Der Mindestlohn und seine Kontrolle. Der Zoll bekommt jetzt Verstärkung. Von den Unternehmen

Er ist aus den großen Schlagzeilen verschwunden, der zum Jahresanfang eingeführte gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde für fast alle. Die Berichterstattungskarawane ist weitergezogen, aber gerade deshalb lohnt immer wieder ein Blick darauf, was sich denn in der Praxis tut. Und wenn wir uns erinnern an die großen Debatten Anfang des Jahres – neben den von vielen Ökonomen vorhergesagten massiven Beschäftigungsverlusten, die bislang auf sich warten lassen, wurde das Bild einer Überdosis an Kontrollen an die Wand geworfen, bei dem Beamte der Zollverwaltung – bewaffnet und in Rudeln auftretend – arme Geschäftsinhaber drangsalieren. Und eine zweite Front wurde eröffnet beim Thema Stundennachweise, also der Arbeitszeitdokumentation, aus der angeblich ein Bürokratiemonster erwachsen sei. Insgesamt ist es hier deutlich ruhiger geworden, aber die Politik hat ja zwischenzeitlich auch erste Lockerungsübungen veranstaltet. Das Mindestlohngesetz verlangt die Dokumentation von Arbeitszeiten aller Mitarbeiter, die unter 2.985 Euro verdienen. Zum 1. August 2015 wird die Grenze abgesenkt auf 2.000 Euro. Auch Familienangehörige werden von der Dokumentationspflicht ausgenommen. Eine Verordnung für diese Lockerungen wird gerade vom Bundesarbeitsministerium auf den Weg gebracht. Aber diese Kontrollen. Wie ist der Stand nach mehr als einem halben Jahr?

Der Zoll kontrolliert und offensichtlich ist das Ergebnis überschaubar. So berichtet die Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung in dem Artikel Bisher wenig Verstöße gegen den Mindestlohn:

»Das Gastgewerbe steht im Fokus des Zolls. So bestätigte ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums …, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres das Gastgewerbe gleich nach dem Baugewerbe am häufigsten kontrolliert wurde … „Von insgesamt 25.000 Kontrollen fanden rund 15 Prozent davon im Gaststättengewerbe statt“, sagte ein Sprecher des Ministeriums. Im Baugewerbe hätten insgesamt 46 Prozent aller Kontrollen stattgefunden. Am dritthäufigsten sei die Spedition/Transport kontrolliert worden. Im Rahmen der Kontrollen wurden insgesamt 210.000 Personen befragt.«

Und wie sieht es aus mit Verstößen gegen das Mindestlohngesetz? In 146 Fällen – weniger als ein Prozent – sind laut Ministerium Ermittlungen eingeleitet worden. Hört sich nicht gerade dramatisch an. Nun ist das mit den Zahlen immer so eine Sache – sind nun 25.000 Kontrollen viel oder weniger? Was ist die Grundgesamtheit? Offensichtlich erkennbar ist derzeit nur eines: Der Zoll läuft nicht herum und pickt sich wahllos Unternehmen heraus, sondern es gibt schon klare Schwerpunktsetzungen auf Branchen, in den denen man mit plausiblen Gründen Mindestlohnverstöße vermutet.

Aber die Kontrolldichte des Zolls wird kritisiert. Ein Beispiel, hier aus dem Artikel Wird der Mindestlohn eingehalten?:

»… Unmut herrscht … auf der Gewerkschaftsseite. Die Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt (IG BAU) fordert nun mehr Mindestlohn-Kontrollen, auch in Wilhelmshaven. „Wir stellen eklatante Verstöße gegen das Mindestlohngesetz in fast allen Bereichen fest“, erklärt der stellvertretende Regionalleiter der IG BAU im Bezirksverband Nordwest-Niedersachsen, Gero Lüers, und bezieht sich dabei auf Angaben von Arbeitnehmern.
Festzumachen sei das auch an den Umgehungsstrategien. So würden Arbeitnehmer zu Selbstständigen gemacht und Manipulationen bei der Arbeitszeiterfassung vorgenommen. Viele Arbeitnehmer würden das aus Angst, ihren Job zu verlieren, auch mittragen. Die Gewerkschaft glaubt, dass mehr Kontrollen gegen die Verstöße helfen könnten.«

Helfen könnte natürlich auch, wenn mögliche oder tatsächliche Verletzungen des Mindestlohngesetzes überhaupt verfolgt werden. Und an dieser Stelle betreten jetzt ganz neue Player das Parkett. Pizzalieferanten gehen gegen Niedriglohn-Konkurrenz vor, kann man dem in Berlin erscheinenden Tagesspiegel entnehmen.
Der Artikel beginnt mit einem konkreten Sachverhalt aus der Welt der  Gastronomie: den Pizzadiensten:

»Dass er sich keine Hoffnungen auf den Mindestlohn machen dürfe, wurde Manuel P. (Name geändert) schon im Bewerbungsgespräch in der Pizzeria deutlich gemacht. Für die Auslieferung werde er einen Stundenlohn von sechs Euro erhalten, die Touren müsse er mit seinem privaten Pkw fahren, teilte ihm sein künftiger Arbeitgeber mit. Das Geld werde er ihm am Ende jeder Schicht bar ausgezahlt.
Am Ende des ersten Arbeitstages ging Manuel P. nach vier Touren und drei Stunden Arbeit mit insgesamt 22 Euro nach Hause, also mit einem Stundenlohn von 7,33 Euro.«

Mit Hilfe einer eidesstattlichen Erklärung des Manuel P. konnte die Anwältin Nicole Thomas vor dem Landgericht Berlin einen Erfolg erzielen.

»In einer einstweiligen Verfügung untersagte das Gericht daraufhin der Berliner Pizzeria unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu 250 000 Euro oder einer Ordnungshaft, Arbeitnehmer unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns zu bezahlen.«

Das Besondere  im vorliegenden Fall: Nicole Thomas ist nicht etwa eine Anwältin einer Gewerkschaft, sondern Hauptgeschäftsführerin des Vereins zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, der im September 2014  in der Gastronomie gegründet worden ist. Pizzalieferanten wie Joey’s Pizza, Call a Pizza oder Smiley’s gehören dem Verein an.

»„In der Gastronomie gibt es viele schwarze Schafe, die Schwarzarbeiter beschäftigen und keine Mindestlöhne zahlen“, sagt Hauptgeschäftsführerin Nicole Thomas. Wenn ein Unternehmen den Mindestlohn nicht zahle, könne es auch bei den Kunden niedrigere Preise verlangen. „Das führt zu massiven Wettbewerbsverzerrungen“, kritisiert die Anwältin. Seit Anfang des Jahres geht ihr Verband gegen solche Verstöße vor.«

Um Mindestlohnverstöße aufzudecken, arbeitet der Verband auch mit einer Detektei zusammen. Bislang haben sich in zwei weiteren Fällen in Bayern und Schleswig-Holstein Unternehmen in einer Unterlassungserklärung verpflichtet, ihren Mitarbeitern künftig den Mindestlohn zu zahlen. Vor dem Landgericht Berlin ist außerdem eine weitere Klage gegen einen Pizzalieferanten anhängig, berichtet Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Interessant ist die Reaktion der Gewerkschaft:

»Bei der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten beobachtet man die Tätigkeiten des Vereins mit Skepsis. Die Vereinsmitglieder hätten sich in der Vergangenheit dadurch ausgezeichnet, nicht tarifgebunden zu sein und Niedriglöhne zu zahlen, sagte Sprecherin Karin Vladimirow. Der Verein verfolge lediglich den Zweck, Konkurrenz zu denunzieren. Unstrittig sein, dass Mindestlohnverstöße wettbewerbsverzerrend seien, sagt Vladimirow.«

Das klingt doch jetzt ein wenig nach beleidigter Leberwurst.

Der Mindestlohn wird nicht von allen eingehalten werden. Das ist sicher. Aber dass das Bundesfinanzministerium Beihilfe leisten will, ist schon bemerkenswert

Natürlich war und ist zu erwarten, dass es Unternehmen geben wird, die versuchen werden, den gesetzlichen Mindestlohn auszuhebeln, um sich Konkurrenzvorteile zu verschaffen. Und der nicht nur diskutierten, sondern in den Bereichen, wo es schon seit Jahren branchenbezogene Mindestlöhne gibt, auch beobachtbaren Phantasie einiger Unternehmer sind nur wenige Grenzen gesetzt. Eine solche Grenze sind Kontrolldruck und die Sanktionierung von Verstößen, die allerdings eine entsprechende Kontrollinfrastruktur voraussetzt. Dass es hier einige erhebliche Mängel gibt, darauf wurde und wird schon seit längerem immer wieder kritisch hingewiesen (vgl. hierzu beispielsweise den Blog-Beitrag Der Mindestlohn kommt – aber kommt auch seine Kontrolle und welche? Der Blick über den nationalen Tellerrand kann helfen). Offensichtlich war man in Berlin so ermüdet ob der harten Arbeit zur Einführung des Mindestlohns mit seinen nun doch zahlreicheren Ausnahmen als ursprünglich versprochen, dass man nun eine Erholungspause braucht, was die adäquate Personalausstattung der für die Mindestlohn-Kontrollen zuständigen Behörden, also des Zolls, angeht. Das wird sich noch bitter rächen. Hier würde es also „nur“ um den Vorwurf des Nichtstun gehen. Von einer anderen Qualität wäre zu sprechen, wenn der Staat aktiv Hilfestellung geben würde, sein eigenes Gesetz zu unterlaufen. Genau so ein Vorwort steht aber jetzt im Raum, vorgetragen von den Gewerkschaften.

Der Mindestlohn wird löchriger, so ist ein Artikel zu den Vorwürfen der Gewerkschaften überschrieben.Warum regt sich sogar der neue DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann so auf? »Anlass für Hoffmans Ärger ist eine neue Verordnung aus dem Bundesfinanzministerium für sogenannte „mobile Tätigkeiten“, zum Beispiel in der Postzustellung oder dem Gütertransport. Demnach müssten die Arbeitgeber künftig nur die Dauer, nicht aber den konkreten Beginn und das Ende der Arbeitszeit erfassen. Das sei eine Einladung, die Zeit falsch zu erfassen, kritisierte die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di.« Der DGB hat seine Pressemitteilung sogar so überschreiben: Bundesfinanzministerium fördert Missbrauch bei Mindestlöhnen – deutlicher geht Kritik nicht.

Bereits am 14.11.2014 hatte der DGB der Öffentlichkeit mitgeteilt: Mindestlohn: Finanzministerium öffnet Schlupflöcher. Wirklich skandalös ist die Tatsache, dass „der“ Staat offensichtlich versucht, seine Erkenntnisse über die Bereiche, wo es Missbräuche geben wird und dem eigenen Hinweis auf diese Bereiche im verabschiedeten Gesetz, nunmehr hinten herum wieder zu neutralisieren. Dazu erst einmal der Sachverhalt, der diesen Zusammenhang erläutert:

»Konkret geht es um zwei Verordnungen des Bundesfinanzministeriums, die Details des Mindestlohngesetzes regeln. Zum einen geht es um die Pflicht der Arbeitgeber, die Arbeistzeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Eigentlich sieht das Mindestlohngesetz vor, dass in Branchen, in denen Verstöße gegen den Mindestlohn wahrscheinlich sind („missbrauchsanfällige Branchen“), die Arbeitszeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern genau erfasst werden muss – mit genauer Uhrzeit des Arbeitsbeginns und -endes. Diese Daten müssen zwei Jahre archiviert werden, damit die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls kontrollieren kann, ob unterm Strich die Mindest-Stundenlöhne gezahlt wurden.
Der Regelungsvorschlag des Finanzministeriums sieht jetzt  aber vor, dass bei Berufen mit „ausschließlich mobiler Tätigkeit“ nur die Gesamtdauer der Arbeitszeit aufgeschrieben werden muss. Angeblich sei eine genaue Erfassung in diesen Tätigkeiten zu kompliziert. Der DGB übt scharfe Kritik: Zum einen gebe es keinen Grund, warum etwa bei der Straßen- oder Stadtreinigung oder der Personenbeförderung keine genaue Erfassung des Arbeitsbeginns und -endes möglich sein sollte. Zum anderen öffne diese Regelung dem Missbrauch Tür und Tor: Arbeitgeber müssten nur noch die „passende“ Arbeitszeit notieren, die dem Mindestlohngesetz entspricht – Kontrollen des Zolls würden unmöglich. „Es handelt sich somit um einen Regelungsvorschlag, dessen Sinn einzig und alleine in einer Förderung der Umgehung des Mindestlohns zu liegen scheint“, heißt es in einer Stellungnahme des DGB.«

Aber es gibt ja noch einen zweiten Verordnungsentwurf und der soll hier nicht unter den Teppich fallen:

»Bei der zweiten Verordnung des Finanzministeriums geht es um Detailvorschriften zum Mindestlohngesetz, zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz und zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Eigentlich müssen ausländische Arbeitgeber dem Zoll im Voraus melden, wie viele ausländische Beschäftigte sie wann, wo und in welchen Tätigkeiten in Deutschland einsetzen wollen. Auch hier will das Finanzministerium Ausnahmen für „mobile Tätigkeiten“ sowie für grenznahe Regionen schaffen: Statt der genauen Meldepflicht sollen allgemeinere „Einsatzplanungen“ für einen Sechs-Monats-Zeitraum ausreichen, die nachträglich nicht mehr kontrolliert werden müssten. Der DGB kritisiert: Das macht wirksame Kontrollen unmöglich.« Auch hierzu hat der DGB eine Stellungnahme abgegeben.

Das betrifft alles Bereiche, in denen wir mit einer hohen Plausibilität davon ausgehen können und müssen, dass es zu Umgehungsversuchen seitens einiger Unternehmen kommen wird. »„Die Verordnung des Bundesfinanzministeriums nimmt ausgerechnet die Branchen von wirksamen Arbeitszeitkontrollen aus, in denen etliche Unternehmen schon in der Vergangenheit über Lohndumping massiven Druck auf tarifgebundene und fair zahlende Arbeitgeber ausgeübt haben«, so wird der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske zitiert.

Vielleicht sollte man an dieser Stelle daran erinnern, dass das Bundesfinanzministerium Dienstherr des Zolls ist, der bereits heute 600 Planstellen nicht besetzt hat und bei dem die in Aussicht gestellten Personalressourcen, die für die zusätzlichen Aufgaben ab 2015 erforderlich sind, wohl erst bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode kommen werden (vgl. zu dieser Debatte bereits den Blog-Beitrag Die Schwarzarbeit und der Zoll sowie der Missbrauch mit dem Teil-Missbrauch. Notizen aus den Schmuddelecken des Arbeitsmarktes vom 22.03.2014). Eigentlich also hätte dieses Ministerium genug zu tun. Fragt sich natürlich auch – was sagt eigentlich Frau Nahles als zuständige Bundesmindestlohnministerin dazu. Wo ist die eigentlich? Auf Erholung?

Foto: © Stefan Sell

Der Mindestlohn kommt – aber kommt auch seine Kontrolle und welche? Der Blick über den nationalen Tellerrand kann helfen

Der Mindestlohn kommt – aber auch seine Kontrolle? Daran kann man aus heutiger Sicht so einige große Fragezeichen machen. Die zuständige Behörde, also der Zoll, verweist auf erhebliche Personalprobleme. Bereits heute sind zahlreiche Planstellen gar nicht besetzt und zusätzliches Personal angesichts der erheblich umfangreicheren Aufgaben im Gefolge der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Januar 2015 soll in geringerem Umfang als von den Fachleuten gefordert und dann auch noch zeitlich gestreckt erfolgen (vgl. dazu den Beitrag „Zwei Beamte mehr, das ist ein schlechter Witz“). Gerade am Beginn der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist eine spürbare Kontrolldichte und die klare Botschaft, dass es riskant werden wird, sich dem Mindestlohn zu entziehen, von großer Bedeutung, um die zahlreichen Umgehungsstrategien der schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern, die sich mit dem Unterlaufen des Mindestlohns einen Konkurrenzvorteil gegenüber den anständigen Unternehmen verschaffen wollen und könnten, wenn nicht zu verhindern, so doch wenigstens gehörig zu begrenzen.

Hinzu kommt: Je genauer man in bestimmte Tätigkeitsfelder hineinschaut, um so deutlicher erkennbar werden auch ganz handfest-praktische Kontrollprobleme, die man bekommen wird, auch wenn man kontrollieren will. Man denke an dieser Stelle nur an Branchen mit Umsatzbeteiligungsmodellen, die Taxi-Branche mag hier stellvertretend genannt sein.
In so einer Situation ist es immer wieder hilfreich, den Blick über den nationalen Tellerrand zu weiten und in andere Länder zu schauen, die schon lange einen gesetzlichen Mindestlohn haben. Wie organisieren die das mit der Kontrolle?

Genau diesen Ansatz hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung gewählt. Herausgekommen ist diese Studie:

Thorsten Schulten, Nils Böhlke, Pete Burgess, Catherine Vincent und Ines Wagner: Umsetzung und Kontrolle von Mindestlöhnen Europäische Erfahrungen und was Deutschland von ihnen lernen kann. Studie im Auftrag der G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung (= G.I.B. Arbeitspapiere 49), Bottrop, November 2014

Mindestlohn: Für erfolgreiche Umsetzung noch einiges zu tun, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben. Darin wird über die wichtigste Aspekte der Studie berichtet:
Analysiert haben die Wissenschaftler die Mindestlohn-Praxis in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Außerdem haben sie sich mit der Durchsetzung von Lohnuntergrenzen in einzelnen deutschen Branchen befasst.

Nach Auffassung der Wissenschaftler gibt es Handlungsbedarf in den folgenden Bereichen: Transparente Vorschriften, korrekte Erfassung der Arbeitszeit, effektive Kontrollen, Aufklärung und Durchsetzung von Ansprüchen sowie gesellschaftliche Akzeptanz.

Hier die Erläuterungen des WSI zu den genannten Handlungsbedarfen, die der Pressemitteilung entnommen worden sind:

»Transparente Vorschriften: Um überprüfen zu können, ob die künftige Lohnuntergrenze eingehalten wird, wären klare Vorgaben dafür nötig, wie die tatsächliche Lohnhöhe zu berechnen ist. Das Problem: In der vom Bundestag beschlossenen Regelung fehlt nach Analyse der Forscher eine solche präzise Definition. Wenn es darum geht, welche Einkommensbestandteile in die Kalkulation einfließen dürfen, verweist die Bundesregierung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs. Demnach dürfen Arbeitgeber nur das berücksichtigen, was sie für die vertraglich vereinbarte „Normalleistung“ zahlen. Das heißt: Tätigkeiten, die über das Normalmaß hinausgehen, sind extra zu vergüten. Das betrifft beispielsweise Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, Gefahrenzulagen oder Trinkgelder. Dagegen herrsche Uneinigkeit darüber, wie mit Weihnachts- und Urlaubsgeld oder Verpflegung und Unterkunft umzugehen ist, monieren die Autoren. Für Unternehmen und Beschäftigte sei damit teilweise nicht nachvollziehbar, wer durch den Mindestlohn Anspruch auf eine Lohnerhöhung hat. Hier wäre nach der WSI-Analyse eine Klarstellung durch den Gesetzgeber angebracht.«

»Korrekte Erfassung der Arbeitszeit: Da der Mindestlohn sich auf die Bezahlung pro Stunde bezieht, ist nicht nur die Lohnhöhe, sondern auch die Länge der Arbeitszeit maßgeblich. Auch hier sehen die Wissenschaftler weiteren Regelungsbedarf. Die Erfahrungen des europäischen Auslands und auf Branchenebene zeigten, dass die unkorrekte Erfassung der Arbeitszeit eine gängige Praxis zur Umgehung von Mindestlöhnen ist. Zum einen müssten Beschäftigte oft unbezahlte Mehrarbeit leisten – das passiert auch und gerade in Deutschland: Umfragen zufolge macht ein Fünftel der deutschen Beschäftigten regelmäßig Überstunden, die nicht vergütet werden. Zum anderen lüden Vergütungssysteme mit Stücklöhnen sowie Akkordarbeit zum Missbrauch ein, die gerade im Niedriglohnbereich weit verbreitet sei. Arbeitgeber könnten versucht sein, bei der Berechnung von Stundenlöhnen von unrealistisch hohen Arbeitsanforderungen auszugehen. Darüber hinaus lasse das Mindestlohngesetz offen, wie mit „besonderen Arbeitszeiten“ wie Bereitschaftsdienst oder Anfahrts- und Wartezeiten zu verfahren ist.«

»Effektive Kontrollen: Um Verstößen gegen das neue Gesetz vorzubeugen, ist der Studie zufolge eine angemessene Kontrolldichte unerlässlich. Erfahrungen zeigten zwar, dass sich die große Mehrheit der Unternehmen gesetzeskonform verhält. Insbesondere in arbeitsintensiven Branchen wie dem Einzelhandel oder dem Gastgewerbe sei allerdings durchaus mit Umgehungsversuchen zu rechnen. In Frankreich und den Niederlanden gibt es jeweils eine umfassende Arbeitsinspektion, die das verhindern soll. Deutschland dagegen verfüge über eine fragmentierte Struktur unterschiedlicher Kontrollbehörden, schreiben die Forscher. Am wichtigsten sei die beim Zoll angesiedelte Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Dazu kommen landeseigene Kontrollstellen im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe und die Rentenversicherung, die regelmäßig Betriebsprüfungen durchführt. Gewerbeaufsichtsämter, Arbeitsagenturen und Sozialkassen seien zwar nicht explizit zuständig, aber durchaus in der Lage, Verstöße aufzudecken. Wichtig wäre, dass diese verschiedenen Institutionen effizient zusammenarbeiten. Problematisch sei außerdem, dass die geplante Aufstockung der FKS um 1.600 Stellen erst in fünf Jahren abgeschlossen werden soll, da gerade in der Einführungsphase des Mindestlohns von besonders vielen Verstößen ausgegangen werden müsse, so die Forscher. Die Bußgelder von bis zu 500.000 Euro und die Möglichkeit, gesetzeswidriges Verhalten mit dem Ausschluss von öffentlichen Aufträgen zu bestrafen, dürften aber Wirkung zeigen: „Der damit geschaffenen Sanktionsrahmen ist – sofern er in der Praxis auch tatsächlich ausgeschöpft wird – durchaus geeignet, eine präventive Regelung gegen Mindestlohnverstöße zu schaffen.“«

»Aufklärung und Durchsetzung von Ansprüchen: Neben wirksamen Sanktionen bedarf es laut der WSI-Studie gangbarer Verfahren, mit denen Arbeitnehmer ihre Mindestlohnansprüche geltend machen können. Eine wichtige Voraussetzung: Die Beschäftigten müssen sich über ihre Rechte im Klaren sein. Daher, so die Empfehlung, sollten Arbeitgeber verpflichtet werden, ihre Belegschaften über deren Ansprüche zu informieren. Außerdem müsse die Gehaltsabrechnung so gestaltet sein, dass die Einhaltung des Mindestlohns nachvollziehbar ist. Ähnlich wie in Großbritannien wäre zudem ein Mindestlohn-Rechner im Internet hilfreich.
Dass das Arbeitsministerium mittlerweile ein Bürgertelefon eingerichtet hat und eine Informationsstelle für den Mindestlohn bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geplant ist, begrüßen die Forscher. Denn es habe sich gezeigt, dass niedrigschwellige Beratungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Dazu werde auch eine Hotline beitragen, die der Deutsche Gewerkschaftsbund ab Anfang Januar anbieten will. Abgesehen von möglichst umfassender Aufklärung wären mehr kollektive Klagemöglichkeiten wünschenswert, betonen die Forscher: Aus Angst vor Sanktionen oder Jobverlust hätten viele Beschäftigte erfahrungsgemäß Hemmungen, Verstöße vor Gericht zu bringen. Helfen könnte ein Verbandsklagerecht wie in Frankreich, wo Gewerkschaften stellvertretend für Arbeitnehmer klagen können.«

»Gesellschaftliche Akzeptanz: Eine zentrale Herausforderung bestehe darin, den Mindestlohn zu einer allgemein akzeptierten Institution zu machen, schreiben die Wissenschaftler. Wenn das gelinge, so die Erfahrung anderer Länder, werde sich die Lohnuntergrenze weitgehend von alleine durchsetzen. Das Problem: Zwar befürworte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die neue Regelung, große Teile der Wirtschaft seien aber nach wie vor skeptisch. Die Autoren empfehlen Großbritannien als Vorbild: Dort habe eine umfassende Informationskampagne die Mindestlohneinführung begleitet. Zudem organisiere die Low Pay Commission einen breiten gesellschaftlichen Dialog und gebe regelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag. Auch in Deutschland gelte es, Wirtschaftsverbände, Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräte miteinander ins Gespräch zu bringen, um gemeinsam Probleme zu identifizieren und kreative Lösungen zu entwickeln. Vorbild könnten die bereits bestehenden Branchenbündnisse gegen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sein, in denen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Zoll zusammenarbeiten.«

Die Befunde und Vorschläge zeigen: Es ist noch eine Menge zu tun in Deutschland.

Foto: © Stefan Sell