Ungleichheit. Der Blick darauf und das Reden darüber ist erheblich irritierender als das ewige Lamento über „die Armut“

Wenn das Thema „Armut“ aufgerufen wird, setzt in der Regel ein breites mediales Gegenfeuer ein, voller Empörung dahingehend, diesen Begriff in Deutschland überhaupt zu verwenden. Bei uns ist doch keiner (wirklich) arm. Man denke an dieser Stelle nur an die aggressiven Abwehrreaktionen, die von den „Armutsberichten“ ausgelöst werden. Das konnte Anfang dieses Jahres erst wieder studiert werden am Beispiel des neuen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der diesmal zusammen mit weiteren Organisationen aus dem Sozialbereich herausgegeben wurde (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren vom 23. Februar 2016). Aber selbst wenn man eine gewisse Problematik der unteren 10 Prozent akzeptiert – seien wir ehrlich: Vom Leben der meisten anderen ist das weit weg und man kann das nach jahrelanger Übung auch ganz gut individualisieren, personalisieren und moralisieren.

Schwieriger wird es dann schon, wenn behauptet wird, auch die anderen 30 oder 40 Prozent oberhalb der 10 Prozent ganz unten gehe es vergleichsweise schlechter, sie werden abgekoppelt und ihre Perspektiven, sich gleichsam wie Münchhausen am eigenen Schopf, also durch eigene Leistung, aus dem Sumpf der Abgehängten zu ziehen, werden als Illusion und Tagträumerei enttarnt. Genau darum dreht sich die Debatte über eine – angeblich – zunehmende Ungleichheit in unserem Land.

Armut ist ein Teil der Ungleichheit, aber die ist weit mehr als die Lebenslagen der untersten zehn Prozent der Bevölkerung. Und offensichtlich tut sich was beim Thema Ungleichheit. Eine Menge im Vergleich zu den vergangenen Jahren, in denen die Marginalisierung des Themenfeldes beispielsweise innerhalb der Volkswirtschaftslehre in Deutschland durchaus erfolgreich gewirkt hat. Das Außenseiter- oder „linke“ Thema erfährt in diesen Tagen eine enorme Resonanz in den Medien. Wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) eine eigene Rubrik Arm und Reich einrichtet und zahlreiche Artikel abfeuert, dann muss etwas in Bewegung gekommen sein. Offensichtlich sind die (Mainstream-)Ökonomen-Reihen nicht mehr fest geschlossen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL eine Titelgeschichte bringt unter der Heft-Überschrift „Die geteilte Nation. Deutschland 2016: Reich wird reicher, arm bleibt arm“ und darüber auch Werbung macht für das neue Buch des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, das unter dem in Ökonomen-Kreisen fast schon revolutionär daherkommenden Titel „Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird“ (was bislang von den Mainstream-Ökonomen immer vehement bestritten wurde) veröffentlicht worden ist.

Der DIW-Chef Marcel Fratzscher hat sich für seine Zunft hier in Deutschland weit aus dem Fenster gelehnt: „Die soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr“, so wird er vom SPIEGEL zitiert. Ein echter Verstoß gegen ein semantisches Heiligtum. Aber letztendlich – und das erklärt einen Teil des derzeitigen Hypes um das Thema – reihen sich nun auch einige der prominenten Vertreter der Volkswirtschaftslehre in Deutschland ein in einen Trend, eine Bewegung, die in den angelsächsischen Ländern schon seit längerem diskutiert wird. Im vergangenen Jahr meldete sich der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz mit dem Buch „Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft“ zu Wort. Und es braucht sicher nicht mehr ausführlich begründet werden, warum Thomas Piketty mit seinem 2014 veröffentlichten Werk „Das Kapital des 21. Jahrhunderts“ hier angeführt werden muss, wenn es um eine explizit ökonomische Kritik an der Ungleichheit geht.

Für seine Thesen ist Fratzscher heftig angegriffen worden von seinen Kollegen aus dem Mainstream der Volkswirtschaftslehre. Er selbst hat sich nun zu Wort gemeldet mit dem Versuch einer Erwiderung: Das Märchen vom Märchen der Ungleichheit, so ist sein Gastbeitrag überschrieben. »Die Aussage, Deutschland sei eines der ungleichsten Länder der industrialisierten Welt, ruft immer wieder erbitterten Widerstand hervor. Wir wollen offenbar kein extrem ungleiches Land sein. Aber ein ehrlicher Blick auf die Fakten zeigt, dass wir es trotzdem sind. Sechs Gründe, warum das Märchen von der Ungleichheit in Deutschland leider kein Märchen ist, sondern gelebte Realität«, so beginnt er seinen Beitrag:

1. Wirklich sozial ist, was „gute Arbeit“ schafft.
2. Die Ungleichheit ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen.
3. Der größte Teil des Wirtschaftswachstums kommt den Eigentümern von Unternehmen und Kapital zugute.
4. Chancengleichheit und soziale Mobilität verbessern sich nicht, sondern sinken zum Teil.
5. Deutschland hat die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen in der Eurozone.
6. Die Art der Bildungsausgaben dämpfen die Ungleichheit nicht.

Aber weiten wir die Perspektive und rufen als Kronzeugen für eine umfassende Ungleichheitsdebatte Branko Milanović in den Zeugenstand. Er ist einer der führenden Ungleichheitsforscher, arbeitete für die Weltbank und lehrt heute in New York. Sein neues Buch Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization ist vor kurzem erschienen (vgl. dazu beispielsweise die Rezension Das Protokoll der Ungleichheit von Hansueli Schöchli).

Milanović wird verbunden mit einer radikalen Analyse. So beispielsweise  im Interview „Auf dem Weg in die Plutokratie“:

»Die realen Einkommen vieler einfacher Arbeitnehmer im Westen sind in den vergangenen 25 Jahren kaum gestiegen, an der Spitze dagegen ging es kräftig nach oben. In den USA bezog Mitte der siebziger Jahre das reichste Prozent der Bevölkerung acht Prozent des Nationaleinkommens. Heute sind es rund zwanzig Prozent. Viele Leute sind enttäuscht, das schlägt sich in ihrem Wahlverhalten nieder … Es gibt kein Land, in dem die Ungleichheit zurückgegangen ist. Selbst Schweden mit seiner sozialdemokratischen Tradition ist ungleicher geworden … Die meisten Ökonomen führen den Anstieg der Ungleichheit auf drei voneinander unabhängige Entwicklungen zurück: auf den technologischen Fortschritt, auf die Politik der Deregulierung und auf die wachsende Konkurrenz durch Länder wie China oder Indien. Ich bin davon überzeugt, dass alle drei Entwicklungen etwas mit der Globalisierung zu tun haben.«

Und er argumentiert differenziert, jedenfalls aus der globalen Perspektive: Auf den Hinweis, dass die meisten Ökonomen immer argumentiert haben, dass die Globalisierung alle reicher macht, antwortet er: »Und die Globalisierungskritiker haben argumentiert, dass die Öffnung der Grenzen im Zweifel die armen Länder ärmer macht und die reichen reicher.«

»Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass das Gegenteil passiert ist: Die Mittelschicht in den reichen Ländern ist unter Druck, während in den armen Ländern eine neue Mittelschicht entstanden ist. Wir sollten nicht vergessen: In China und Indien sind die Einkommen zum Teil erheblich gestiegen. Wir sprechen hier über insgesamt eineinhalb bis zwei Milliarden Menschen. Für diese Menschen war die Globalisierung ein Gewinn, und die vergangenen Jahre waren gute Jahre«, so Milanović.

Er argumentiert also keineswegs einseitig nach dem Motto, überall geht es den Menschen schlechter. Wie so oft ist es eine Frage der Perspektive: »Wenn Sie ein einfacher Arbeitnehmer in den USA sind, ist es eine schlechte Nachricht, weil Ihr Einkommen nicht gestiegen ist. Insgesamt ist die Welt heute ökonomisch betrachtet aber ein gerechterer Ort als früher. Ein Teil der Menschheit ist ärmer geworden, aber ein sehr viel größerer ist reicher geworden.«

Schauen wir uns eine seiner wichtigsten Befunde einmal genauer an (dazu die Abbildung am Anfang des Beitrags): Rico Grimm hat das in seinem hervorragenden Beitrag Das wichtigste Diagramm unserer Zeit sieht aus wie ein Elefant so beschrieben:

»Ja, der Menschheit geht es besser. Aber den Menschen des Westens schlechter, jedenfalls, wenn sie der Mittel- oder Unterschicht angehören. Ein Diagramm des Ungleichheitsforschers Branko Milanović verdeutlicht das; es ähnelt zufällig einem Elefanten. Der Arbeiter aus Deutschland, Europa, den USA, er befindet sich ungefähr dort, wo der Rüssel anfängt. Im Minusbereich.«

Rico Grimm fasst die Abbildung von Milanović verständlich zusammen, wenn er schreibt:

»Milanović bildet auf der Waagerechten den Wohlstand der Menschheit ab. Indem er die Einkommen der Menschen sortiert, kann er sagen, ob jemand zu den oberen 20 Prozent der Welt gehört oder zu den unteren 20 Prozent. Ganz links befinden sich die Menschen aus Sub-Sahara-Afrika, dem ärmsten Landstrich der Welt, die Ärmsten Indiens und des Rests der Welt. Rechts davon, von ca. 10 bis 25 Prozent, reihen sich jene Inder und Indonesier ein, die in ihren Ländern zur unteren Mittelschicht gehören. In diesem Segment lassen sich auch ein paar Chinesen finden. Die meisten Chinesen befinden sich aber im Bereich zwischen 25 und 65 Prozent, zusammen mit Indern, Brasilianern und anderen Menschen aus den nicht-westlichen Weltregionen. Ihnen schließen sich die Unter- und Mittelschicht (ab ca. 65 Prozent), die obere Mittelschicht (bis 95 Prozent) und die Oberschichten des Westens an (bis 99 Prozent). Das letzte Prozent bildet die Klasse der Superreichen. Die Werte dieser Achse zeigen, warum es für viele Menschen attraktiv ist, zu migrieren. Sie können aus der globalen Unterschicht in die globale Oberschicht aufsteigen – einfach indem sie in ein anderes Land ziehen. Wenn ein Bauernsohn aus dem Senegal nach Deutschland kommt und als Putzmann arbeitet, gehört er hierzulande zur Unterschicht. Aber im weltweiten Vergleich ist das deutsche Putzmann-Einkommen immer noch hervorragend.«

Die von Milanović gewählte Zeitraum 1998 bis 2008 spiegelt »genau jene Epoche, die Neoliberale und Freunde des freien Handels geprägt haben. Experten nennen sie wegen der rasanten weltweiten Verschränkung der Produktionsketten, Informationsströme, Geldkanäle und Menschenschicksale das Zeitalter der „Hyperglobalisierung“«, so Grimm.

Er verwendet diese Befunde, da sie helfen,  »den Aufstieg von Donald Trump, der AfD und Bernie Sanders zu verstehen.« Und weiter: »Sie setzen dem völlig richtigen, aber eben auch völlig abgehobenen Blick der Global-Statistiker den (möglicherweise) konstruierten Blick des „kleinen Mannes“ entgegen. Die Losungen, die sich daraus ergeben, knüpfen an den Alltag der meisten Menschen an. Vor allem im Westen.«

Grimm beendet seine Analyse mit diesem folgenschweren Satz: »Aber Milanović‘ Elefant zeigt, dass die Verlierer der Globalisierung nicht nur in Afrika zu finden sind. Sie wohnen nebenan.«

Eine absolut lesenswerte praktische Anwendung der von Rico Grimm so herausgestellten 
Milanović-These von den Verlierern inmitten unseren Gesellschaften findet man in dem Beitrag Es ging nicht um Europa von Paul Mason über die Frage, wie es zu der Mehrheit für den Brexit in Großbritannien hat kommen können: »Die Mischung aus Sparpolitik und Migration war toxisch, Ressentiments blühen.« Und auch bei sehr eindrucksvollen wie zugleich höchst differenzierten Darstellung von Mason begegnen wir den Verlierern der gesellschaftlichen Prozesse – und nebenbei dem Unvermögen der Sozialdemokraten auch auf der Insel, ihre frühere Wähler- und Anhängerschaft noch politisch abzubilden. Der Raum für die (rechts)populistischen Bewegungen ist weit offen.

Besonders brisant sind die Befunde des Ungleichheitsforschers Milanović hinsichtlich eines Aspekts, der uns – gerade auch von Marcel Fratzscher in der deutschen Debatte – als Lösungsansatz verkauft, bei Milanović hingegen als Problem identifiziert wird: mehr soziale Mobilität durch Bildung, gleichsam eine Reanimation des alten sozialdemokratischen Versprechens eines Aufstiegs durch Bildung. Hier ist die Wahrnehmung von Milanović eine ganz andere und die hört sich nicht gut an:
Man kann zeigen, » dass es eine starke Korrelation zwischen aktueller Ungleichheit und der zwischen den Generationen gibt. Oder, um es in anderen Worten zu sagen, zwischen Ungleichheit und geringer sozialer Mobilität: Je ungleicher eine Gesellschaft, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die nächste Generation weiter nach oben kommt (oder im Gegenzug: desto unwahrscheinlicher ist die Verkleinerung der reichen Schicht)«, schreibt er in seinem Beitrag Das Schumpeter-Hotel: »Hohe Ungleichheit als Preis für eine hohe soziale Mobilität – das ist die Story des American Dream. Doch neue Forschungen zeigen, dass dies ein Mythos ist. Tatsächlich gilt: Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich die nächste Generation nach oben arbeiten kann.« Die Folgen dieses nur auf den ersten Blick abstrakt daherkommenden Befundes können wir derzeit im Kontext eines vor kurzem als unmöglich bezeichneten Aufstiegs einer Figur wie Donald Trump im real life nachvollziehen.

Auch Andreas Neinhaus hat in seinem Artikel diesen Aspekt der Arbeit von Milanović aufgegriffen und bereits in die Überschrift zu seinem Artikel gepackt: Der Rückfall in die Klassengesellschaft:

»Wir bewegen uns immer mehr hin zu einer Gesellschaft, in der es vor allem darauf ankommt, aus der richtigen Familie abzustammen, um Karrierechancen zu erhalten. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert ist die soziale Klasse der Schlüssel zu hohem Einkommen und nicht allein der Ort … Zahlreiche Entwicklungen deuten auf die Konzentration von Kapital in den Händen einer Minderheit hin … Aber sie zeigen beispielsweise auch die Tatsache, dass in einer Gesellschaft, in der alle gut ausgebildet sind, Bildung selbst nicht mehr der ausschliessliche Faktor zum Erfolg ist. Das sei in den USA zu beobachten: „One sees the effect of family money and networks in the United States very clearly in the occupations where lots of power and money accrue.“«

Wenn das so ist, dann wird auch verständlich, warum wir mit der stetigen (formalen) Bildungsexpansion mit einer Inflationierung der „akademischen“ Abschlüsse einen echten gesellschaftlichen Sprengsatz konfigurieren, dessen Wirkung möglicherweise den heute noch dominierenden Frust der „alten weißen Männer“ in den USA oder der aussortierten Unterschicht in Großbritannien oder der Abgehängten aus den ländlichen Regionen in Frankreich und anderen Ländern ersetzen wird durch eine neue Form der Ablehnung des Establishments und „des“ Systems. Erste Beispiele lassen sich in den südeuropäischen Euro-Krisenländern studieren. Noch spricht die gewaltige Individualisierungswelle seit den 1990er Jahren für das bestehende System, weil sie einerseits Kollektivierungen erschwert bis verunmöglicht, zum anderen wird damit aber auch der politische Konflikt ungleich unberechenbarer.

Ungleichheit in allen unterschiedlichen Themen wird ein Mega-Thema der kommenden Jahre werden müssen. Die Armen ganz unten kann man zur Not exkludieren und wenn es sein muss stilllegen und darauf hoffen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre emphatischen Ressourcen auf die eigenen Familie oder andere gesellschaftliche Gruppen fokussieren. Dieses Muster wird nicht mehr funktionieren, wenn es um die unteren 40 Prozent einer Gesellschaft geht, die Niedrigeinkommensbzeieher und zugleich aber auch wesentliche Teile der Leistungsträger einer Gesellschaft, die das System am Laufen halten.

Der Ungleichheitsdiskurs stellt im Lichte der neueren Befunde letztendlich die Systemfrage – und deshalb wird er auch von der Gegenseite weitaus stärker unter Feuer genommen als die „klassische“ Thematisierung von Armut.

Am Tag danach. Einige kritische Gedanken zum Tag der Arbeit und der (Nicht-)Zukunft der Gewerkschaften

Zeit für mehr Solidarität! So war der Aufruf des DGB zum diesjährigen Tag der Arbeit überschrieben. Die Gewerkschaftsmitglieder waren aufgerufen, »für mehr Solidarität – zwischen den arbeitenden Menschen, den Generationen, Einheimischen und Flüchtlingen, Schwachen und Starken« zu demonstrieren. Das ist ganz offensichtlich nicht nur eine Menge Stoff, sondern „Solidarität“ ist ein starkes Wort, das man mit Leben füllen muss, sonst degeneriert das zu einer folkloristische Worthülse für Festveranstaltungen und Sonntagsreden.

Nun könnte man eine Beschäftigung mit diesem Thema abblocken durch den zynisch daherkommenden Verweis darauf, dass die Gewerkschaften mit ihren Mai-Feierlichkeiten einer tradierten Liturgie anhängen, die tendenziell immer weniger Menschen erreicht bzw. von diesen durch „moderne“ Freizeitaktivitäten substituiert werden – mithin die gleiche Problematik, die auch die Kirchen mit ihren Gottesdiensten haben. Den überwiegend Älteren aus dem traditionsbewussten Kernklientel würde man vor den Kopf stoßen, wenn man die Kundgebungen verändern oder gar einstellen würde, die anderen hingegen beklagen das Nicht-Zeitgemäße des Formats, ohne dass man sich wirklich sicher sein kann, dass sie andere Formate dann auch annehmen würden.

In diese Kerbe schlägt Franz Schande mit seinem Beitrag Wenn man nichts mehr ist, der in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ veröffentlicht worden ist: »Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, löst sich auf in disparate Segmente, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, ein neues steht nicht zur Verfügung.«

Er argumentiert mit punktueller Referenz auf Marx und Engels durchaus depressiv: In dem er die neuerdings verschiedentlich aufkeimenden Ansätze einer „Reindustrialisierung“ (als wirtschaftspolitische Strategie) in Zeiten einer umfassenden Deindustrialisierung kritisch analysiert hinsichtlich ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit, versucht er die Hoffnung mancher Gewerkschafter, über diesen Weg doch noch zu alten Ufern zurückkehren zu können, zu atomisieren. In dieser Logik dürfen solche Sätze nicht fehlen:

»Die Produktionsstätten werden zwar nicht leer, aber sie werden sukzessive entleert. Die Unterschiede zwischen einer Fabrik in den Siebzigerjahren des vorangehenden Jahrhunderts und heute sind auch ganz augenscheinlich. Während der Raum und in ihm die Zahl der Maschinen und ihre Komplexität wächst, sinkt das Personal, das zur ihrer Bedienung nötig ist. Zunehmende Maschinendichte und abnehmende Menschendichte gehören zusammen. Die ständige Entwertung der Arbeitsprodukte durch das jeweilige Einzelkapital konnte bis zum Ende des Fordismus in den Siebzigerjahren durch Ausweitung der Gesamtproduktion relativiert werden. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, da die Produktion an ihre äußeren (ökologischen) und inneren (ökonomischen) Schranken stößt. Immer mehr Waren können in immer weniger Arbeitseinheiten und somit auch mit weniger Arbeitskräften hergestellt werden. Diese Tendenz ist nicht aufhaltbar und umkehrbar.«

Es geht an dieser Stelle gar nicht um die Frage, ob diese auch in anderen Kreisen weit verbreitete Diagnose vom „Ende der (Industrie-)Arbeit“ und den dadurch nicht mehr beschäftigbaren Menschen wirklich stimmt. Diese These wurde ja auch schon früher, beispielsweise mit besonderer Verve in den 1980er Jahren, diskutiert und behauptet. Dass man vorsichtig sein sollte mit solchen Vorhersagen bzw. Vermutungen, zeigt nicht nur ein Blick auf die Beschäftigungsentwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten oder auch die aktuellen Perspektiven, die sich in der eben nicht-menschenleeren Fabrik der Industrie 4.0 am Horizont abzeichnen. Dem einen oder anderen mag schon der Verweis genügen, dass die alarmistische Debatte, die wir heute wieder haben, irgendwie als Neuauflage längst vergangener Schlachten daherkommt. Vgl. dazu nur als ein Beispiel und überaus instruktiv die Titelgeschichte „Uns steht eine Katastrophe bevor“ aus dem SPIEGEL, Heft 16/1978! »In den Arbeitskämpfen der Metallindustrie und des Druckgewerbes spielten sie die Hauptrolle: Winzige elektronische Bausteine bedrohen Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe. Weder Regierung noch Gewerkschaften wissen, wie sie die Folgen des Fortschritts unter Kontrolle bringen können«, musste man damals schon lesen.

Auch heute wird diese Perspektive erneut aufgerufen, aus ganz unterschiedlichen Ecken, so auch von den Befürwortern eines bedingungslosen Grundeinkommens. Vgl. dazu beispielsweise nur den Radio-Beitrag von Philip Kovce: Macht Geld faul? Das bedingungslose Grundeinkommen vom 1. Mai 2016. Oder diesen Beitrag aus der Schweiz, in der am 5. Juni 2016 über eine Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt wird: Ein Grundeinkommen könnte die Lösung für die USA sein: »Die Produktivität steigt, aber die Löhne sinken, und mit der Digitalisierung könnten in den USA bald viele Jobs verschwinden. Eigentlich gute Voraussetzungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Technologie-Gurus im Silicon Valley sprechen sich dafür aus.« Wie gesagt, ein ganz eigenes Thema.

Wieder zurück zu dem Beitrag von Franz Schandl. Denn vor dem Hintergrund seines Szenarios holt er aus zur grundsätzlichen Infragestellung der Gewerkschaften:

»Eine Reindustrialisierung der Welt ist eine Mischung aus falschem Wunsch, gefährlicher Drohung und hilflosem Gerede. An sich wäre die Deindustrialisierung überhaupt nicht das Problem, sondern vielmehr deren Folgen für die von ihr Abhängigen (=Lohnabhängigen) unter dem Zeichen der kapitalistischen Verwertungspflicht. Das ist allerdings für traditionelle Interessenvertretungen schwer zu rezipieren und noch schwerer zu akzeptieren, stellt es doch deren gesamtes Selbstverständnis in Frage.
Beharren diese jedoch auf den eingefahrenen Mustern, werden sie von einer sozialen Reformkraft zu einem konservativen Faktor des Standorts, dem dann alles zu unterwerfen ist, soll er am Markt erfolgreich sein. Tatsächlich erscheinen sie heute so.«

Da ist es wieder, das Bild von dem Auslaufmodell Gewerkschaft. Letztendlich abgemagerte Dinosaurier von gestern, deren Zeit abgelaufen ist. Und auch er nähert sich dem bereits angedeuteten Gedanken, dass wir es mit einem letztendlich vor diesem Hintergrund unauflösbaren Dilemma zu tun haben:

»Betriebsrat, Gewerkschaft, Partei (Sozialdemokratie) verlieren allesamt an Einfluss, da es ihnen nicht gelingt oder auch gar nicht gelingen kann, den Mangel an objektiver Klassifizierung durch subjektive Identifizierung zu überbrücken. Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, nicht vorrangig aus politischem Unvermögen, sondern in erster Linie aufgrund der Entwicklungen oder besser: Abwicklungen und Fragmentierungen auf dem Industriesektor. Das zu vertretende Kollektiv verschwindet, löst sich auf in disparate Segmente oder gar personelle Atome, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, doch ein neues steht nicht zur Verfügung.«

Das an sich ist schon starker Tobak. Aber er treibt seine Argumentation weiter und spricht von einer Deklassifizierung: »Die Einzelnen verstehen sich nicht mehr als Glieder einer Gruppe oder gar Kampfgemeinschaft. Der Mangel an Identität lässt an keine Autoritäten mehr glauben, vor allem auch deswegen, weil sie kaum noch Protektion (was jetzt nicht nur negativ gemeint ist) bieten können. Die Klasse bietet keine Geborgenheit mehr, weil sie an allen Ecken und Enden porös geworden ist.«
Das hat Folgen (sollte es denn stimmen): »Deklassifizierung bedeutet, dass die Ware Arbeitskraft von ihrem Besitzer nicht (mehr) verkauft werden kann oder, besser, dass kollektivvertraglich vereinbarte Lohnarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Auf jeden Fall geht dabei der traditionelle Klassenzusammenhalt in die Brüche, auch weil der gemeinsame soziale Raum (die Fabrik oder das Büro) nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr diese Kontinuität in den Erwerbsbiografien der Menschen aufweist.«

An dieser Stelle gibt es interessante Anknüpfungspunkte an andere Arbeiten, beispielsweise die des Philosophen Byung-Chul Han:

»Das neoliberale Subjekt als Unternehmer seiner selbst ist nicht fähig zu Beziehungen zu anderen, die frei vom Zweck wären. Zwischen Unternehmern entsteht auch keine zweckfreie Freundschaft. Frei-sein bedeutet aber ursprünglich bei Freunden sein. Freiheit und Freund haben im Indogermanischen dieselbe Wurzel. Die Freiheit ist im Grunde ein Beziehungswort. Man fühlt sich wirklich frei erst in einer gelingenden Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein mit anderen. Die totale Vereinzelung, zu der das neoliberale Regime führt, macht uns nicht wirklich frei. So stellt sich heute die Frage, ob wir die Freiheit nicht neu definieren, neu erfinden müssen, um der verhängnisvollen Dialektik der Freiheit, die diese in Zwang umschlagen lässt, zu entkommen.« (Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main 2014, S. 11).

Nach dieser Aufgabenbestimmung würde man den Gewerkschaften wohl eher nicht das Potenzial zusprechen, die sich heute stellenden Aufgaben bewältigen zu können.

Aber nochmals zurück zu Franz Schandl, denn der spricht nicht nur von Deklassifizierung, sondern auch von der Etage darunter, denn: »Deklassifizierung bedeutet noch nicht soziale Degradierung durch Deklassierung. Letztere folgt nicht automatisch.« Aber wenn sie folgt, dann sieht sie so aus:

»Deklassierung geht … noch einen Schritt weiter, sie ist der Vollzug einer Kapitulation. Man fällt nicht nur aus der Klasse, man fällt zusehends aus der Gesellschaft, vor allem aus einem nicht nur gerade noch tolerierten, sondern akzeptierten Leben.«

Das ist sicher eine Erfahrung, die nicht wenige Menschen machen mussten und müssen, die im Hartz IV-System nicht nur temporär, sondern seit langem und auf Dauer einzementiert sind.

Natürlich stellt sich hier die Frage: Wie soll man Solidarität herstellen – zwischen den Arbeitsplatzbesitzern, die zugleich in permanenten Abwehr- und hin und wieder auch in Offensivkämpfen gegen die eigenen Arbeitgeber verstrickt sind und den Erwerbslosen, die gar keinen Zugang (mehr) finden zu einem Arbeitsmarkt, der sie schlichtweg auf Dauer exkludiert hat?

Die engagierten Gewerkschafter leiden unter diesem Spannungsverhältnis. Aber es ist da und kann nicht wegdiskutiert werden. Auch nicht die Tatsache, dass sich die „Arbeitnehmer“, auch die gewerkschaftlich organisierten, zuweilen anders verhalten, als man erwarten würde oder sich Funktionäre erhoffen. Dazu sehr aufschlussreich der Beitrag von Bernd Riexinger, einem der Vorsitzenden der Partei Die Linke im Umfeld der diesjährigen Mai-Feierlichkeiten: Schluss mit dem Stillhalteabkommen. Für die Neuorientierung gewerkschaftlicher Politik gegen Deregulierung der Arbeit, so pflichtbewusst-ambitioniert hat er seinen Artikel überschrieben. Darin enthalten sind viele richtige Analysen zur abnehmenden Tarifbindung und den Erosionsprozessen in der Vergangenheit, mit denen die Gewerkschaften konfrontiert waren (und sind).

In diesem Zusammenhang nur einige wenige Zahlen: Die Reichweite der Tarifverträge ist dramatisch zurückgegangen. Lediglich 51% der Beschäftigten im Westen und sogar nur noch 37% im Osten fallen noch unter das Regelungsdach von Tarifverträgen. Nur noch ein Viertel der Betriebe besteht eine Tarifbindung. Und das sollte uns zu denken geben: 1996 hatten in Westdeutschland 41% der Beschäftigten einen Betriebsrat und gleichzeitig einen Branchentarifvertrag, 2014 waren es nur noch 28%. Ohne einen Betriebsrat und ohne irgendeinen Tarif müssen mittlerweile im Westen 34% und im Osten sogar 50% der Beschäftigten arbeiten. An dieser Stelle kann und muss man die Frage aufwerfen: Wie soll man unter diesen Bedingungen überhaupt noch solidarisch handeln können?
Riexinger legt seinen Finger auf eine Wunde der Gewerkschaften (aber natürlich, wenn er das auch nicht offen anspricht, auf eine seiner eigenen Partei), wenn er feststellt:

»Die Partei Alternative für Deutschland ist bei den Landtagswahlen im März in Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg stärkste Partei unter Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Erwerbslosen geworden. Auch den Gewerkschaften wird das zu denken geben: Im März haben über 15 Prozent ihrer Mitglieder in Baden-Württemberg und 24 Prozent von ihnen in Sachsen-Anhalt die rechtspopulistische AfD gewählt.«

Es ist schon ein Kreuz mit diesen Arbeitnehmern. Da wählen nicht wenige von ihnen die AfD. Selbst Erwerbslose. Der Vorsitzende der Linken müssten sich natürlich und eigentlich an dieser Stelle fragen, warum seine Partei diese Wahlerfolge nicht (mehr) einheimsen kann bei den genannten Gruppen, aber das tut er nicht oder er kann es nicht.

Also alles schlecht bei den Gewerkschaften?

Ganz und gar nicht, innerhalb des bestehenden Systems erfüllen die Gewerkschaften nicht nur weiterhin wichtige Funktionen beispielsweise in der Tarifpolitik, was man aktuell besichtigen kann im öffentlichen Dienst für Kommunen und Bund, wo es schon eine Einigung gegeben hat (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag von Markus Sievers: Zügiger Durchbruch im öffentlichen Dienst). Nun läuft die Warnstreik- (und möglicherweise auch mehr)-Welle im Bereich der IG Metall.
Gerade am Beispiel der IG Metall kann man sich anschaulich vor Augen führen, was praktische Solidarität in der gegebenen Arbeitswelt bedeuten kann.

Denn die IG Metall, konfrontiert mit massiven Bypass-Strategien der Arbeitgeber über Leiharbeit zuungunsten der Stammbelegschaften in der Vergangenheit, hat Branchenzuschläge für die Leiharbeiter  heuausgehandelt. Und das obwohl der Organisationsgrad der  Leiharbeiter mehr als bescheiden ist, um das nett zu formulieren. Und als die Arbeitgeber nach der mit der Re-Regulierung der Leiharbeit verbundenen Verteuerung zunehmend auf Werkverträge ausgewichen sind, hat die IG Metall das zum Thema gemacht und versucht, über die politische Schiene eine Regulierung der aus dem Ruder laufenden Werkverträge auf den Weg zu bringen. Mittlerweile aber hat man erkannt, dass die politischen Blockaden enorm sind und infolgedessen einen Strategiewechsel vollzogen nach dem Motto: Wenn die Werkvertragsunternehmen immer mehr in unsere Betriebe kommen, dann kommen wir zu ihnen in die Betriebe und versuchen, sie in einem ersten Schritt mitbestimmungsrechtlich über einen Betriebsrat und in einem zweiten über die Integration unter der Tarifdach der IG Metall wieder einzufangen (vgl. dazu auch die Studie von Tim Obermeier und Stefan Sell: Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung, 2016).

Das sind wichtige Ansätze in der gegebenen Praxis. Die an sich schon schwer genug sind. Vor allem, wenn wir dann auch noch in Bereiche gehen würden, die weitaus schwieriger zu organisieren sind, also vor allem im Bereich der Dienstleistungen. Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um einen „Häuserkampf“ auf der betrieblichen Ebene. Dass die Gewerkschaften dabei nicht ganz so erfolglos sind, verdeutlicht auch dieser Beitrag: Schluss mit der Bescheidenheit, so ist eine Hintergrundsendung des Deutschlandfunks passend zum 1. Mai 2016 überschrieben.  Darin ist sogar an einer Stelle von einer „Renaissance der Gewerkschaften“ die Rede. Zu hoffen wäre das. Die Abbildung verdeutlicht nämlich aus einer übergeordneten volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Perspektive die Bedeutung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades hinsichtlich der Debatte über eine zunehmende Ungleichheit. „Länder mit geringerem Organisationsgrad tendieren zu höherer Ungleichheit“, so die Feststellung des Wirtschaftswissenschaftlers Direkt Herzer in einer Studie. »Im Durchschnitt aller Länder zeigen sich während des 25-jährigen Untersuchungszeitraums eine klare Zunahme der Ungleichheit und ein Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades …  In den meisten Ländern gehen rückläufige Mitgliederzahlen der Arbeitnehmerorganisationen und die Zunahme der Ungleichheit Hand in Hand. Dabei ist die Wirkungsrichtung nach der Analyse des Forschers nicht eindeutig: Sind die Gewerkschaften einmal geschwächt, wachsen die Einkommensunterschiede, gleichzeitig gilt aber: Höhere Ungleichheit führt zu einem geringeren Organisationsgrad.«

Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert

Da ist sie schon wieder, die Debatte über eine (erneute) Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Der Zyniker unter den Sozialpolitikern wird vielleicht schon den Punkt erreicht haben, die Diskutanten darauf hinzuweisen, dass man diese „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Schleife der immer wiederkehrenden Forderung auch dadurch beenden könnte, dass die meisten von uns schlichtweg so lange arbeiten, bis sie umfallen – die radikale Lösung jeden „Rentenproblems“. Aber ernsthaft: Die aktuelle Diskussion wurde angestoßen vom 73jährigen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der ausgeführt hat, es mache relativ viel Sinn, die Lebensarbeitszeit und die Lebenserwartung in einen fast automatischen Zusammenhang auch in der Rentenformel zu bringen – sogleich bekam er Schützenhilfe: Junge Union für Anstieg des Rentenalters auf 70. Jeder, der etwas bewandert ist im System der gesetzlichen Rentenversicherung weiß, dass schon an dieser ersten Stelle einiges durcheinander geht. Wenn Schäuble davon spricht, das in der Rentenformel abzubilden, dann wäre das ein anderes, den „demografischen Faktor“ des früheren Bundesarbeitsministers Norbert Blüm (CDU) erinnernd, als das, was die Junge Union rausposaunt: „Um das Rentenniveau künftig nicht so weit absenken zu müssen, dass immer weniger Menschen davon leben können, sollten wir das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung koppeln“, wird JU-Chef Paul Ziemiak zitiert. „Dies würde nur einen moderaten Anstieg des gesetzlichen Renteneintrittsalters zur Folge haben.“

Welchen Weg man auch immer wählen würde – der hier entscheidende Punkt ist die Legitimationsfolie, auf der sich diese Vorschläge bewegen. Immer geht es um die steigende Lebenserwartung. Und ist es nicht auch tatsächlich so, dass die dazu geführt hat, dass heute wesentlich länger Rente bezogen werden kann als früher? 1995 waren es im Schnitt 15,8 Jahre, 2014 bereits 19,3 Jahre bei allen Rentenbeziehern, bei Frauen sogar 21,4 Jahre. Und blickt man auf einen längeren Zeitraum zurück, dann kann man sogar feststellen, dass sich seit Anfang der 1960er Jahre die Rentenbezugsdauer verdoppelt hat. Im Durchschnitt. Und dieses Wort bekommt eine ganz eigene Bedeutung für einen kritischen Blick auf die Debatte. 

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