Nach Einführung der Ein-Euro-Jobs brach die offizielle Nachfrage nach Pflegekräften angesichts der Billigkonkurrenz komplett ein. Berlin musste reagieren; so gibt es heute statt 300.000 Ein-Euro-Jobber nur noch 70.000 in der Bundesrepublik.« Also das mit der Pflege ist nun wirklich Humbug und der massive Abbau der öffentlich geförderten Beschäftigung in Deutschland, die wir seit 2011 zur Kenntnis nehmen müssen, ist keineswegs eine Reaktion auf irgendwelchen massiven Verdrängungs- und Verzerrungseffekte durch die Arbeitsgelegenheiten, sondern schlichtweg den Sparprogrammen der Bundesregierung geschuldet. Detailliertere Informationen über die Arbeitsgelegenheiten und ihre kritische Analyse in Deutschland kann man in zahlreichen Beiträgen in diesem Blog nachlesen.

Wifo-Chef: Ein-Euro-Job, aber ohne „Sozialleistung-Keule“, so ist ein anderer Artikel überschrieben: »Karl Aiginger fordert einen „zweiten Arbeitsmarkt“ für Asylberechtigte. Er kann sich auch den Dienstleistungsscheck für Flüchtlinge vorstellen.« Aiginger plädiert für ein ganz anderes Modell, nach dem »Arbeitgeber Flüchtlinge mit dem Dienstleistungsscheck bezahlen können sollten. Arbeitgeber könnten sich dann aussuchen, wie viel sie einem Flüchtling für eine Stunde Arbeit bezahlen, ob also bloß einen Euro oder den vollen Mindestlohn. Das Modell könnte auf Gemeindeebene ebenso zum Einsatz kommen wie in der Privatwirtschaft.« Das klingt doch sehr theoretisch und öffnet möglicherweise dem Missbrauch Tür und Tor. Und widersprüchlich, denn an anderer Stelle wird Aiginger so zitiert: »Als eine der größten Herausforderungen bezeichnet Ökonom Aiginger, dass ein spezieller Arbeitsmarkt für Flüchtlinge nicht dazu führen dürfe, dass in regulären Berufssparten Lohndumping beginnt. Wenn Arbeitgeber einfach ordentliche Arbeitnehmer ersetzen, wäre dies fatal. „Daher braucht es in jedem Fall eine umfassende Kontrolle in der Praxis“, so Aiginger.«

Auch Wolfgang Mazal, Professor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht an der Uni Wien, plädiert für einen zweiten Arbeitsmarkt: Ein-Euro-Jobs: System kontra Niveau, so ist sein Beitrag überschrieben. Allerdings sollten die für den zweiten Arbeitsmarkt vorgesehenen Arbeitsplätze von den Gebietskörperschaften geschaffen werden:

»Hier können durch Tätigkeiten im öffentlichen Interesse Beschäftigungspotenziale genutzt werden, die Schutzsuchenden nicht dem Druck des ersten Arbeitsmarktes aussetzen, ihnen aber sukzessive ein „Hineinwachsen“ in die österreichische Lebenswelt und Arbeitskultur ermöglichen. Weil hier kleinteilige und individuelle Lösungen sinnvoll sind, die der jeweiligen persönlichen Situation Rechnung tragen, eignen sich vorrangig der Landes- und der Gemeindebereich dazu. In Zusammenarbeit mit AMS und Sozialpartnern können einerseits jene Beschäftigungsmöglichkeiten identifiziert werden, die über den ersten Arbeitsmarkt nicht bedient werden können, und andererseits die Arbeitssuchende mit individuellen Schulungsmaßnahmen begleitet werden.«

Da sind wir schon an einem wichtigen Punkt angelangt, der auch in diesem Artikel aufgerufen wird: Flüchtlingsjobs: Experten fordern Kombination mit breitem Bildungsangebot.

Durchaus relevant erscheint mir der Hinweis, dass die Debatte in Österreich dahingehend geerdet werden sollte, dass sie sich weitgehend im theoretischen Raum bewegt, denn es müsste die geforderten Stellen ja auch geben. Und hierzu kann man diesem Artikel entnehmen:

Den Vorschlag, Flüchtlinge zu Ein-Euro-Jobs zu verpflichten, sieht Migrationsforscher Heinz Faßmann nicht nur positiv. Der Berater von Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) sagte …: „Ich würde das lieber als Angebot sehen.“ … Zur Idee, Flüchtlingen zu den Tätigkeiten zu verpflichten, sagt Faßmann: „Das muss man noch einmal durchdenken. Es ist fraglich, ob es überhaupt so viele Angebote gibt.“

Das mit dem Angebot ist eine interessante Sache, denn daran kann man zugleich auch erkennen, wie instrumentalisierend und wenig bis gar nicht an Inhalten ausgerichtet die Debatte verläuft. Dazu Simon Rosner in seinem Kommentar Pflicht für Jobs, die es nicht gibt:

»Mittwoch: Helmut Mödlhammer, Chef des Gemeindebundes, klagt, dass ein austriakischer Bürokratie-Irrsinn es den Gemeinden praktisch verunmöglichen würde, Asylwerber für gemeinnützige Tätigkeiten einzusetzen.
Donnerstag: Sebastian Kurz will anerkannte Flüchtlinge zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten, sogenannten Ein-Euro-Jobs.
Das ist schon eine Chuzpe. Vor einem Jahr hatte die Regierung angekündigt, dass Asylwerber solche Tätigkeiten verrichten können sollen. Und zwar ohne Zwang. Das wurde von vielen positiv bewertet, auch Flüchtlinge wollen nicht untätig im Heim sitzen, sondern sich einbringen.
Doch ein Jahr lang hat es die Regierung nicht vermocht, die Rahmenbedingungen so zu organisieren, dass diese Tätigkeiten einfach und unbürokratisch geleistet werden können. Vier Ministerien sind betraut, teilweise fühlen sich diese aber nicht zuständig.«

Der bereits zitierte Johannes Kopf vom Vorstand des AMS hat sich mit diesem Beitrag zu Wort gemeldet: Ein-Euro-Jobs: Grundsätzliche Überlegungen. Darin findet man diese Passage:

»Überlegungen, Diskussionen, auch Pilotversuche zum dauerhaften Aufbau eines solchen sogenannten zweiten Arbeitsmarktes gibt es seit Jahren. Wie viel darf ein solcher Arbeitsplatz kosten? Wäre es denkbar, ihn nur mit den Aufwendungen für Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder Mindestsicherung zu finanzieren? Wie verhindere ich, dass dies in Konkurrenz zu regulären Arbeitsplätzen tritt, wie verhindere ich, dass hier Personen „abzweigen oder sich verfestigen“, die mit der richtigen Förderung doch noch produktiv am ersten Arbeitsmarkt teilhaben könnten? … Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht habe ich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die vor dem Hintergrund der langjährigen deutschen Erfahrungen mit den Ein-Euro-Jobs sichtbar wurden. Es ist, vereinfacht gesagt, zwar möglich, aber gar nicht trivial, solche Jobs zu „erfinden“. Sie müssen drei Kriterien aufweisen: und zwar gemeinnützig, zusätzlich und wettbewerbsneutral sein.«

Die drei von Kopf genannten Kriterien werden seit Jahren in der deutschen arbeitsmarktpolitischen Debatte über eine sinnvolle Ausgestaltung der öffentlich geförderten Beschäftigung als zentrale Problemstellen identifiziert und kritisiert. Es kann keine sinnvolle öffentlich geförderte Beschäftigung geben, wenn man sich an dieses restriktive Voraussetzungsdreieck halten muss – und fürwahr, man muss dann wahre Klimmzüge machen, um irgendwelche und oftmals fragwürdigste Beschäftigungsgelegenheiten zu finden, die nicht zu einer Verletzung der Voraussetzungen führen. Dass das alles keinen Sinn macht, ist ein ganz starker Impuls für eine grundsätzliche Reformdiskussion über eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland (vgl. dazu zuletzt Sell, Stefan: Hilfe zur Arbeit 2.0. Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu). Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 19-2016, Remagen 2016).

Die empirischen Belege des Scheiterns einer derart restriktiv ausgestalteten öffentlich geförderten Beschäftigung in Deutschland sind eindrucksvoll und man kann den Österreichern nur zurufen, sich erst gar nicht auf diese Schiene setzen zu lassen. Vgl. zur verfahrenen Situation in Deutschland auch meinen Beitrag Die fortschreitende Programmitis in der Arbeitsmarktpolitik und ein sich selbst verkomplizierendes Förderrecht im SGB II vom 28. Juni 2016.

Dabei kann man in Österreich doch auf eine lange Tradition der öffentlich geförderten Beschäftigung zurückblicken, die teilweise sogar deutlich besser konfiguriert war uns ist als das, was wir vor allem in den letzten Jahren in Deutschland haben sehen müssen. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen in diesem Beitrag: Judith Pühringer zur aktuellen Debatte um die „Ein-Euro-Jobs“:

»Dass hier permanent der zweite Arbeitsmarkt erwähnt wird ist aus meiner Sicht eine hochproblematische Vermischung: Am zweiten Arbeitsmarkt gibt es bisher vollversicherungspflichtige, kollektivvertragliche Beschäftigungsangebote mit dem Ziel der längerfristigen Integration in den Arbeitsmarkt. Hier gibt es keine Taschengelder und kein „So-tun-als-ob-wir-arbeiten“, sondern echte Arbeit, die auch so bezahlt wird. Wenn jetzt permanent im Rahmen der Debatte von Ein-Euro-Jobs im zweiten Arbeitsmarkt gesprochen wird, dann werden dreissig Jahre hochprofessionelle und erfolgreiche Integrationsarbeit von Sozialen Unternehmen (in denen diese Beschäftigung stattfindet) mit einem Schlag in Frage gestellt und auch in ihrer Logik (echte Arbeitsplätze, echte Arbeit, echte Bezahlung) ad absurdum geführt.«

Hier liegt wahrscheinlich die größte Gefahr der gegenwärtigen Diskussion und möglichen gesetzgeberischen Aktivitäten – dass das, was ein sinnvoller zweiter Arbeitsmarkt sein kann, wie in Deutschland kleingeschreddert wird auf die Arbeitsgelegenheiten nach Mehraufwandsentschädigung, denn alle anderen Instrumente einer höherwertigen öffentlich geförderten Beschäftigung sind in den vergangenen Jahren aus dem Förderrecht entfernt worden oder sie spielen nur noch eine molekulare Rolle.

Nun könnte man aus Österreich auf den ersten Blick zu Recht einwenden, dass doch gerade Deutschland die Debatte in Österreich befeuert hat mit der Ankündigung der Bundesarbeitsministerin, 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge zu schaffen, sogar noch nicht einmal als „Ein-Euro“-, sondern als „80-Cent-Jobs“. Diese Arbeitsgelegenheiten sollen für Asylbewerber zur Verfügung gestellt werden, also vor der Anerkennung bzw. Duldung bzw. Ablehnung. Unabhängig von der Tatsache, dass seit den Ankündigungen kaum bis gar nichts passiert ist, sei hier nur an die massive Kritik an diesen Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber in den folgenden Beiträgen hingewiesen:

Bleibt natürlich die Frage, wie man es denn besser oder anders machen könnte bzw. sollte. Auch hier ließe sich von Deutschland – und seinen eklatanten Versäumnissen – lernen: Auf die Sprache kommt es an. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen Monate. Eine Arbeitsmarktintegration setzt Sprachkenntnisse voraus und die muss man vermitteln. Wenn es ein Nadelöhr gibt, dann ist es die Sprache. Insofern hätte man die Mittel und Anstrengungen auf die Sprachförderung fokussieren müssen, wobei man diese sinnvollerweise verknüpfen sollte mit praktischer Arbeit. Also richtiger Arbeit, in Unternehmen oder bei Beschäftigungsgesellschaften, die nah und am ersten Arbeitsmarkt arbeiten können und dürfen. Das wäre für viele Flüchtlinge der richtige Weg und natürlich werden dann auch unter ihnen welche übrigbleiben, die einen Übergang in Beschäftigung auf dem normalen Arbeitsmarkt schwer oder auf Jahre nicht packen werden. Die können und müssen dann in ein ausdifferenziertet System der öffentlich geförderten Beschäftigung integriert werden, in dem sich aber auch andere befinden, die vergleichbare Probleme haben.

Aber um diese diskussionswürdigen Aspekte, über die man streiten kann, geht es wahrscheinlich bei dem „Spiel“, das wir in den letzten Tagen seitens der Politik gesehen haben, gar nicht. Eine Andeutung der anderen Ebene findet man in dem Beitrag von Johannes Kopf, wenn er schreibt:

»Kurz hat damit primär weniger einen klassisch arbeitsmarktpolitischen Vorschlag gemacht, sondern vielmehr eine allgemein sozialpolitische Frage angesprochen: Muss jemand, der jahrelang von der Allgemeinheit lebt und bei dem trotz Bemühungen keine Veränderung der Situation erzielt werden kann, der Gesellschaft etwas zurückgeben? Es geht also im Kern eigentlich um eine Frage nach der Solidarität und deren Belastbarkeit …  es würde mich nicht wundern, wenn große Teile der Bevölkerung die genannte Frage mit Ja beantworten würden, jedenfalls solange es sie selbst nicht betreffen könnte.«

Genau dieses Aspekte kennen wir aus Deutschland zur Genüge. Und arbeitsmarktpolitisch zumindest, das kann man sagen, hat das nichts gebracht.