Die Zeitungsverleger, die Große Koalition und der erfolgreiche Lobbyismus. Erneut eine fragwürdige Sonderregelung für die Verleger bei den Zeitungszustellern

Auch wenn derzeit ein Großteil der Diskussionen nach Vorlage des Koalitionsvertrages zwischen Union und SPD um die Tiefen und Untiefen politischer Erwerbsbiografien kreist, sollte man den Blick nicht ablenken lassen, sondern das 177 Seiten umfassende Kompromissergebnis der Verhandler genauer analysieren. Wenn man das tut, dann stößt man auf „interessante“ Vereinbarungen, die sich wie eine Fortsetzungsgeschichte dessen lesen, was hier schon vor Jahren thematisiert und problematisiert wurde. Da gibt es im Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 ein Kapitel VII unter der wohlklingenden Überschrift „Soziale Sicherheit gerecht und verlässlich gestalten“. Und wenn man sich in die dort beschriebenen Vorhaben vertieft, dann stößt man auf diesen Passus:

»Zur Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte – in Stadt und Land gleichermaßen – wird bei Minijobs von Zeitungszustellerinnen und Zeitungszustellern der Beitrag zur Rentenversicherung, den die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu tragen haben, befristet für die Dauer von fünf Jahren bis zum 31. Dezember 2022, von 15 auf 5 Prozent abgesenkt.«

An dieser Stelle wird sich der eine oder andere treue Leser dieses Blogs stirnrunzelnd erinnern – da war doch schon mal was mit Sonderregelungen für die Zeitungszusteller? Richtig, wir müssen uns an dieser Stelle zurückbeamen in die Zeit, als das Mindestlohngesetz entstand und kurz vor der gesetzgeberischen Verabschiedung stand, also in das Jahr 2014.

Am 24. Juni 2014 erschien in diesem Blog der Beitrag Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen? Wir befanden uns damals inmitten der Schlacht um die Ausgestaltung des gesetzlichen Mindestlohnes, dessen Einführung zum 1. Januar 2015 in Aussicht gestellt wurde. Zum einen liefen zahlreiche Mainstream-Ökonomen mit einem wahren Furor Sturm gegen den Mindestlohn als solchem und malten gigantische Jobverluste an die Wand. Wir wissen, was daraus geworden ist – nichts. Auf einer ganz anderen Baustelle waren die Lobbyisten einzelner Branchen unterwegs – sie versuchten mal offen, mal im Hinterzimmer für ihren Beritt Ausnahmeregelungen herauszuschlagen. Hier sah das Ergebnis durchaus anders aus als bei den Excel-Ökonomen.

Das wurde bereits grundgelegt mit der Formulierung im damaligen Koalitionsvertrag, dass man mit den Branchen über die Umsetzung des Mindestlohnes sprechen und verhandeln wolle, was die Tür für Ausnahmeregelungen geöffnet hatte. Die sind dann ja auch gekommen – für Jugendliche unter 18 Jahren, für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten und als Übergangslösung die Regelung, dass in Branchen, die tarifvertraglich niedrigere Löhne vereinbart hatten als die vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde Mindestlohn, bis Ende 2016 auf die Anwendung des eigentlich höheren Mindestlohnsatzes verzichtet werden konnte.
Und zahlreiche Branchen hatten versucht, unter das Dach der Ausnahmeregelungen zu schlüpfen – die Taxi-Branche, die Landwirte für die bei ihm beschäftigten Saisonarbeiter oder der gesamte Bereich der Gastronomie.

Mit dabei – die Zeitungsverleger. Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) gab es 2014 etwa 160.000 Zeitungsausträger. Die Mehrzahl davon sind geringfügig Beschäftigte, also Minijobber. Und die Verleger haben Zeter und Mordio geschrieen und sie wurden offensichtlich erhört in den heiligen Hallen des Bundesarbeitsministeriums. Zumindestens, so der Stand im Juni 2014, war man bereit,  ihnen ein Kompensationsangebot zu machen. Das sollte so aussehen, dass zwar der Mindestlohn grundsätzlich auch für die Zeitungsausträger Anwendung finden würde, gleichzeitig man aber die damit verbundenen höheren Kosten an einer anderen Stelle teilweise kompensieren will, indem den Arbeitgebern ein Teil der Sozialabgaben erlassen wird.

Bereits damals hatte man eine teilweise „Kompensation“ der Mindestlohnkosten vor Augen, die nun wieder – man schaue sich die Formulierung am Anfang dieses Beitrags aus dem neuen Koalitionsvertrag an – von den Toten auferstanden ist: Die Überlegung damals war, den Zeitungsverlegern für fünf Jahre befristet geringere Sozialabgaben für Minijobber unter den Zeitungsboten einzuräumen. Dadurch, so die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), würden etwa 60 Prozent der Mindestlohn-Mehrkosten für die Zeitungsverleger ausgeglichen. Konkret hatte man den Zeitungsverlegern das Angebot gemacht, dass sie für fünf Jahre für Minijobber nur die geringeren Sozialabgaben wie in Privathaushalten zahlen. Das hätte einen Unterschied von rund 18 Prozentpunkten ausgemacht, denn für Minijobs im privaten Bereich fallen inklusive der Pauschalbesteuerung für Arbeitgeber 12,5 Prozent des Lohns an Abgaben an. Im gewerblichen Bereich sind es 30 Prozent.

Aber zu dieser damals schon angedachten Rabatt-Regelung bei den Minijobs ist es im Finale dann nicht gekommen. Bereits wenige Tage später, am 27. Juni 2014, wurde dann dieser Beitrag hier veröffentlicht: Die „Ausnahmeritis“ grassiert im großkoalitionären Berlin. Oder: Wie der Mindestlohn schrittweise in Richtung Schweizer Käse verhandelt wird. Zwischenzeitlich hatte es auch die Lobby der Bauern geschafft, Sonderregelungen für ihre Saisonarbeiter herauszuschlagen. Und auch die Zeitungsverleger waren erfolgreich, aber anders als ursprünglich angeboten: Statt der angepeilten Entlastung bei den Sozialbeiträgen hatte man sich auch befristete Abweichungen vom Mindestlohn an sich verständigt.

Und Anfang Juli 2014 wurde dann das Mindestlohngesetz (MiLoG) verabschiedet. Die Bemühungen der Verleger-Lobby, für die Zeitungszusteller Ausnahmeregelungen den Mindestlohn betreffend, waren durchaus erfolgreich – kurz vor Toresschluss wurde die in der Abbildung skizzierte Übergangsregelung eingebaut (vgl. dazu dann den Beitrag Die Zeitungszusteller, ihr verdünnter Mindestlohn und – nicht nur – der Lobbyismus der Verleger. Eine echte Zangengeburt mit offenem Ende vom 23. Juli 2014). Um das Besondere dieser Lex Verleger-Lösung zu verstehen, muss man sich an dieser Stelle nochmals in Erinnerung rufen, dass die Möglichkeit, übergangsweise bis 2017 von den 8,50 Euro pro Stunde nach unten abzuweichen nur für die Fälle zugelassen war, in denen die Tarifparteien eine tarifvertragliche Regelung getroffen haben. Genau das aber haben die Verleger andres als andere Arbeitgeber nun gerade nicht gemacht – und trotzdem haben sie die Übergangsregelung bekommen: Im Ergebnis haben die Verleger also ihr tarivertragsfeindliches Verhalten belohnt bekommen im Kontext eines „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“. Das hat schon was.

Was waren denn eigentlich die offiziellen Argumente für die Sonderregelung zugunsten der Zeitungszusteller? Man glaubt es kaum, aber unter der „Pressefreiheit“ hat man es damals schon nicht gemacht: Die Zustellung ist notwendige Bedingung für das Funktionieren der durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes geschützten freien Presse. Die verlässliche Trägerzustellung von Zeitungen und Zeitschriften am Tag ihres Erscheinens an den Endkunden ist eine wesentliche Säule für den Vertrieb dieser Printprodukte, so konnte man es der Begründung entnehmen. Meine Einordnung dieses Versuchs einer Rechtfertigung im Jahr 2014 ging so:

»Also das ist schon reichlich skurril, denn das bedeutet, dass man offensichtlich die Pressefreiheit nur aufrechterhalten kann, wenn man denn den Austrägern sehr niedrige Vergütungen zahlt. Nur – ungeachtet der Putzigkeit dieses „Arguments“, denn eigentlich bedeutet das ja konsequent, also logisch bis zum Ende gedacht, dass Tageszeitunge, aber auch die Werbezeitungen, die es vielerorts gibt und die kostenlos an die Haushalte verteilt werden, eine Staatssubventionierung bekommen müsste, die man über eine Zeitungs-GEZ organisieren könnte 😉 – ist das eigentlich richtig? Gibt’s nicht immer wieder Berichte von Medienökonomen, die darauf hinweisen, dass nicht wenige Verlage Renditen auch im zweistelligen Prozentbereich erwirtschaften? Außerdem: Was ist eigentlich von denjenigen Verlegern zu halten, die in den letzten Jahren durch Aufspaltungen und Ausgliederungen der Zustellung in tariflose, betriebsratsfreie Sub- und Sub-Sub-Unternehmen die Löhne soweit gesenkt haben, dass heute für ganze Regionen keine Zeitungsträger mehr gefunden werden, dass Stellen nicht besetzt sind und dadurch die zuverlässige und pünktliche Zustellung akut gefährdet ist? Welchen Dienst erweisen sie der Pressefreiheit und dem Grundgesetz?«

Bereits damals wurde darüber nachgedacht, wie das mit der Besserstellung der Verleger wirklich hatte passieren können. Das Politik-Magazin „Report Mainz“ griff das Thema in diesem kritischen Beitrag im Sommer 2014 auf: Ausnahmen beim Mindestlohn: Der Sieg der Lobby. Natürlich ist die Hypothese naheliegend, dass die Politik hier gegenüber einer ganz speziellen Branche deshalb nach einer Ausnahmeregelung gesucht hat bzw. sich ihrem Lobby-Druck gebeugt hat, weil sie die Meinungsmacht und die Einflussmöglichkeiten über das, was da ausgetragen wird, fürchtet. Es soll ja Medien geben, die Politiker in Grund und Boden schreiben lassen können.

Und man soll ja nicht glauben, dass die Verleger sich mit dieser geldwerten Verbeugung vor ihrem tatsächlichen oder vermuteten Einfluss zufrieden gegen haben. Sie habe weiter auf die Tränendrüse der Existenzgefährdung durch den Mindestlohn gedrückt. Man erinnere sich an eine (in mehrfacher Hinsicht) bezeichnende Szene aus dem letzten Bundestagswahlkampf, im Jahr 2017, über die in diesem Beitrag von Marvin Schade vom 1. September 2017 berichtet wird: „Dann können Sie nicht SPD wählen“: So watschte Martin Schulz die Geschäftsführerin der Lübecker Nachrichten ab: »Der Mindestlohn für Zeitungszusteller ist vielen Verlagen ein Dorn im Auge. Deshalb versuchen fleißige Lobbyisten, die Politik von Entlastungen zu überzeugen. Wie plump das ablaufen kann, offenbarte nun Stefanie Hauer, Geschäftsführerin der Lübecker Nachrichten. Im Gespräch mit Martin Schulz winselte sie förmlich um Hilfe – zum Leidwesen anwesender Redakteure, die sich in stiller Fremdscham wanden.«

Die Verlagsgeschäftsführerin wollte von Schulz wissen, ob er als Kanzler Entlastung schaffen könne, beispielsweise indem er Verlagen geringere Sozialabgaben zusagt. Die Antwort des damaligen Kanzlerkandidaten war wie so viele seiner Aussagen scheinbar eindeutig: »Auf diesem Wege könne er … nicht helfen. Das paritätische Versicherungssystem werde er gewiss nicht anfassen.«

Na ja, mittlerweile sind wir schlauer. Der anfangs zitierte Passus ist genau das, wofür die Lobbyistin in eigener Sache noch niedergemacht wurde. Wer zuletzt lacht, der lacht am besten.
Von der Öffentlichkeit bis zum letzten Moment nicht bemerkt, haben die Unterhändler von Union und SPD in den Koalitionsvertrag eine bemerkenswerte Sonderregelung für Zeitungszusteller eingebaut. Unter Verweis auf eine „Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte“ soll demnach der Rentenbeitrag für Zeitungszusteller – die vielfach als Minijobber beschäftigt sind – rückwirkend ab 1. Januar 2018 für zunächst fünf Jahre „von 15 auf 5 Prozent abgesenkt“ werden.

Man sollte an dieser Stelle aufrufen, was das für Konsequenzen hat – für die betroffenen minijobbenden Zeitungszusteller:

»Damit würden die ohnehin geringen Rentenansprüche der Betroffenen nochmals deutlich reduziert. Zudem müssten sie – sofern sie bereits rentenversicherungspflichtig waren und dies auch bleiben wollen – künftig 13,6 statt bisher 3,6 Prozent ihres Verdiensts aus eigener Tasche aufbringen.« (Quelle: Verwirrung um Rentenbeitrag für Zeitungszusteller).

Und das in einem Kapitel unter der Überschrift „Soziale Sicherheit gerecht und verlässlich gestalten“. Kein Wunder ist das erst im letzten Moment in der Vertragswerk eingebaut worden. Aber eben mit Zustimmung der sozialdemokratischen Verhandler. »Wie die Sonderregel in den Koalitionsvertrag geraten ist, wissen nach Angaben der FAZ selbst die Mitglieder der Koalitions-Arbeitsgruppe Soziales nicht. Sie sei „wohl über die Chefebene eingespeist“ worden, in der Arbeitsgruppe sei dieses Thema nicht zur Sprache gekommen. Spekulationen zufolge hat der Bundesverband der Zeitungsverleger (BDZV) die geplante Neuregelung an die Verhandlungsführer herangetragen.«

So ist das. Sozialpolitik ist eine ewige Fortsetzungsgeschichte. Und mancher Lobbyismus ist überaus erfolgreich, wie wir erneut an diesem Fallbeispiel lernen müssen.

Damit auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang steht der folgende Hinweis: »Kurz vor Ende der Verhandlungen haben Union und SPD nach Informationen des SPIEGEL die Einführung eines Lobbyregisters gestrichen«, kann man dieser Meldung entnehmen: Union und SPD streichen Lobbyregister.

»Mit einem solchen Register könnte die Identität von Lobbyisten, deren Auftraggeber, politische Ziele und Finanzierung offengelegt werden. In einem Vertragsentwurf hieß es noch: „Wir wollen mit einem verpflichtenden Lobbyregister Transparenz schaffen, ohne wirksames Regierungshandeln oder die freie Ausübung des parlamentarischen Mandats einzuschränken.“… SPD-Unterhändler Ulrich Kelber macht die CSU für die Streichung verantwortlich. Deren Widerstand sei „erstaunlich“ gewesen.«

Ein Schelm, der jetzt bestimmte Assoziationen hat.

Ein Sub-Mindestlohn für Zeitungszusteller reicht einigen offensichtlich nicht. „Kreative“ Umgehungsversuche auf der Unternehmensseite

Bereits im Juli 2014 wurde auf dieser Seite in einem Beitrag über den „verdünnten Mindestlohn“ für die Zeitungszusteller berichtet. Die Verleger hatten eine Sonderregelung angesichts des damals „drohenden“, mittlerweile Realität gewordenen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes von 8,50 Euro pro Stunde durchsetzen können. 2015 gilt für die Zeitungszusteller ein abgesenkter Mindestlohn von 6,38 Euro (also 75% des „eigentlichen“ Mindestlohns) und 2016 sollen es dann 7,22 Euro (85%) werden. Erst ab 2017 muss dann auch für die Zeitungszusteller der heutige Mindestlohn von 8,50 Euro gezahlt werden. Das Politikmagazin „Report Mainz“ hatte die Tatsache, dass es den Verlegern gelungen ist, bei der Politik – teilweise mit subkutanen bis offenen Drohungen garniert – eine Sonderregelung durchzusetzen, in dem Beitrag Ausnahmen beim Mindestlohn: Der Sieg der Lobby völlig zu Recht kritisch aufgegriffen. Aber die Übergangsregelung mit dem abgesenkten Mindestlohn hat das Gesetzgebungsverfahren passiert und ist nun in der Welt. Wer aber aber auf den Gedanke kommen sollte, dass die begünstigten Zeitungsunternehmen nunmehr mal Ruhe geben, der muss jetzt zur Kenntnis nehmen, welche „phantasievollen Tricks“ hinsichtlich des Unterlaufens des Sub-Mindestlohns bei manchen Unternehmen freigesetzt werden.

Von einigen dieser Umgehungsversuche berichtet Jörg Reichel, Gewerkschaftssekretär des ver.di-Fachbereichs Medien, Druck und Papier in Berlin-Brandenburg in dem Interview »Es gibt überhaupt keinen Anlass, neue Arbeitsverträge auszugeben«:

Um den Lohn zu drücken, »bieten Unternehmen den Zeitungsausträgern neue, schlechtere, Arbeitsverträge an, in denen beispielsweise Nachtzuschläge von 25 auf zehn Prozent gekürzt oder sogar komplett gestrichen werden.«

Ein weiteres Beispiel; Man muss wissen, dass für so genannte „Hybridzusteller“, die eine gemischte Zustellung von Zeitungen, Briefen sowie Anzeigenblättern erledigen – teils ohne redaktionellen Inhalt –, ab 1. Januar 8,50 Euro Mindestlohn fällig werden, der abgesenkte Mindestlohn von 6,38 Euro gilt nur für die Zusteller, die ausschließlich Zeitungen austragen. Auch hier setzt eine versuchte Trickserei der Arbeitgeber an: »Um den neuen Mindestlohn zu umgehen, rechnen sie beim „gemischten Austragen“ das Zustellen der Tageszeitungen – als Zeitanteil – einfach heraus. Sie betreiben also eine sekundengenaue Abrechnung der Tätigkeit und vergüten dann unterhalb des Mindestlohns.«

Viele Arbeitgeber führen derzeit »neue sekundengenaue Abrechnungsmodelle ein: Dabei rechnen sie mit Zustellzeiten in Sekunden mit bis zu drei Stellen hinter dem Komma, die komplett an der Realität vorbeigehen – und das, um auf keinen Fall 8,50 Euro zu zahlen. Sie sagen: Du erhältst zwar den Mindestlohn für deine Tätigkeit, musst aber in einem Zeitraum von wenigen Sekunden die Zeitungen in den Briefkasten geworfen haben. Ergo: Wer zuvor drei Stunden gebraucht hat, erhält plötzlich nur noch eine bezahlt. Arbeitgeber machen unrealistische Vorgaben, in welcher Zeit das erledigt sein muss.« Das ARD Morgenmagazin hatte in diesem Zusammenhang auf ein drastisches Beispiel hingewiesen: Das »Pressezustellservice-Unternehmen PZB soll einem Austräger in Neuenhagen bei Berlin einen Vertrag angeboten haben, in dem die Zustellzeit für eine Tageszeitung in einen Briefkasten auf 6,5 Sekunden verknappt wurde, tatsächlich brauche er dafür mehr als 23 Sekunden. Der Betroffene beklagte, nun statt 20 Euro pro Tag und Tour nur noch 4,07 Euro zu erhalten.« Aber: »Zusteller können rechtlich gegen Sekundenrechnungen vorgehen, die nur dazu da sind, den Mindestlohn zu umgehen«, so wird der Gewerkschaftssekretär zitiert.

Eines scheint sicher: Die Gerichte werden in den kommenden Monaten mit einer Vielzahl an Verfahren und einer beeindruckenden Heterogenität der Umgehungsversuche konfrontiert werden.

Die Zeitungszusteller, ihr verdünnter Mindestlohn und – nicht nur – der Lobbyismus der Verleger. Eine echte Zangengeburt mit offenem Ende

Es wurde in den zurückliegenden Monaten und Wochen angesichts des nunmehr beschlossenen Mindestlohngesetzes viel darüber berichtet, welche Hürden bei der anstehenden Umsetzung der gesetzlichen Lohnuntergrenze zu bewältigen sein werden. Immer wieder wird auf die zu erwartenden – und übrigens heute schon in vielen Branchen beobachtbaren – Umgehungsversuche einiger Arbeitgeber hingewiesen, so von Thomas Öchsner in seinem Artikel Von wegen Mindestlohn:  »Längere Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden, mehr Scheinselbständige: Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitgeber die neue Lohnuntergrenze einfach umgehen werden. Vor allem in kleinen Betrieben wird die Kontrolle schwierig.« Das ist alles richtig und wird viele Fragen und Antwortversuche in der vor uns liegenden Zeit generieren. Wobei man natürlich angesichts der unbestreitbaren Realität der Ausweichversuche, des Missbrauchs und der Kontrollprobleme nicht mit einer fatalistischen Haltung kapitulieren sollte und darf, dass man das alles lieber sein lassen sollte – zuweilen wird man durch die Berichte an dieser Stelle zurückgelassen. Auf der einen Seite verständlich, auf der anderen Seite sind die absehbaren Probleme kein Argument gegen eine gesetzliche Lohnuntergrenze, denn ansonsten könnte man sich jeden Regelungsansatz sparen.

Aber der Teufel liegt natürlich immer im Detail und je komplizierter eine Regelung gefasst wird und bzw. oder je mehr Ausnahmen zugelassen werden, desto größer werden die (potenziellen) Schnittstellen zu Umgehungs-, Ausweich- und Missbrauchsstrategien. Nehmen wir als Beispiel die Zeitungszusteller, die sicher unbestritten eine richtig harte Arbeit leisten (eine Arbeit, die nach Erhebungen der Berufsgenossenschaften zu den am meisten unfallgefährdeten Tätigkeiten überhaupt gehört) und denen man dennoch – nach erfolgreichen Lobbyaktivitäten der Verleger – den sofortigen Zugang zum Mindestlohn ab 2015 verweigert und – das kommt erschwerend hinzu – die man mit einer echten lohnpolitischen Herausforderung konfrontiert, denn sie haben grundsätzlich Anspruch auf einen (vorübergehend abgesenkten) Mindestlohn, der sich aber als Zeitlohn auf Stunden bezieht. Die Zeitungszusteller hingegen werden ganz überwiegend nach Stücklohn bezahlt, der einen anderen Logik folgt. Damit sind sie übrigens nicht allein, schätzungsweise etwa eine Million Arbeitnehmer arbeiten zu dieser Lohnform, die mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nicht untersagt worden ist, also weiterhin Anwendung meinten kann und wird. An dieser Stelle eröffnen sich nicht nur erhebliche „Gestaltungspotenziale“ für die Arbeitgeber, sondern man wird auch konfrontiert mit „Gerechtigkeitsproblemen“, an die man im ersten Moment vielleicht gar nicht denkt. Ein „schönes“ Fallbeispiel für die Tiefen und Untiefen der lohnpolitischen Praxis.

Die Bemühungen der Verleger-Lobby, für die Zeitungszusteller Ausnahmeregelungen den Mindestlohn betreffend, waren durchaus erfolgreich – kurz vor Toresschluss wurde die in der Abbildung skizzierte Übergangsregelung eingebaut und damit eine Sonderregelung nur für die etwa 160.000 Zeitungszusteller geschaffen, denn ansonsten gibt es die Möglichkeit, übergangsweise bis 2017 von den 8,50 Euro pro Stunde nach unten abzuweichen nur für die Fälle, in denen die Tarifparteien eine tarifvertragliche Regelung getroffen haben. Genau das aber haben die Verleger nun gerade nicht gemacht – und trotzdem haben sie die Übergangsregelung bekommen. Über die Hintergründe kann man viel spekulieren – sicher erscheint mir diese „Fremdkörper“-Akzeptanz seitens der Politik in der Angst begründet, dass die Verleger ihre Medien-Macht gezielt gegen Politiker einsetzen könnten. Die Drohung oder die plausible Annahme hat da sicher gereicht. Das Politikmagazin „Report Mainz“ hat das in dem Beitrag „Ausnahmen beim Mindestlohn: Der Sieg der Lobby“ völlig zu Recht kritisch aufgegriffen:

Was sind denn eigentlich die offiziellen Argumente für die Sonderregelung die Zeitungszusteller betreffend? Man glaubt es kaum, aber unter der „Pressefreiheit“ macht man es nicht: Die Zustellung ist notwendige Bedingung für das Funktionieren der durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes geschützten freien Presse. Die verlässliche Trägerzustellung von Zeitungen und Zeitschriften am Tag ihres Erscheinens an den Endkunden ist eine wesentliche Säule für den Vertrieb dieser Printprodukte, so kann man es der Begründung entnehmen. Also das ist schon reichlich skurril, denn das bedeutet, dass man offensichtlich die Pressefreiheit nur aufrechterhalten kann, wenn man denn den Austrägern sehr niedrige Vergütungen zahlt. Nur – ungeachtet der Putzigkeit dieses „Arguments“, denn eigentlich bedeutet das ja konsequent, also logisch bis zum Ende gedacht, dass Tageszeitunge, aber auch die Werbezeitungen, die es vielerorts gibt und die kostenlos an die Haushalte verteilt werden, eine Staatssubventionierung bekommen müsste, die man über eine Zeitungs-GEZ organisieren könnte 😉 – ist das eigentlich richtig? Gibt’s nicht immer wieder Berichte von Medienökonomen, die darauf hinweisen, dass nicht wenige Verlage Renditen auch im zweistelligen Prozentbereich erwirtschaften? Außerdem: Was ist eigentlich von denjenigen Verlegern zu halten, die in den letzten Jahren durch Aufspaltungen und Ausgliederungen der Zustellung in tariflose, betriebsratsfreie Sub- und Sub-Sub-Unternehmen die Löhne soweit gesenkt haben, dass heute für ganze Regionen keine Zeitungsträger mehr gefunden werden, dass Stellen nicht besetzt sind und dadurch die zuverlässige und pünktliche Zustellung akut gefährdet ist? Welchen Dienst erweisen sie der Pressefreiheit und dem Grundgesetz?, so die berechtigte Frage von Gewerkschaftern:
In der Gewerkschaft ver.di gibt es eine eigene Gruppe für die Zeitungszusteller mit hilfreichen Materialien zu diesem Themenkreis. Beispielsweise zu der Frage, ob die Einführung eines Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro für die Zeitungszusteller die Pressefreiheit einschränken würde, weil die Tageszeitungen dann ihre wirtschaftliche Basis verlieren würden. Hierzu ein Rechenbeispiel der Gewerkschaft:

»Die Monatsabopreise betrugen laut Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) 2012 im Westen 26,26 Euro und im Osten 24,32 Euro. Die durch­schnittlichen Zustellerstücklöhne im Westen betragen ca. 3,00 Euro inklusive Zuschläge und Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungsbeiträgen.
Die Zustellkosten der Zeitung machen also mit 11,4 Prozent den geringsten Teil der Gesamtkosten bei der Zeitungsproduktion aus. Selbst wenn wegen der Ein­führung eines Stundenlohnes von 8,50 Euro die Löhne um 20 Prozent erhöht werden müssten, wäre der Anteil der Zustellkosten erst bei 13, 7 Prozent, also gerade mal um 2,3 Prozent gestiegen.
Die Abopreise sind übrigens seit 2007 im Westen um 20 Prozent und im Osten um fast 30 Prozent erhöht worden. Hätte man diese Anhebung auch bei den Löhnen für die Zusteller/innen gemacht, hätten wir heute keinen Handlungsdruck für einen Mindestlohn. Die Löhne der Zusteller/innen sind aber im gleichen Zeitraum in vielen Zustellbetrieben gesenkt worden!«

Nun gibt es ja nicht nur Tageszeitungen, sondern viele Bürger kennen die kostenlosen Anzeigenblätter, die bei ihnen im Briefkasten landen (wobei sich hier das Argument mit der „Pressefreiheit“ selbst erledigt). Deren Geschäftsmodell kann durchaus in eine Schieflage geraten, wie das folgende Beispiel eines Betroffenen verdeutlicht:

»Ich selbst bin seit 5 Jahren Zusteller für die kostenlose Wochenzeitung in Moers.
Die Vergütung erfolgt nach Stückzahl, momentan liegt sie bei 2,5ct.
Vor einigen Jahren wurde schon drastisch gekürzt, da einige Pauschalen gestrichen wurden.
Beispiel 1: Revier mit 340 Zeitungen, Vergütung 8,50 Euro, die reine Zustellzeit beträgt 2 Stunden, also ohne Hin -und Rückweg zum Zustellgebiet. Stundenlohn entsprechend 4,25 Euro.
Beispiel 2: Revier mit 250 Zeitungen, Vergütung 6,25 Euro, reine Zustellzeit 1,8 Stunden. Stundenlohn entsprechend 3,47 Euro.
Um auf den Mindestlohn von 8,50 Euro zu kommen, müssten die Vergütungen von derzeit 2,5ct auf 5,0ct je Zeitung verdoppelt werden.
Das kann ja eigentlich nur bedeuten, das die Zeitungen eingestellt werden, da die Kosten für die Zeitungsverlage nicht mehr tragbar sind.
Eine weitere Möglichkeit wäre, die Zustellzeiten einfach auf den rechnerisch theoretischen Wert von 8,50 Euro je Stunde festzulegen.
Für Beispiel 1 müsste die Zustellzeit dann 1 Stunde betragen, für Beispiel 2 dann 0,75 Stunden, in der Praxis unmöglich, aber das läge dann ja an jedem einzelnen Zusteller.
Bei den beiden Beispielen, die meinen eigenen Revieren entsprechen, bin ich übrigens davon ausgegangen, das die Zustellung zu Fuss erfolgt, denn Auto oder Fahrrad bringen da keinen wirklichen zeitlichen Vorteil.
Wettereinflüsse wie Dauerregen oder Schnee verlangsamen die Zustellzeiten natürlich auch noch.« (Quelle: Wolfgang Neumann: Mindestlohn für Zeitungszusteller. Ab spätestens 2017 Mindestlohn von 8,50 Euro auch für Zeitungszusteller, 11.07.2014)

Da ist er wieder – der Stücklohn. Die Verleger behaupten, die heute gängige Stücklohnvergütung passt nicht zu einem als Zeitlohn definierten Mindestlohn. Darauf entgegnet die Gewerkschaft, der Stücklohn »basiert auf einer sogenannten „Normalleistung“ innerhalb einer Zeiteinheit. Auch bei der Zustellung wird es möglich sein, die jahresdurch­schnittliche Stückzahl zugestellter Zeitungen umzurechnen auf eine Normalleis­tung pro Zeiteinheit und diese als Stundenlohn zu vergüten. Ein gesetzlicher Mindestlohn auf Basis eines Stundenlohns schafft gerade in der Zeitungszu­stellung mehr Gerechtigkeit, als die heutige ausschließliche Stückzahlbezah­lung. Denn es ist nicht fair, wenn Zeitungszustellerinnen mit großen Bezirken und weiten Entfernungen sowie Einzelhauszustellungen weniger verdienen, weil sie in der gleichen Zeit weniger Stückzahl zustellen können, als diejenigen mit kleinen Bezirken, kurzen Entfernungen und vielen Mehrfamilienhauszustel­lungen.«

Auf die „Normalleistung“ kommt es also an, mithin auf ihre Definition und vor allem auf eine realistische, faire Kalkulation – darüber hinaus muss man an dieser Stelle natürlich auch auf ein systematisches Spannungsverhältnis zwischen einem reinen Stundenlohn und einem Stücklohn hinweisen, dies durchaus mit Blick auf Gerechtigkeitsvorstellungen der Betroffenen selbst, denn: Wenn die Zeitungszusteller nach einem reinen Stundenlohn vergütet würden, dann stellt sich das Problem, dass jemand, der langsam arbeitet, besser gestellt werden würde als jemand, der die Tour schneller schafft, also produktiver ist. Das wird auch von vielen Betroffenen nicht als „fair“ angesehen und problematisiert. Insofern sind wir wieder bei der Definition der „Normalleistung“ angelangt und dabei ist zu beachten, dass die Betriebsräte ein gehöriges Wort mitzureden haben bei der konkreten Operationalisierung. Wenn es denn einen Betriebsrat gibt.

Und noch eine andere Baustelle muss erwähnt werden. Über wen reden wir eigentlich, wenn wir von Ausnahmeregelungen bei den Zeitungszustellern sprechen. Ist das eindeutig definiert?
»Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller … sind Personen, die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen; dies umfasst auch Zustellerinnen und Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt«, so die Hinweise des Gesetzgebers. Eine Einflugschneise für die Gewerkschaft: »Für alle, die neben ihren Zeitungen auch Briefe oder andere personalisierte Produkte zustellen oder die zusammen mit den Zeitungen gelegentlich Wurfsendungen an Resthaushalte verteilen, gilt die Ausnahme nicht, und es ist für ihre gesamte Arbeit der gesetzliche Mindestlohn anzuwenden.« Die Gerichte werden sich freuen, wenn ihnen diese Frage vorgelegt wird.

Aber das hat sich die Bundesregierung selbst eingebrockt.