Soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung – und durch die Wahlen? Eine sozialpolitische Herausforderung

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen liegt hinter uns und hat ein Erdbeben in der Politik ausgelöst. Die Sozialdemokratie habe ihre „Herzkammer“ verloren, wenn man der blumigen Terminologie folgen will. Und die dritte Wahlniederlage der SPD in Folge seit der Inthronisation des Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat den offensichtlich mehr als lädiert. Die Umfragewerte für die SPD gehen nach unten und die für die Union nach oben. In einem Abwasch wird dann auch gleich behauptet, auf das Thema soziale Gerechtigkeit zu setzen, zahle sich nicht aus, das könne man ja jetzt sehen, weil es die Leute gar nicht interessiert, denn es gehe ihnen gut. Interessanterweise zeigt allerdings eine Analyse der Themen, die für die Wähler wahlentscheidend waren, dass in NRW mit 46 Prozent auf Platz 1 die „Soziale Gerechtigkeit“ stand, so infratest dimap, wie Philipp Seibt in seinem Artikel Drei Lehren für das große Finale berichtet. Was daraus dann hinsichtlich der konkreten Wahlentscheidung folgt und wie das mit den anderen Themen gewichtet wird, darüber kann man sicher lange streiten.

Aber nicht bestreiten lässt sich diese Diagnose: »Die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Stadtvierteln zeigt sich immer deutlicher auch in der Wahlbeteiligung. Während in den sozialen Brennpunkten der Städte in Nordrhein-Westfalen Wahlmüdigkeit und Demokratieverdrossenheit wachsen, kommt es in den besseren Vierteln zu „einer Art bürgerlicher Gegenmobilisierung“, ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Damit verschärft sich ein besorgniserregender Trend der vergangenen Jahre. 

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Wenn Ökonomen „Kinder an die Macht“ fordern, dann sind Fragen angebracht. Vor allem, wenn es um eine angebliche „Diktatur der Rentner“ geht

Viele kennen und mögen den Song „Kinder an die Macht“ von Herbert Grönemeyer. Darin findet man den Passus „Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun“. Das berührt bei vielen eine sehr deutsche, also idealistische Vorstellung von „unschuldigen“ Kindern, mithin ein Gegenbild zum Typus des angeblich immer nur eigennutzmaximierenden Politikers. Zugleich haben wir seit langem in Deutschland eine doppelt funktionalisierende Sichtweise auf Kinder und Jugendliche, die sich aus einem ökonomischen und sozialpolitische Denken speist: Zum einen die Konzeptualisierung des „Nachwuchses“ im so genannten „Generationenvertrag“ und damit die Funktion der Kinder als Rückgrat des Alterssicherungssystems, zum anderen wird beklagt, dass die Interessen der nachwachsenden Generation in der politischen Arena zu wenig Berücksichtigung finden, da sie keine Stimmenrelevanz aufgrund des fehlenden Wahlrechts haben und deshalb die Parteien ihre Agenda ausrichten werden auf die Interessen der Wahlberechtigten – und wenn die aufgrund des demografischen Wandels immer älter werden, dann führt das in dieser Argumentationslinie zu einer noch schwächeren Berücksichtigung der Interessen der Jüngeren. Aber die – scheinbare – Lösung für dieses Problem liegt auf dem Tisch: Die Kinder und Jugendlichen müssen zu einem relevanten Faktor  im Parteienstaat gemacht werden, in dem man ihnen das Wahlrecht gibt. Schauen wir genauer auf diesen Vorschlag.

Thomas Straubhaar ist Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) sowie Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg. In einem aktuellen Beitrag für die Tageszeitung DIE WELT führt er aus: »Die Rentenpolitik der Regierung macht deutlich: Schon heute lässt sich in Deutschland gegen die Macht der Senioren keine Politik mehr machen.« Diese Wahrnehmung gipfelt in der Überschrift seines Beitrags: „Deutschland verkommt zur Diktatur der Rentner„. Er wirft der schwarz-roten Koalition vor, sie sei »auf einen Schmusekurs mit den Senioren eingeschwenkt«. Das rote Tuch für den gebürtigen Schweizer Straubhaar ist die „Rente mit 63“, denn die »verdeutlicht mit einer kaum zu vertuschenden Arroganz, bei wem in Deutschland die Macht liegt: den Älteren, deren politisches Übergewicht zunehmend dramatischer wird.« Straubhaar sieht im wahrsten Sinne des Wortes grau:

»Wahlsiege und Mehrheiten gibt es nur noch mit und nicht mehr ohne Zustimmung der Senioren. Wer das verkennt, hat in alternden Demokratien keine politische Überlebenschance. Er wird vom lauten, oft schrillen, manchmal gar gehässigen Protest der Grauhaarigen aus dem Amte gemobbt.«

Wenig wissenschaftlich, sondern wenn überhaupt feuilletonistisch daherkommend geht es bei Straubhaar weiter im Reigen der schlichten Gemütern durchaus eingängigen Behauptungen:

»Das Diktat der Alten wird die Richtung der deutschen Politik verändern. Verharren wird vor Verändern kommen. Gegenwart wird wichtiger als Zukunft. Die Lebensqualität der heutigen Generation bestimmt das Tun und nicht die Interessen der Kindeskinder. Eine älter werdende Bevölkerung … hat kürzere Zeithorizonte und will den Status quo eher bewahren als an neue Realitäten anpassen.«

Das klingt prima facie für viele eilige Leser sicher nicht unplausibel. Und einmal in Fahrt steigert sich Straubhaar so richtig hinein in seine eigene Argumentationslinie und legt semantisch noch eine Schippe drauf:

»Mit jedem Tag steigt das Medianalter weiter an, und die politischen Gewichte verschieben sich noch stärker zugunsten der älteren Bevölkerung. Je länger gewartet wird, sich dem Diktat der Alten zu widersetzen, umso schwieriger wird es für die junge Generation und ihre Kindeskinder werden, die Machtübernahme durch die Senioren zu verhindern.«

„Diktat der Alten“, „Machtübernahme durch die Senioren“ – starke Behauptungen. Aber sind sie auch belegt? Oder vielleicht eher ein in den öffentlichen Raum gestelltes Gefühl? In dem Artikel werden sie als quasi unumstößliche Gewissheiten verkauft. Was sie aber nicht sind. Doch bevor dieser kritische Einwand fundiert wird mit einem Blick auf das, was wir derzeit (nicht) wissen, soll zuerst noch der Lösungsansatz des Herrn Straubhaar entfaltet werden:

»Um die Jungen gegen eine Diktatur der Alten zu schützen, sollten Kinder das aktive Wahl- und Stimmrecht erhalten. Für unter 18-Jährige müssten Eltern oder Sorgerechtsvertreter die politischen Interessen ihrer Zöglinge bis zu deren politischer Volljährigkeit wahrnehmen können. Das tun sie als Erziehungsberechtigte ja sowieso in allen anderen Bereichen.«

Das ist nun kein neuer Vorschlag, sondern das hier propagierte „Familienwahlrecht“ wird schon seit Jahren immer wieder von unterschiedlichen Akteuren gefordert: Im Jahr 2008 haben 46 Bundestagsabgeordnete im deutschen Bundestag den Antrag für ein Wahlrecht von Geburt an eingebracht (vgl. „Der Zukunft eine Stimme geben – Für ein Wahlrecht von Geburt an“, Bundestags-Drucksache 16/9868 vom 27.06.2008). Auch die Stiftung für die Rechte der zukünftigen Generationen (SRZG) macht sich seit langem für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze stark.

Hinsichtlich einer kritischen Bewertung der Ausführungen von Thomas Straubhaar müssen zwei seiner zentralen Argumentationslinien beleuchtet werden:

  1. Zum einen die Behauptung, dass die älteren Menschen, die ohne Zweifel immer stärker an Wahlgewicht gewinnen aufgrund der demografischen  Entwicklung, bei ihrer Wahlentscheidung überwiegend oder gar ausschließlich die eigenen Interessen durchzusetzen versuchen, was – wenn es so wäre – bei den politischen Parteien gleichsam zwangsläufig den Impuls auslösen muss, sich an diesen Interessen auszurichten.
  2. Zum anderen muss das Argument geprüft werden, dass ein Familienwahlrecht, bei dem die Erziehungsberechtigten der Kinder und Jugendlichen stellvertretend die Wahlentscheidung ausüben können, im Ergebnis dazu führt, dass die Interessen der Kinder und Jugendlichen in der faktischen Wahlentscheidung auch zum Ausdruck gebracht werden.

1.) Auch wenn es für viele auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheint, dass die älteren Wähler ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt ihrer Wahlentscheidung  rücken, so kann man bereits ohne Rückgriff auf empirische Studien aus der Wahlforschung die Auffassung vertreten, dass die letztendliche Wahlentscheidung ein höchst komplexer Vorgang ist, bei der ganz unterschiedliche Zielsysteme miteinander austariert werden müssen. Man könnte zugespitzt formuliert die Gegenthese aufstellen, das zumindestens die älteren Wähler, die eigene Kinder haben, bei ihrer persönlichen Wahlentscheidung ganz besonders auf die Interessen der Jüngeren achten werden. Wenn also beispielsweise Großeltern an ihren eigenen Töchtern bzw. Schwiegertöchtern mitbekommen, mit welchen vielfältigen Problemen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hierzulande junge Frauen konfrontiert sind, wenn sie Kinder bekommen, dann kann gerade das dazu führen, dass sie Parteien wählen, die sich explizit für eine Verbesserung dieser Situation einsetzen und beispielsweise erhebliche Investitionen in den Ausbau der Kindertagesbetreuung in ihrem Programm vertreten.

Man kann auch einen Blick werfen in die Befunde der Wahlforschung – und die geben uns zahlreiche Hinweise darauf, dass es die bei Straubhaar unterstellte eindimensionale Bindung der Älteren an deren (vermeintlichen) Interessen, die als gegen die Jüngeren gerichtet behauptet werden, so nicht gibt. Als ein Beispiel von vielen sei hier die Publikation von Sabine Pokorny: Mit 60 Jahren fängt das Wählen an. Das Wahlverhalten der älteren Generation, St.Augustin 2013, herausgegriffen. Dort findet man am Beispiel eines Vergleichs der Wahlentscheidungen für Unionsparteien und Grüne den folgenden Hinweis:

»Die stärkere Affinität älterer Wähler zu den Unionsparteien führt … nicht dazu, dass die Zugewinne bei den Älteren überproportional ausfallen. Gleichzeitig verzeichnen die Grünen keine überdurchschnittlichen Verluste bei den Senioren. Stattdessen profitieren die Parteien in allen Altersgruppen gleichermaßen von einer ihnen gewogenen Stimmung. Umgekehrt verlieren sie in allen Gruppen etwa gleich stark, wenn sich die Stimmung dreht« (S. 44).

Und weiter:

»… legen die Analysen nahe, dass das Alter nicht der entscheidende Faktor für das Wahlverhalten ist. Wenn eine Partei Stimmen hinzugewinnen möchte, kann sie das nur, indem sie alle Altersgruppen anspricht. Denn eine positive Wahrnehmung der Partei oder des Kandidaten wirkt sich unabhängig vom Alter auf alle Wähler aus« (S. 45).

Allein dieses eine Beispiel verdeutlicht, dass man vorsichtig sein sollte, wenn man „Alter“ als eigenständige Kategorie konzeptualisiert. Dagegen sprechen gute und gewichtige Argumente. „Alter“ ist eine mehr als heterogene Kategorie und zahlreiche Unterschiede, die es schon bei den Jüngeren gibt und die durch Bildung, politische Partizipationserfahrungen im bisherigen Leben, Einkommens- und Vermögenslage usw. determiniert werden, haben eine sehr starken Einfluss auf Parteipräferenzen und Wahlbeteiligung. Das prolongiert sich dann in die höheren Altersgruppen. Vgl. dazu z.B. auch die Analyse von Thomas Petersen et al.: Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013, Gütersloh 2013.

2.) Bleibt der Vorschlag, ein „Familienwahlrecht“ einzuführen, um die Machtverhältnisse auf dem „Wählerstimmen-Markt“ zu verschieben zugunsten der jüngeren Menschen. Ein flüchtiger Blick auf die Zahlen gibt diesem Ansatz eine gewisse Attraktivität: 2013 waren nach Schätzungen des Bundeswahlleiters mehr als 20 Millionen Wahlberechtigte über 60 Jahre, aber nur etwa zehn Millionen Wahlberechtigte waren unter 30 Jahre. Hinzu kommt, dass unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Wahlbeteiligung von Jüngeren und Älteren die älteren Wähler bereits bei der letzten Bundestagswahl die strukturelle Wählermehrheit hatten.
Man könnte jetzt in die Details eines möglichen Familienwahlrechts einsteigen, dann würden sich zahlreiche Fragen aufdrängen: Was passiert eigentlich bei der Stellvertretungsregelung, also die Erziehungsberechtigten können das Wahlrecht für ihre Kinder wahrnehmen, wenn sich beide nicht einig sind? Die Mutter will Partei A, der Vater hingegen Partei B wählen? Man könnte jetzt noch zahlreiche weitere Fallkonstellationen ausbreiten und vertiefen.

Aber hier soll abschließend eher eine grundsätzlich skeptisch stimmende Frage aufgeworfen werden: Wer sagt denn, dass die Eltern im Interesse der Jüngeren abstimmen werden? Und vorgelagert zu dieser Frage: Wer bestimmt denn, was „die“ Interessen der Jüngeren sind? Straubhaar sieht die aktuell im Entstehen befindliche „Rente mit 63“ als eine die Interessen der Jüngeren verletzende Maßnahme an. Aber warum eigentlich? Und ist es nicht bezeichnend, dass er die ebenfalls vor der Einführung stehende „Mütterrente“ von ihm gar nicht erwähnt wird, obgleich damit ganz erhebliche Kosten verbunden sind, die – von vielen Seiten kritisiert – nicht aus Steuermitteln, sondern aus Beitragsmitteln finanziert werden wird? Fragen über Fragen.

Nun wirklich abschließend und nur als Anregung zum Weiterdenken gedacht: Wenn man der inneren Logik folgt, dass man die Familien über das vorgeschlagene Familienwahlrecht mit einem stärkeren Gewicht gegenüber den Älteren (und den Kinderlosen) ausstattet, damit deren scheinbar berechtigten Interessen stärker berücksichtigt werden müssen von den Parteien (so die Hoffnung) – wer kann denn grundsätzlich dem Argument widersprechen, dass wir möglicherweise in eine „Diktatur der von staatlichen Transferleistungen abhängigen Menschen“ hineinrutschen und dass diejenigen, die die Mittel erwirtschaften müssen, um diese Leistungen finanzieren zu können, eigentlich ein stärkeres Gewicht bei Wahlen bekommen sollten, damit die Parteien sich nicht – institutionenegoistisch völlig rational – bei ihren Plänen und Programmen immer stärker an denen ausrichten, die mehr Transferleistungen haben möchten? Eine „Leistungsträgerwahlrecht“ also? Nur mal so als Gedanke.

Ab Montag muss (wieder) gearbeitet werden: Sozialpolitische Themen und Baustellen für die kommende Legislaturperiode

Wie auch immer die genaue Regierungskonstellation in der vor uns liegenden Legislaturperiode aussehen wird – die Akteure werden mit einigen großen sozialpolitischen Baustellen konfrontiert sein, denen man nicht auf Dauer wird ausweichen können. Schon viel zu lange wurden und werden wichtige Grundsatzentscheidungen auf die lange Bank geschoben und auch die um sich greifende Seuche einer „Playmobil-Sozialpolitik“ (zu denen ich solche Kreationen wie das Betreuungsgeld oder den Pflege-Bahr zähle) erschweren objektiv die Aufgabenstellung, wieder mehr Ordnung in die sozialpolitischen Systeme zu bringen, denn immer mehr problematische Schnittstellen werden produziert, die zu teilweise skurrilen Folgen führen, die dann erneute Partikular-Maßnahmen auslösen.

Insofern stellt sich anlässlich der Bundestagswahl die – natürlich nur in sehr groben Linien skizzierbare – Frage, mit welchen grundsätzlichen Themen und Arbeitsaufträgen sich die neue Bundesregierung wird auseinandersetzen müssen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im folgenden Beitrag einige große Schneisen in das sozialpolitische Dickicht geschlagen werden.

Eine der wichtigsten
Herausforderungen betrifft die Pflege. Und dies nicht nur im Sinne einer
sofortigen Engführung auf die sicher sehr wichtige Pflegeversicherung und deren
Weiterentwicklung bzw. Umbau. Damit soll angedeutet werden, dass für die
Sicherstellung und nachhaltige Gewährleistung einer menschenwürdigen Pflege zur
Kenntnis genommen werden muss, dass diese Mega-Aufgabe nicht in oder von einem
System bewältigbar ist, sondern das kann praktisch nur in einem vielgestaltigen
Mix in konkreten sozialräumlichen Bezügen geleistet werden, wo die Leistungen
der Pflegeversicherung eine wichtige, aber eben nur eine anteilige Rolle
spielen. In diesem Kontext wird es um höchst komplexen Fragen der
Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen gehen müssen, also neben der
stationären und häuslich-ambulanten Pflege die Entstehung und
Ausdifferenzierung zahlreicher neuer Formen der Pflege und Betreuung. Bereits
heute müssen die Bundesländer Antworten geben, wie sie denn neben den
„klassischen“ Heimen und Pflegediensten mit Wohngemeinschaften und anderen
Formen umgehen wollen. In diesem Zusammenhang wird eine der großen Aufgaben der
vor uns liegenden Jahre der Auf- und Ausbau von Tageseinrichtungen gerade für
die vielen Menschen am Anfang oder im mittleren Stadium einer demenziellen
Erkrankung sein – und an diesem Beispiel kann man zugleich zeigen, was
besonders Not tut in der höchst versäulten und aussegementierten
Soziallandschaft: Feldübergreifendes, vernetztes Denken. Konkret: Von den
Erfahrungen, die wir in vielen Jahrzehnten mit der Tagesbetreuung für Kinder
und aktuell gerade mit der von sehr kleinen Kindern gemacht haben, für die
notwendigen Strukturen und Prozesse für die älteren Menschen lernen,
idealerweise die Strukturen verbinden und einer gemeinsamen Nutzung zuführen.
Im Ergebnis bedeutet das alles, dass wir eine starke Rolle der Kommunen in
diesen Bewältigungsprozessen brauchen werden.

Für den Sozialpolitiker
keine Frage: In der neuen Legislaturperiode müssen endlich die jahrelangen
Vorarbeiten zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsgesetzes in die
Wirklichkeit gehoben werden. Weitere Verzögerungen seitens der Politik müssen
als vorsätzliches Handeln bezeichnet und skandalisiert werden. Das bedeutet
natürlich auch eine Mittelaufstockung für den Bereich der Pflege – auch und
gerade in Verbindung mit der unbedingt erforderlichen Verbesserung der
Arbeitsbedingungen für die Professionellen in diesem Feld, womit nicht nur eine
bessere Vergütung, sondern auch bessere Personalschlüssel gemeint sind. Das
wird – man kann es drehen und wenden wie man will – keine billige oder gar
„aufkommensneutrale“ Angelegenheit werden.
Darüber hinaus wird man
um eine offene Grundsatzdiskussion über die Existenz und konkrete Ausgestaltung
der sozialen Pflegeversicherung nicht herum kommen, hier gemeint im Sinne einer
Infragstellung der Separierung von Pflege- und Krankenversicherung. Man wird in
der alternden Gesellschaft die Frage stellen dürfen und müssen, ob es
angesichts der vielen fließenden Übergänge und der bereits heute bestehenden
und vielseits beklagten Verschiebebahnhöfe zwischen den beiden
Versicherungszweigen nicht sinnvoller wäre, beide Systeme zu integrieren in
einem neuen Sicherungsgebilde.
Wenn wir schon an der
Schnittstelle zur Gesetzlichen Krankenversicherung und damit mittendrin im
großen Formenkreis der Gesundheitspolitik sind, dann kann man auch hier einige
Hinweise geben. Weiter und mit zunehmender Dringlichkeit wird es um die Frage
nach der (Nicht-)Zukunft des dualen Krankenversicherungssystems gehen. Man kann
parteipolitische Kampfbegriffe wie „Bürgerversicherung“ entsorgen – aber die
grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit oder ganz unideologisch nach der
Überlebensfähigkeit des privaten Krankenversicherungssystems werden sich nicht
in Luft auflösen. Die Zeichen stehen auf einen Systemwechsel und man sollte das
lieber früher als zu spät machen. Darüber hinaus stellen sich weitere große
Herausforderungen, beispielsweise im Bereich der Krankenhausfinanzierung. Auch
hier darf und muss man systemische Fragen stellen, so nach der Notwendigkeit
und Möglichkeit eines sektorübergreifenden Finanzierungssystems. Vor dem
Hintergrund der Sicherstellungsprobleme, die wir heute schon und zunehmend
haben auch aufgrund der immer noch starren Trennung zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung wird man sich nicht nur modellhafte, sondern
systematische Gedanken machen müssen über die (Nicht)Zukunftsfähigkeit der
ärztlichen Einzelpraxen und mutigerer Schritte hin zu neuen Versorgungsformen.
Damit unlösbar einhergehend brauchen wir endlich eine systematische Entwicklung
des weiten Feldes der Gesundheitsberufe neben den Ärzten, hier gemeint im Sinne
einer systematischen Aufwertung und auch größerer Delegation bislang ärztlicher
Leistungen an anderer Berufsgruppen. Anders werden sich die Versorgungsaufgaben
gar nicht lösen lassen. Das ganze Thema ist komplex und besonders vermint
aufgrund der erheblichen Interessenkonflikte und Machtspielereien. Eigentlich
notwendig wäre die gemeinsame Ausbildung der Gesundheitsberufe an einer
„Medical School“, um die Homogenisierung des Arztberufs schon während des
Studiums aufzubrechen.
Kommen wir zu einer
weiteren Großbaustelle (und das hoffentlich nicht im Sinne von Stuttgart 21
oder dem angeblich im Bau befindlichen Berliner Großflughafens): Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik. Hier besteht ganz offensichtlich einer erheblicher
Bedarf an einer umfassenden Ordnungspolitik und diese gerade nicht nur
beschränkt auf die unteren Etagen des Arbeitsmarktes. Das kann man am höchst
aktuellen Beispiel der zunehmenden Instrumentalisierung von Werk- und
Dienstverträgen verdeutlichen, von denen eben nicht „nur“ osteuropäische
Wanderarbeiter in den deutschen Billigschlachthöfen betroffenen sind, sondern
die sich immer mehr in die Kernbereiche der Belegschaften hineinfressen, man schaue
sich beispielsweise nur die Situation vieler Ingenieure in der
Automobilindustrie an. Die Re-Regulierung der Leiharbeit und die Regulierung
der Werkverträge werden sicher eine prominente Rolle in der kommenden
Legislaturperiode bekommen. Daneben geht es um eine grundsätzliche kritische
Infragestellung der 450-Euro-Jobs gerade angesichts der Verwüstungen, die diese
Beschäftigungsform in vielen Frauenbiografien anrichtet. Es geht natürlich auch
um die hoch aufgeladene Frage nach einem Mindestlohn bzw. ganz vielen einzelnen
Lohnuntergrenzen. Hier sollte man von den Erfahrungen in anderen Ländern
lernen. Aber „nur“ mit einem Mindestlohn bzw. darauf aufsetzend vielen
branchenbezogenen Mindestlöhnen alleine wird es nicht getan sein. Man wird auch
über die Struktur und den Verbindlichkeitsgrad des Tarifsystems nachdenken
müssen, beispielsweise über eine wieder stärkere Nutzung des Allgemeinverbindlichkeitsinstrumentariums.
Eine zentrale Erkenntnis aus vielen Jahren Befassung mit dem Arbeitsmarkt
lautet: Keine Engführung auf nur partikulare Regulierungsversuche, die – siehe
derzeit die Erfahrungen mit der „Verteuerung“ der Leiharbeit – sofort zu
Ausweichreaktionen bei einem Teil der Unternehmen führen werden.

Wenn wir von Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik reden, dann können und dürfen wir vom
Grundsicherungssystem nach dem SGB II nicht schweigen – außer man gibt sich der
leider gar nicht so selten anzutreffenden Selbstillusionierung hin, wir haben
Vollbeschäftigung und das Arbeitslosigkeitsproblem werde sich jetzt gleichsam
biologisch durch Verschwinden dieser Spezies „lösen“. Dem ist nicht so und das
wird auch nicht passieren. Ganz im Gegenteil haben wir bereits in den
zurückliegenden Jahren eine massive Polarisierung in diesem Bereich sehen
müssen. Dies in dem Sinne, dass sich die Situation für viele Menschen, die nur
kurzfristig arbeitslos sind, tatsächlich deutlich verbessert hat, während
gleichzeitig eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im
Grundsicherungssystem festzustellen ist. Gleichzeitig sind die zur Verfügung
stehenden finanziellen Mittel sowie – eigentlich noch schlimmer – die
förderrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Arbeitsmarktpolitik, die sich vor
allem auf den harten Kern der Langzeitarbeitslosen bezieht, erheblich
schlechter geworden. In diesem Teilbereich wird eine der dringlichsten Aufgaben
eine umfassende Reform der öffentlich geförderten Beschäftigung sein, wenn man
nicht jeden Rest von Teilhabeorientierung für die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffene Menschen entsorgen will. Entsprechend ausgearbeitete und gut
begründete Reformkonzepte für eine öffentlich geförderte Beschäftigung, die den
Erwartungen und Notwendigkeiten der besonderen Zielgruppe entsprechen würde,
liegen seit Jahren vor. Ganz offensichtlich haben wir hier neben
Systemproblemen innerhalb des SGB II vor allem ein normatives oder sagen wir es
deutlicher: ein ideologisches Problem.

Zum Thema Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik gehören aber auch immer konfliktärer werdende
systematische Fragen im Bereich der Ausbildung, sowohl an der ersten Schwelle,
also beim Übergang von der Schule in den Beruf, wie auch insgesamt beim
Verhältnis von dualer bzw. fachschulischer Berufsausbildung und der immer
stärker werdenden Akademisierung in unserer Gesellschaft. Eines der größten
Herausforderungen in den vor uns liegenden Jahren wird die Bewältigung des
doppelten Drucks auf das gewachsene System der dualen Berufsausbildung sein,
also dass immer mehr junge Menschen nicht nur formal die Hochschulreife
erwerben, sondern auch ein Studium aufnehmen, während gleichzeitig eine Öffnung
der Berufsausbildung nach unten, also in Richtung der „leistungsschwächeren“
Jugendlichen aufgrund der kognitiven Aufladung viele Berufsbilder schwer,
manchmal gar nicht möglich ist. Diese strukturellen Herausforderungen des
dualen Berufsausbildungssystems verbinden sich mit der demografischen
Entwicklung, die zu einer erheblichen Angebots-Nachfrage-Verschiebung
zuungunsten der Unternehmen geführt hat, die sich in den vor uns liegenden
Jahren weiter verstärken wird. Die bereits heute erkennbare und – wenn sich
nichts grundlegendes ändert – weiter zunehmende Schwächung des dualen
Berufsausbildungssystems wird sich besonders negativ bemerkbar machen, weil
zahlreiche Handwerker und Facharbeiter, die heute das Rückgrat der deutschen
Volkswirtschaft bilden, demnächst altersbedingt in den Ruhestand gehen werden. Der
vielbeschworene Fachkräftemangel wird weniger einer der akademischen Berufe
sein, sondern sich im Handwerk und im mittleren Segment der deutschen Industrie
abspielen. Aber selbst innerhalb des Hochschulsystems gibt es erhebliche
Zweifel an dem bislang eingeschlagenen Weg, als Stichwort sei hier nur die
Bologna-Reform genannt. Ganz offensichtlich haben die deutschen Hochschulen den
Systemwechsel, der mit der Bologna-Reform verbunden ist, dergestalt umgesetzt,
dass die Bachelor-Studiengänge in einer unglaublichen Heterogenität
ausgestaltet werden, teilweise mit einer extremen Hyper-Spezialisierung, die
möglicherweise den aktuellen, kurzsichtigen Interessen einer Branche oder
zuweilen nur einzelner Unternehmen entsprechenden mag, was sich aber mittel-
und langfristig bitter rächen kann hinsichtlich der Beschäftigungsfähigkeit der
so ausgebildeten jungen Menschen.
Wenn wir über
Berufsausbildung und Hochschulbildung sprechen, dann sind wir im großen
Formenkreis von Bildung und Betreuung angekommen. Hier dominierten in den
vergangenen Jahren der Ausbau der Kindertageseinrichtungen und der
Kindertagespflege, Stichwort: Ausbau der Betreuungsangebote für die unter
dreijährigen Kinder, die Diskussion. Nach der formalen Inkraftsetzung des
Rechtsanspruchs auf ein Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr
muss es in den vor uns liegenden Jahren um eine „Aufpolsterung“ der
Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege gehen. Dies meint eine
deutliche Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen in den Einrichtungen
und in der Tagespflege, also vor allem hinsichtlich der Personalschlüssel sowie
der Arbeitsbedingungen für die dort arbeitenden Fachkräfte. Angesichts der
besonderen Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Bildung, Betreuung und
Erziehung für die Kleinkinder ist es unausweichlich, dass die seit langem
diskutierten und wissenschaftlich abgesicherten Qualitätsanforderungen in einem
bundesweiten Qualitätsgesetz für den Kita-Bereich normiert werden, dies auch
vor dem Hintergrund der erheblichen Varianz der Rahmenbedingungen zwischen den
Bundesländern. Ein auf der Bundesebene normiertes Qualitätsgesetz für diesen
Bereich würde zugleich die dringend notwendige Finanzierungsreform
vorantreiben. Hier muss es um eine regelhafte Beteiligung des Bundes an den
laufenden Kosten der Kindertagesbetreuung gehen. Diese hier nur anzudeutenden
offenen Strukturprobleme im Bereich der Kindertagesbetreuung pflanzen sich fort
im Schulsystem, das mit den gleichen föderalen Problemen durchsetzt ist. Mittlerweile
gibt es konkrete Forderungen, als nächste Stufe der Entwicklung einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz verbindlich zu normieren. An dieser
Stelle muss dringend darauf hingewiesen werden, dass dies zwar ein logischer
Schritt in der Entwicklung wäre, man aber auf keinen Fall die gleichen Fehler
wie bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für die
kleinen Kinder machen sollte. Dies bedeutet konkret, dass vor einem solchen
Rechtsanspruch nicht nur die finanziellen Fragen der Mittelaufbringung und
Mittelverteilung geklärt werden müssen, sondern vor allem auch die personellen
Voraussetzungen. Wer soll das machen und wie viele brauchen wir für die
Erfüllung eines solchen Rechtsanspruchs?
Gerade der Ausbau der
Kindertagesbetreuung sowie die damit zusammenhängende Einführung des unseligen
Betreuungsgeldes verweisen auf das Feld der Familienpolitik. Hier müsste jedem
unbefangenen Beobachter deutlich geworden sein, auch durch die mittlerweile
vorliegenden Ergebisse einer umfassenden Evaluierung der existierenden
familienpolitischen Leistungen, dass wir es mit einem Wirrwarr an
unterschiedlichen Leistungen, vor allem Geldleistungen, zu tun haben, die
dringend einer systematischen Neuordnung bedürfen, dies zu einem im Sinne einer
zielorientierten Zusammenlegung der vielen einzelnen Leistungen. Zum anderen
muss vor dem Hintergrund der erschreckenden „Infantilisierung“ der Armut über
die Einführung einer Kindergrundsicherung diskutiert werden. Die Einführung
einer solchen Kindergrundsicherung hätte übrigens erhebliche positive
Auswirkungen in anderen Teilbereichen der Sozialpolitik, man denke hier an die
zahlreichen Aufstocker im Grundsicherungssystem, von denen viele deswegen
aufstocken müssen, weil der bestehende Familienlasten- und -leistungsausgleich
defizitär ist.
Gerade für die finanziell
schwach aufgestellten Familien wird sich das Themenfeld Wohnen als neue soziale
Frage in den vor uns liegenden Jahren besonders schmerzhaft ausformen. Hier
wird es in der nächsten Legislaturperiode deutliche Eingriffe in den
Wohnungsmarkt geben müssen, die allerdings recht komplex und mit zahlreichen
Nebenwirkungen versehen sein werden. Dies gilt vor allem für Instrumente, die
derzeit von den politischen Akteuren besonders gerne diskutiert werden,
beispielsweise eine Anhebung des Wohngeldes. Die Verantwortlichen werden
eingestehen müssen, dass der massive Abbau der sozialen Wohnungsbauförderung in
den vergangenen Jahren im Zusammenspiel mit den vielen aus der Sozialbindung
herausfallenden Wohnungen dazu führen wird, dass wir eine neue
wohnungspolitische Offensive im Sinne des Baus neuer Sozialwohnungen benötigen.
In diesem Themenfeld ist auch die neue Diskussion einzuordnen, die unter dem
Stichwort „Energiearmut“ geführt wird und die im Zusammenhang mit dem Ausbau
und der Förderung der erneuerbaren Energien stehen. Die damit verbundenen
Kostensteigerungen für die Privathaushalte treffen die finanziell schwach
aufgestellten Haushalte ganz besonderes und werden das Problem der zunehmenden
Wohnungsnot weiter vorantreiben.
Auf der sozialpolitischen
Agenda kann und darf natürlich das Thema Alterssicherung und Rente nicht fehlen. Hier
erleben wir bereits derzeit und in den kommenden Jahren immer stärker die
Zuspitzung der „Systemfrage“ in der Gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund
der zahlreichen Rentenreformen in der Vergangenheit, insbesondere die Eingriffe
der damaligen rot-grünen Bundesregierung um die Jahrtausendwende. Mit
Systemfrage ist an dieser Stelle gemeint, dass die zentralen
Konstruktionsprinzipien der Funktionsfähigkeit der umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung durch die Rentenreformen, aber auch durch die
gesellschaftlichen Veränderungen fundamental infrage gestellt werden. Denn die
immer mehr zu einer Kunstfigur werdende Person des deutschen „Eckrentners“, der
45 Jahre lang immer und ohne Unterbrechungen Beiträge auf der Basis des
durchschnittlichen Arbeitseinkommens eingezahlt hat (und der derzeit daraus
eine Brutto-Monatsrente in Höhe von etwas mehr als 1.100 € erhält), wird
zunehmend abgelöst von Menschen, die aufgrund ihrer brüchigen Erwerbsbiografien
und/oder niedriger Arbeitsentgelte diese Voraussetzungen nicht mehr werden
erfüllen können. In Verbindung mit der massiven Absenkung des Rentenniveaus
durch die so genannten Rentenreformen wird hier der Marsch in die Altersarmut
für sehr viele ältere Menschen, vor allem für Menschen aus dem
Niedriglohnbereich, unausweichlich, wenn sich nicht grundlegendes mehr an der
Mechanik des Rentensystems ändert. In der kommenden Legislaturperiode muss
verhindert werden, dass es zu einer Verengung auf eine „Lösung“ gibt, die den
betroffenen Menschen eine Rente garantieren will, die gerade etwas über der
Grundsicherung im Alter liegt, die auch die bekommen, die ihr Leben lang nicht
gearbeitet haben. Hier muss es zu einem Lösungsansatz kommen, der deutlich über
diesem minimalistischen Ansatz liegt. Ein Blick in andere Länder, hier
beispielsweise der Schweiz mit ihrer Basisrente in einem stark umverteilenden
Alterssicherungssystem, wäre hilfreich.
Auch die teilweise recht
problematischen Entwicklungen im Bereich der privaten Altersvorsorge, die mit
Milliarden Steuermitteln gefördert wird, also die „Riester-Rente“ wie aber auch
die Entgeltumwandlung im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge, gehören in
der kommenden Legislaturperiode auf dem Prüfstand. Insgesamt – das zeigen auch
die Erfahrungen der Länder mit starken kapitalgedeckten
Alterssicherungssystemen im Gefolge der Finanzkrise und der nun schon seit
Jahren und absehbar weiter anhaltenden Niedrigzinswelt – muss es um eine
deutliche Stärkung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung
gehen.
Eine besondere
Herausforderung wird in den kommenden Jahren vor dem Hintergrund der deutlichen
Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (Stichwort: Rente mit 67) die
Lösung des Problems darstellen, dass es viele Menschen gibt, die tatsächlich
nicht in der Lage sind bzw. sein werden, das gesetzliche Renteneintrittsalter
erreichen zu können. Hier müssen flexible Lösungen für eine adäquate
Absicherung der Betroffenen gefunden werden.
Wenn wir über
Alterssicherung sprechen, dann sprechen wir immer auch über eine eigenständige
Säule der Alterssicherung in Deutschland, also die Pensionen für die Beamten.
Hier nun sind wir nicht nur mit einer generellen Zunahme der Pensionäreund der
damit verbundenen Pensionsverpflichtungen, die auf dem laufenden
Steueraufkommen gedeckt werden müssen, konfrontiert, sondern vor allem mit
einem großen Sprengsatz für die Haushalte der Bundesländer. Denn die meisten
Beamten, dann denke hier an die vielen Lehrer, Polizisten, Hochschullehrer,
Richter, sind Beamte der Bundesländer. Viele von ihnen wurden in den 1970er
Jahren eingestellt und viele von ihnen werden in den kommenden Jahren in die
Pension wechseln. Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen würde diese
Entwicklung die meisten Länderhaushalte komplett paralysieren.
Nein, die notwendige dem
Palette für die vor uns liegenden Jahre ist noch nicht abgearbeitet. Ebenfalls
eine Mega-Baustelle wird der gesamte Bereich der so genannten Inklusion
darstellen. Die Diskussion über die Umsetzung von Inklusion wird in Deutschland
sehr schullastig geführt, was vor dem Hintergrund des stark separierenden
Schulsystems bei uns, Stichwort Förderschulen, auch nicht überrascht. Alleine
die Umsetzung von inklusiven Ansätzen in den Schulen wird zu einer herkulischen
Aufgabe werden. Aber darüberhinaus betrifft die Inklusion weitaus mehr Bereiche
als nur die Schule. Es geht um eine umfassende Teilhabeorientierung und die
lässt sich eben nicht begrenzen auf die Frage der Inklusion behinderter Kinder
und Jugendliche in unsere Regelschulen, sondern sie strahlt aus in viele andere
Bereiche, man denke hier nur an die Arbeitswelt.
Und mit einer gewissen
Zuspitzung kann man eine weitere, ebenfalls nur in Querschnitten bearbeitetbare
Aufgabe als eine inklusive wahrnehmen: Gemeint ist hier das gesamte Feld der
Integration von „Menschen mit Migrationshintergrund“, wie das heute oftmals
etwas verquast genannt wird. Und die Aufgaben, die sich hier zum einen mit
Blick auf die in unserem Land bereits teilweise seit vielen Jahren lebenden
Menschen stellen, wie auch angesichts des erwartbaren Zuwanderungsdrucks vor
dem Hintergrund des großen Wohlstandsgefälles innerhalb der Europäischen Union,
sind enorm. Hinzu kommt erwartbar eine wieder deutlich ansteigende Zahl an
Flüchtlingen und Asylbewerbern aufgrund der großen Wanderungsströme, die wir
beobachten müssen.
Wer bis zu dieser Stelle
durchgehalten hat, der wird sicherlich überwältigt sein von der
Vielgestaltigkeit der sozialen Aufgaben und Herausforderungen, die
thematisiert, eingeordnet, bearbeitet oder wenigstens zur Diskussion gestellt
werden müssten. All diese Themen und Aufgaben und offenen Fragen treffen nun
zum einen auf zahlreiche versäulte Institutionen, die nachvollziehbarerweise
ihr Eigenleben führen und an ihrer Existenzberechtigung arbeiten, auf der
anderen Seite ist auch der sozialpolitische Sach- und Fachverstand in einem
zunehmenden Maße kleinteilig strukturiert. Ganz offensichtlich fehlt es nicht
nur innerhalb der Politik, sondern auch und gerade in der Wissenschaft und
Beratung an ganzheitlich ausgerichteter sozialpolitischer Expertise. Je
komplizierter aber die gewachsenen Teilsysteme geworden sind, je mehr Anreicherungen
stattfinden, und je stärker die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen
Teilsystemen ist, umso störungsanfälliger wird das gesamte Sozialsystem. Dies
lässt sich ab einem bestimmten Komplexitätsgrad natürlich nicht vermeiden oder
gar aufheben, aber wir brauchen dringend ein stabiles Netzwerk für eine
umfassende sozialpolitische Begleitung dieser ineinander verschachtelten
Prozesse.

In diesem Kontext gehört
auch die Forderung, die bestehende und äußerst asymmetrische
Kosten-Nutzen-Wahrnehmung der Sozialpolitik und ihrer Leistungen vom Kopf auf
die Füße zu stellen: Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass gegenwärtig
Sozialpolitik und soziale Leistungen fast ausschließlich als Kostenproblem
wahrgenommen werden. Viel zu wenig und in nicht wenigen Fällen sogar gar nicht
berücksichtigt werden aber die Nutzeneffekte, die wir durch diese Leistungen
generieren beziehungsweise ermöglichen. Wenn es uns in den kommenden Jahren
nicht weitaus stärker als bisher gelingt, eine „richtige“, zumindest eine korrekterer Kosten-Nutzen-Betrachtung
der Sozialpolitik und der dort geleisteten Arbeit, durchaus auch in einer
monetarisieren Art und Weise, also in Geldeinheiten ausgedrückt, zu entwickeln
und zu kommunizieren, dann werden die aus einer gegebenen Haushaltslogik
abgeleiteten reflexartigen Angriffe auf die Substanz vieler sozialpolitischer
Handlungsfelder noch mehr an Gewicht gewinnen.