Ausbildung: Viele studieren, die duale Berufsausbildung kämpft gegen den Sinkflug und das „Übergangssystem“ wächst wieder

„Akademisierungswahn“, so lautet eines der Schlagworte der bildungspolitischen Diskussion. „Azubi-Mangel“ ein anderes, das man sich noch vor einigen Jahren nicht hat vorstellen können, als viele junge Menschen beim anstehenden Übergang von der Schule in den Beruf keinen Fuß in die Tür bekommen haben – und durchaus folgerichtig aufgefangen bzw. geparkt wurden im vielgestaltigen „Übergangssystem“. Aber die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine sowohl demografisch bedingte Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen im Sinne einer Abnahme der Zahl der jungen Menschen wie auch eine durch gesellschaftlichen Wertewandel verursachte Verschiebung zwischen den Ausbildungssektoren. Das Jahr 2013 kann und muss man sich als ein historisches Datum merken, denn in diesem Jahr gab es erstmals mehr Studienanfänger als neue Auszubildende im dualen Berufsausbildungssystem. Während sich die Zahl der Studienanfänger auf hohem Niveau stabilisiert, kämpft die duale Berufsausbildung weiter gegen den erkennbaren Sinkflug, wenn man denn diesen an der Zahl der Neuzugänge misst.

Aber die Abbildung verdeutlicht noch zwei andere Auffälligkeiten. Eine davon wird oftmals übersehen. Die Zugangszahlen in das Schulberufssystem erscheinen seit vielen Jahren wie festgenagelt knapp oberhalb der 200.000 Neuzugänge pro Jahr. Dabei handelt es sich hier neben dem dualen Berufsausbildungssystem um einen ganz wichtigen Teilbereich der beruflichen Qualifizierung, denn hier sind beispielsweise zahlreiche Berufe des Gesundheitswesens- und Sozialwesens angesiedelt, nicht nur die Pflegeberufe, sondern beispielsweise auch die Erzieher/innen. Und man muss nur etwas mitbekommen haben von der höchst umstrittenen Fachkräftemangel-Debatte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen wie mehr alte Menschen und Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die einfache Frage zu stellen, warum die Zugangszahlen angesichts des offensichtlichen Bedarfs hier nicht viel stärker angestiegen sind.

Die Abbildung mit der Entwicklung in den Jahren von 2005 bis 2016 verdeutlicht aber noch eine andere Auffälligkeit. Man erkennt den deutlichen Rückgang der Neuzugänge in das überaus heterogene Übergangssystem zwischen Schule und Beruf, das nicht nur, aber auch viele junge Menschen aufnehmen musste, als es „zu viele“ Bewerber für einen Ausbildungsplatz gegeben hat, die dann nicht zum Zuge gekommen und „unversorgt“ geblieben sind. Daneben gehören zum Übergangssystem auch diejenigen, die einen oder einen höheren Schulabschluss zu erwerben versuchen. Hinzu kommen zahlreiche junge Menschen, die tatsächlich oder einfach aufgrund der Marktbedingungen als noch nicht „ausbildungsreif“ (ein übrigens höchst umstrittener Begriff) etikettiert wurden und werden und es durchaus nicht selten auch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht sind, jedenfalls nicht im bestehenden System.

Aufgrund der vor allem demografisch bedingten Entspannung, aber auch eines zunehmenden Anteils an jungen Menschen, die ein Studium aufnehmen und damit nicht mehr dem dualen Berufsausbildungssystem zur Verfügung stehen, hat sich für einen Teil der der jungen Menschen, die unter den für sie schlechteren Marktbedingungen in das Übergangssystem abgedrängt worden sind, die Chance auf den direkten Einstieg in eine Berufsausbildung erhöht. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich niedergeschlagen in einem massiven Rückgang der Neuzugänge in das Übergangssystem von weit über 400.000 auf knapp 253.000 im Jahr 2014, als der bisherige Tiefstand erreicht wurde. Aber seit 2015 steigt die Zahl der Zugänge wieder an, im vergangenen Jahr waren es ausweislich der Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung des Statistischen Bundesamtes fast 300.000.

Schaut man genauer in die Statistik des Übergangssystems, dann erkennt man im Vergleich der beiden Jahre 2015 und 2016, dass der Anstieg ausschließlich auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen zurückgeht, also vor allem beim Berufsvorbereitungsjahr und den einjährigen Berufseinstiegsklassen.

An dieser Stelle wird dann auch plausibel erwartbar, dass das Übergangssystem eben nicht einer „biologischen“ Lösung, also einem generell mangelbedingten Aussterben, zugeführt wird, sondern dass wir durchaus realistisch einen weiteren Anstieg der Neuzugänge erwarten müssen. Denn zum einen ist die aufgrund der gestiegenen Studierneigung  dem dualen Berufsausbildungssystem immer wieder empfohlene „Öffnung nach unten“, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, angesichts der realen Marktverhältnisse von vielen Betrieben durchaus umgesetzt worden, aber es gibt systemstrukturelle Grenzen für diesen Prozess, die zum einen mit der nicht weg zu diskutierenden Verhaltensseite bei einigen jungen Menschen zu tun haben, zum anderen aber – und weitaus gewichtiger – mit der Tatsache, dass eben auch die duale Berufsausbildung einem erheblichen kognitiven Upgrading unterworfen wurde, was auch angesichts der Berücksichtigung der technologischen Entwicklung in vielen Handwerken auch nicht vermeidbar ist. Daran aber scheitern nicht wenige praktisch begabte junge Menschen. Hinzu kommt: Viele der jüngeren Flüchtlinge, die potenziell für eine Berufsausbildung in Frage kommen könnten, werden erst einmal im Übergangssystem landen.

Erneut starker Anstieg der Anfänger bei Bildungs­programmen im Übergangs­bereich im Jahr 2016, so ist die Mitteilung vom 10.03.2017 überschrieben: Für 2016 weist die vorläufige Berichterstattung einen Anstieg der Eintritte in das Übergangssystem in Höhe von +12,2 Prozent aus. Dabei wird von den Bundesstatistikern darauf hingewiesen, dass der Anstieg eher unterzeichnet ist, da aus Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zum Übergangsbereich im Wesentlichen nur Vorjahresdaten vorliegen. Und was wird als Erklärung für den Anstieg angeboten?

»Seit dem Jahr 2015 steigt die Zahl der Anfängerinnen und Anfänger im Übergangsbereich wieder an. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf Programme zum Erlernen der deutschen Sprache für jugendliche Flüchtlinge und Zugewanderte zurückzuführen.«

Abschließend ein Blick auf eine der Großbaustellen der bildungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre- zugespitzt formuliert: Immer mehr wollen studieren, immer weniger eine klassische Berufsausbildung (ob dual oder fachschulisch) absolvieren. Zu diesem hoch kontroversen Themenfeld hat sich nun das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu Wort gemeldet mit einer neuen Studie:

Regina Dionisius und Amelie Illiger (2017): Trends ins Studium und in die duale Berufsausbildung unter Berücksichtigung ausgewählter Einflussfaktoren. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 182, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

Und das, was darin vorgetragen wird, ist für den einen oder anderen sicher überraschend: Während immer mehr junge Menschen ein Studium beginnen, sinken die Anfängerzahlen in der dualen Berufsausbildung. Die Zahlen allein lassen jedoch nicht auf einen veränderten Studier- oder Ausbildungstrend der Jugendlichen in Deutschland schließen. Die BIBB-Studie beleuchtet die Faktoren, welche die Anfängerzahlen in den unterschiedlichen Bildungsbereichen beeinflussen. Die Analyse basiert auf Daten der amtlichen Statistik für den Zeitraum 2005-2014 und berücksichtigt neben den Effekten der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, der steigenden Zahl von Bildungsausländern/-ausländerinnen, der demografischen Entwicklung sowie der Situation am Ausbildungsmarkt auch länderspezifische Einflüsse. Panel Regressionen mit fixen Effekten weisen einen leichten Trend zu mehr Studierenden nach. Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung wird jedoch nicht festgestellt. »Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung kann für den gewählten Betrachtungszeit­ raum nicht festgestellt werden. Die Neigung zur Aufnahme einer dualen Berufsausbildung hängt im Wesentlichen vom Ausbildungsplatzangebot ab«, so Dionisius/Illiger (2017: 22).

Offensichtlich plädieren die beiden Autoren der Studie für eine Abkehr von der bisherigen getrennten Sicht auf die einzelnen Ausbildungssektoren:

»Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern die Bildungssäulen „duale Berufsausbildung“ und „Studium“ wei­terhin als Alternativmodelle nebeneinanderstehen. Rauner … beschreibt unter dem Titel „Akademisierung beruflicher und Verberuflichung akademischer Bildung“ einen Prozess, den Esser als „Entsäulung“ … bezeichnet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Entwick­lung sogenannter „hybrider Ausbildungsformate“ … Hierunter fallen vor allem die dualen Studiengänge sowie die doppelqualifizierenden Bildungsgänge, in denen gleichzeitig Berufsabschluss und Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kön­nen. Quantitativ erfährt insbesondere das duale Studium einen starken Zulauf. So hat sich das Angebot an dualen Studiengängen zwischen 2005 und 2014 mehr als vervierfacht … und die Zahl der Anfänger/-innen im dualen Studium an Hochschulen mehr als verzehnfacht.«

Was ist noch normal und was ist schon krank, was ist nicht zu vermeiden und wo muss man was tun? Die gesundheitliche Lage der Studierenden und der höchst ambivalente Lockruf des Geldes. Zugleich eine Frage nach dem (Un)Sinn des Scheiterns

2,7 Millionen Studie­rende im Winter­semester 2014/2015 – noch nie waren so viele Studierende an den deutschen Hochschulen eingeschrieben, meldete bereits im November des vergangenen Jahres das Statistische Bundesamt. Und für viele Bildungspolitiker markiert das Jahr 2013 eine historische Zäsur in unserem Bildungssystem, denn in diesem Jahr haben erstmals mehr zumeist junge Menschen ein Hochschulstudium aufgenommen als eine duale Berufsausbildung angefangen. Der eine oder die andere wird sich an dieser Stelle zu Recht erinnert fühlen an die seit einigen Jahren laufende Debatte über einen (angeblichen) „Akademisierungswahn“ in unserer Gesellschaft und dem schrittweisen Absinken des doch ebenfalls angeblich weltweit so einmaligen deutschen Berufsausbildungssystems in eine Risikozone mit wenig Sauerstoff für die Akteure und einem möglicherweise anstehenden Tod auf Raten. Darum aber soll es an dieser Stelle gar nicht gehen. Auch nicht um die Tatsache, dass die steigenden Studierendenzahlen auf ein System treffen, das nicht nur höchst komplex angelegt und seit Jahren an den Auswirkungen eines „Systemwechsels“ (gemeint ist hier die Umstellung auf die Bachelor-/Master-Studiengänge im Gefolge der deutschen Umsetzung der „Bologna-Reformen“) laboriert, verbunden mit der Tatsache, dass es sich bei den Hochschulen um die pädagogischen Einrichtungen handelt, die zum einen die schlechtesten Relationen zwischen Lehrpersonal und Lernenden aufweisen, zum anderen treffen die Studierenden hier auf die ansonsten im Bildungssystem recht einmalige Konstellation, dass der Großteil der Lehrenden per Akklamation zu „Pädagogen“ erklärt worden ist, die sie aber gar nicht sind und bei denen man dann hoffen kann und muss, dass sie sich pädagogisch „richtig“ verhalten, wobei das „Richtige“ in der Pädagogik bekanntlich eine eigene Dimension darstellt.

In diesem Kontext muss man dann folgende Meldungen zur Kenntnis nehmen: »Der Trend steigender Fehlzeiten setzt sich fort. 2014 waren Erwerbspersonen durchschnittlich 14,8 Tage krankgeschrieben. Das entspricht einem Krankenstand von 4,06 Prozent, der damit um 1,0 Prozent höher liegt als im Jahr zuvor. Dabei sind insbesondere Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen erneut gestiegen. Besonders besorgniserregend sind die gesundheitlichen Belastungen unter Studierenden. Bei dieser Gruppe zeigen die Auswertungen eine deutliche Zunahme an Verordnungen von Psychopharmaka«, berichtet die Techniker Krankenkasse (TKK) unter der Überschrift Mehr als jeder 5. Studierende bekommt eine psychische Diagnose. Die gesundheitliche Lage der Studierenden ist der Themenschwerpunkt des neuen Gesundheitsreport der TKK (Gesundheitsreport 2015. Gesundheit von Studierenden).

Die beunruhigend daherkommende Botschaft wurde sogleich aufgegriffen von den Medien: Mit Alkohol gegen Prüfungsstress, so hat die FAZ ihren Artikel überschrieben, die Ärzte Zeitung behauptet gar Viele Studenten sind depressiv, womit man schon sehr weit geht, denn das kommt wie eine Tatsache daher, wobei man anmerken sollte, dass eine Diagnose gerade in diesem Bereich durchaus erst einmal eine Vermutung oder vielleicht sogar nicht zutreffend sein kann.

Zuerst einmal einige Erkenntnisse aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK. Zur Datenbasis sei angemerkt: Die TKK hatte für die Erhebung Arzneimittel- und Diagnosedaten von rund 190.000 Studierenden ausgewertet und diese mit den Daten von gleichaltrigen Berufstätigen verglichen. Ergänzend dazu war auch ein repräsentativer Querschnitt von 1000 Studentinnen und Studenten zu ihrem Lebensstil befragt worden.

Bei 21,4 Prozent der Studierenden in Deutschland wurde 2013 eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Die Betroffenen litten am häufigsten unter einer Depression. Der Anteil der Studierenden mit einer psychischen Diagnose ist somit seit 2009 um 4,3 Prozent gestiegen. 4,3 Prozent der Studenten haben 2013 eine Psychotherapie begonnen, rund sechs Prozent ließen sich stationär behandeln. Knapp vier Prozent der Studierenden erhielten Antidepressiva. Mit rund 257 Tagesdosen im Jahr wurden sie somit über zwei Drittel des Jahres mit Medikamenten versorgt.
Hinzu kommt ein „Geschlechter-Bias“, denn betroffen sind vor allem die Studentinnen. Bei rund 30 Prozent von ihnen wurde 2013 eine psychische Störung diagnostiziert, doppelt so häufig wie bei ihren männlichen Kollegen (15 Prozent).

Susanne Werner berichtet in ihrem Artikel Viele Studierenden sind depressiv auch über eine Interpretation der Befunde, die scheinbar fassungsfähig daherkommt zu den Erwartungen, die viele mit solchen Daten verbinden werden:

»Der Grund für die zunehmenden Diagnosen psychischer Störungen ist offenbar im „Stresslevel auf dem Campus“ zu finden. Rund die Hälfte der Studierenden gaben in der Befragung an, regelmäßig unter Stress zu stehen, etwa ein Viertel fühlte sich sogar „unter Dauerdruck“.
Zu den zentralen Belastungsfaktoren zählten die Befragten Prüfungsstress, Doppelbelastung durch Studium und Jobben, finanzielle Sorgen, die Angst vor schlechten Noten sowie das Bangen, später keinen Job zu finden.«

Das wird sicher auch die erste Vermutung vieler Leser gewesen sein und mithin deshalb „passungsfähig“, weil es sich einordnen lässt in einen allgemeinen Diskurs über die „krankmachenden“ Strukturen unserer Leistungsgesellschaft und dem „zunehmenden“ Druck, dem die Beschäftigten ausgesetzt seien. Insofern rundet das ein Bild ab, in dem beispielsweise auch auf die (angeblich) stark steigende Zahl an Jugendlichen und selbst Kindergartenkindern mit psychischen  Problemen hingewiesen wird.

Ein genauerer Blick lohnt wie so oft. Wenn von „Studenten“ die Rede ist, denken die meisten ob bewusst oder unbewusst sicher sofort und nur an junge Menschen, die nach der Schule eine Studium beginnen. Vor diesem Hintergrund ist der folgende altersdifferenzierte Befund aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK interessant, auf den Weber hinweist:

»Im Vergleich zeigt sich, dass die psychischen Erkrankungen stark ab dem 27. Lebensjahr ansteigen. Die Raten der psychischen Diagnosen der Studierenden übersteigen dann deutlich entsprechende Erkrankungen bei jungen Erwerbstätigen.
„Ab 32 Jahren bekommen Studierende beider Geschlechter etwa doppelt so viele Antidepressiva verschrieben wie Erwerbspersonen im gleichen Alter“, sagte Dr. Thomas Grobe vom AQUA-Institut, das die Zahlen für die TK ausgewertet hatte.«

Insofern trifft die herausgestellte und von vielen Medien rezipierte überdurchschnittliche Betroffenheit eben erst einmal nicht den „Normalfall“ der Studierenden, also diejenigen, die Anfang 20 sind. Ein differenzierter Blick ist vor allem deshalb bedeutsam, weil man ansonsten die falschen Schlussfolgerungen zieht. Offensichtlich ist es so, dass ab 30 die Bewältigung des mit einem Studium verbundenen Drucks deutlich schwerer fällt als in den jüngeren Jahrgängen. Dann spielten entscheidende Prüfungen, Fragen der Studienfinanzierung und womöglich auch Kinder eine treibende Rolle als Stressfaktoren. Das würde aber in der Konsequenz bedeuten, dass eine Hilfestellung für diese kleine Gruppe an Studierenden eher ansetzen müsste an Rahmenbedingungen wie der finanziellen Unterstützung oder des Angebots an einer entlastenden und zugleich die Ausbildung ermöglichenden Betreuungsinfrastruktur.

Aber grundsätzlich sollte man sich vor einer durchaus naheliegenden Schlussfolgerung hüten, die scheinbar so gut passt in eine Fundamentalkritik an den (tatsächlich oder angeblich) pathologischen Strukturen unserer Leistungsgesellschaft. Also die doch offensichtliche Überforderung eines Teils der Studierenden dadurch zu verringern, dass man den Druck auf sie reduziert, die Anforderungen absenkt, sie dann doch noch ans Ziel kommen lässt, in dem man schlichtweg beide Augen zudrückt. Man muss sehen, dass es sich bei einem Studium eben auch um einen offiziellen Ausbildungsweg handelt, der mit einem staatlich lizenzierten Abschluss endet, der Zugang eröffnet zu bestimmten Tätigkeiten und Positionen (und damit auch Vergütungen), die andere nicht bekommen (können).

Man kann das kritisieren, aber Fakt ist: Ein Hochschulstudium bildet in der Gesamtschau auf die bestehenden Ausbildungsstrukturen (immer noch) das „obere“ Ende der Bildungshierarchie ab und insofern muss es notwendigerweise selektiv sein und auch einen Teil der Teilnehmer am Ende aussondern. Unabhängig von der Einstellung gegenüber Prüfungen – die als Selektionsfallbeil wirken können – und damit letztendlich dem exkulpierenden Gesicht des Bildungssystems – so lange wir uns in diesem System bewegen, kann es keinen Sinn machen, den Erfolg gerade des Systems am oberen Ende der Bildungshierarchie daran zu messen, dass alle, die reingehen, auch erfolgreich, also mit Abschluss, wieder rauskommen und das dann auch noch unbeschadet.

Aber vielleicht erledigt „das System“ diese Aufgabe selbst. Und wieder einmal spielt Geld und seine Anreizwirkung hierbei eine Rolle. Als Beispiel dafür sei auf den Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen hingewiesen. Man sollte über die (möglicherweise und wie so oft sicher nicht geplanten, sich aber einstellenden) Nebenwirkungen einer als „gut“ daherkommenden Idee einmal genauer nachdenken. Ausgangspunkt ist das diagnostizierte Problem der Studienabbrüche. Denn wenn ein Teil der Studierenden unterwegs verloren geht und nicht zum Abschluss gelangt, dann ist das eine Ressourcenverschwendung, die eingesetzten Mittel haben ja nicht zu dem anvisierten Ergebnis geführt.

Nun wird der eine oder die andere einwerfen an dieser Stelle: Es gibt doch viele und höchst unterschiedlich zu gewichene Gründe für einen Studienabbruch. Die Information, dass beispielsweise 25 Prozent und mehr der Studierenden „abbrechen“, vernebelt eigentlich mehr als es uns weiterhilft. Denn darunter fallen beispielsweise Studierende, die – Gott sein Dank für sich selbst und für die Gesellschaft – am Anfang des aufgenommenen Studiums merken, dass das nichts für sie ist. Und wenn die das Studium abbrechen, heißt das noch lange nicht, dass sie deswegen auf eine akademische Ausbildung verzichten, wenn sie schlichtweg das Studienfach und/oder den Hochschulort wechseln und einen neuen Versuch starten. Zu den Studienabbrechern zählen auf der einen Seite die, die an den problematischen Rahmenbedingungen scheitern (beispielsweise Probleme bei der Vereinbarkeit von Studium und Familie), die es ansonsten vielleicht gut geschafft hätten. Aber eben auch diejenigen, die schlichtweg nicht in der Lage sind, den Anforderungen eines Studiums gerecht zu werden – und wenn die abbrechen, dann ist das zwar ein Scheitern, heißt aber noch lange nicht, dass das per se schlecht ist, denn möglicherweise erweisen sie sich in anderen Ausbildungsstrukturen als überaus erfolgreich (man schaue nur auf die durchaus positiven Erfahrungen, die gemacht worden sind mit Studienabbrechern, denen man eine „klassische“, also duale Berufsausbildung vermittelt hat). Aber um es ganz deutlich und ohne politisch korrekte semantische Verkleisterungen zu sagen: Das Scheitern muss zu einem Hochschulstudium dazu gehören, man muss auch auflaufen und das bescheinigt bekommen können, dass man den Anforderungen nicht gewachsenen ist.

Diese sicherlich kontrovers diskutierbaren Hinweise zeigen eines auf alle Fälle: Wir haben es hier mit einer hochkomplexen Gemengelage zu tun, die man tunlichst nicht über einen Kamm scheren sollte. Aber der Reiz für Bildungspolitiker scheint groß zu sein, genau das zu tun:
»Mehr als jeder vierte Student schmeißt sein Studium hin, Nordrhein-Westfalen will das jetzt ändern: Das Land zahlt seinen Hochschulen künftig einen Erfolgsbonus für jeden Absolventen – 4.000 Euro pro Abschluss.« Die Hochschulen sollen also angereizt werden, mehr dafür zu tun, einem Teil der Studierenden die Scheiternserfahrung zu ersparen. Auch hierfür sind die angesprochenen „rohen“ Zahlen zu den Studienabbrechern Ausgangspunkt dafür, „etwas“ tun zu müssen:»Nach Berechnungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) schließt bundesweit etwa ein Drittel der Studenten an Universitäten und knapp ein Viertel an Fachhochschulen das Studium nicht ab. Vor allem Fächer wie Mathematik, Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften sind betroffen«, kann man auch dem Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen entnehmen.

Allein schon der differenzierende Hinweis auf die besonders betroffenen Fächer eröffnet zugleich, wenn man denn will, eine realistische, also nicht einfache Sicht auf das Phänomen Studienabbruch, denn die Anforderungen, beispielsweise hinsichtlich der erforderlichen Mathematik, sind in diesen Studiengängen sehr hoch. Nun kann man zugespitzt formuliert zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen wäre die Frage der Studienbedingungen bis hin zur (Nicht-)Pädagogik des Lehrpersonals ein Ansatzpunkt. Vielleicht also gelingt es über bessere Bedingungen, mehr Studierenden die Untiefen der Mathematik verstehbar zu machen und sie dann auch noch zu einem Abschluss zu führen. Das wäre der unbedingte Auftrag, die eigene Institution zu überprüfen und auch Konsequenzen zu ziehen, wenn die Ausbildungsqualität zu niedrig ist. Aber auf der anderen Seite könnte man auch durchaus zeitgeistig sagen, wir senken die Anforderungen, die zu immer auch beschämenden Scheiternserfahrungen führen können, einfach ab, weil nun mal bei vielen jungen Menschen die Kenntnisse in der Mathematik schlecht sind. Aber wir alle als Nutzer einer Brücke, eines Freizeitparks oder was auch immer werden unbedingt erwarten dürfen und müssen, dass die Ingenieure rechnen können, ob das nun angenehm ist oder nicht.

Zurück zu dem Vorstoß aus Nordrhein-Westfalen: »Nach Angaben des Ministeriums ist NRW das erste Bundesland, das ein stark auf den Studienerfolg ausgerichtetes Prämienmodell einführt. Die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf hatte bereits in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, die Abbrecherquote senken zu wollen. Anfang vergangenen Jahres hatte Wissenschaftsministerin Schulze mit den Fachhochschulen verabredet, dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen.«

Man könnte jetzt etwas pikiert einwenden, dass sich das irgendwie anhört wie die Planvorgaben des ZK für Bildungsabschlussoutput der Hochschul-Kombinate. Aber ernsthafter: Was kann es bedeuten, wenn man lesen muss, die Wissenschaftsministerin habe mit den Fachhochschulen verabredet, »dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen«? Die optimistische Variante geht so: Alle strengen sich jetzt in den NRW-FHs ganz doll an, um die potenziellen Studienabbrecher zu identifizieren und vor dem fatalen Schritt eines Studienabbruchs zu bewahren. Die einen bekommen einen Krippenplatz für die Kinder, die anderen so lange Mathe-Nachhilfe, bis sie aufgeben. Es gibt allerdings auch eine zweite Variante, die leider weitaus realistischer erscheint für jeden, der in diesem System gearbeitet hat oder gar arbeitet: Die Anforderungen werden Schritt für Schritt abgesenkt. Wenn man Durchfallquoten hatte von 30 oder 40 Prozent, dann kann man eine Reduzierung der damit verbundenen Abbrecherquoten um 20 Prozent schnell und wirksam erreichen, in dem man die Durchfallquoten abgesenkt. Wenn das nicht von den Studierenden selbst geleistet werden kann, dann muss man eben nachhelfen. Und wenn der Fachbereich, in dem die Studierenden eingeschrieben sind, ein unmittelbares und erhebliches finanzielles Interesse hat bzw. gemacht bekommt, wie durch die neue Prämie in NRW, dann muss man doch keine ökonomische Studie in Auftrag geben, um sich vorzustellen, in welche Richtung sich die Systeme begeben werden.

Die Mittel für diese neue Prämie holt sich NRW aus dem „Hochschulpakt“, ein milliardenschweres Bund-Länder-Programm, mit dem zusätzliche Studienplätze finanziert werden. Die Hochschulen im bevölkerungsreichsten Bundesland erhalten künftig 18.000 Euro für jeden zusätzlichen Studienanfänger, zudem die Erfolgsprämie für Absolventen. Die Anreizwirkung wird eintreten, das kann man prognostizieren.

Aber man kann und muss zugleich ein Riesen-Fragezeichen hinsichtlich der Sinnhaftigkeit solcher letztendlich nur vulgärökonomisch fundierter Anreizmodelle setzen. Und man sollte eines nie vergessen: Man kann Anforderungen und Hürden immer recht einfach absenken – sollte sich das aber als Irrweg erweisen, dann wird es kaum möglich sein, wieder zurück zu gehen auf Start. Das ist wie eine Rutschbahn nach unten. Das kann sich zu einem echten Problem auswachsen für das Bildungssystem an sich, aber auch für die Abnehmer, also beispielsweise die Arbeitgeber und die Anforderungen auf vielen Arbeitsplätzen. Darüber hinaus werden aber auch den jungen Menschen möglicherweise fatale Hinweise gegeben, dass man sich nicht zusätzlich anstrengen muss, dass man auch so irgendwie durchkommen wird, dass immer das System oder andere verantwortlich sind, immer weniger bis gar nicht aber man selbst.

Vom „Bildungstransitland“ Deutschland bis hin zu einem Wiederbelebungsversuch – „selbstverständlich“ sozialverträglicher – Studiengebühren

Ein – allerdings nicht nur unter Experten reichlich umstrittenes – Megathema der Arbeitsmarkt- und Bildungsdiskussion ist „der“ Fachkräftemangel. Ein echtes Minenfeld, wenn man nicht genau und differenziert genug hinschaut. Aber immer noch reicht schon die Erwähnung des – angeblich – vorhandenen, im Entstehen begriffenen oder möglicherweise mittel- oder langfristig sich herausbildenden Fachkräftemangels, um Sorgenfalten auf die Stirn der Wirtschaft zu zeichnen und Politiker in Bewegung zu setzen. Zugleich bringt es die Debatte mit sich, dass man die komplexen Prozesse, die hier eine Rolle spielen, von der frühkindlichen Bildung über die Schulen und die Ausbildung bis hin zu Zuwanderung und Abwanderung, oftmals arg verkürzt oder gar ausblendet. Nicht zu vermeiden, aber gerade deshalb mit größter Sorgfalt zu behandeln ist die nationale Verengung auf den Nutzeraspekt „für uns“. Man kann das beispielhaft zeigen an der sehr doppelmoralig daherkommenden Debatte über Zuwanderer aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien. Das ist die eine Seite dieser Zuwanderung, die der Armen, die im Mittelpunkt der Berichterstattung und damit auch der öffentlichen Wahrnehmung steht, sie ist in der Regel angst- und abwehrbesetzt. Über die vielen Ärzte aus diesen Ländern, die in den deutschen Krankenhäusern das Versorgungssystem gerade in vielen ländlichen Regionen Deutschlands aufrechterhalten, verliert man so gut wie kein Wort. Auch nicht über die Lücken, die diese Mediziner in ihren Heimatländern, die sie ausgebildet haben, hinterlassen. Die einen nutzen uns, die anderen belasten uns möglicherweise – letztendlich werden wir hier Zeuge einer krämerhaft wirkenden Kosten-Nutzen-Analyse von Menschen, die zum uns kommen.

Ein aktuelles Beispiel gefällig? »Wird das ganze Geld umsonst ausgegeben? Mehr als 300.000 Ausländer studieren derzeit an deutschen Unis. Doch dem deutschen Arbeitsmarkt nutzt dies am Ende herzlich wenig.« Überschrieben ist der Artikel, aus dem diese Sätze stammen, so: Ausländer gehen Arbeitsmarkt verloren. Da läuft doch was schief, werden viele mehr oder weniger bewusst denken, wenn sie das hören oder lesen. Aber schauen wir mal genauer hin.

Es geht um Ausländer, die zu uns nach Deutschland kommen, um hier zu studieren. »Zu viele brechen das Studium ab oder kehren nach erfolgreichem Abschluss in die Heimat zurück und gehen somit dem deutschen Arbeitsmarkt als Fachkräfte verloren.« Man bezieht sich dabei auf eine neue Ausgabe des vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gemeinsam mit der Unternehmensberatung McKinsey herausgegebenen Hochschul-Bildungs-Reports 2020, der jährlich seit 2013 mit einem Vertiefungsthema erscheint. Diesmal war „Internationale Bildung“ dran. Da findet man beispielsweise diesen Hinweis: »Laut einer Umfrage von McKinsey und dem Stifterverband für den Hochschul-Bildungs-Report 2020 sind 50 Prozent der Unternehmen zur Deckung ihres Fachkräftebedarfs schon heute auf ausländische Absolventen angewiesen. 66 Prozent glauben, dass dies in Zukunft noch häufiger der Fall sein wird.« Die erwähnte Umfrage basiert auf einer Befragung von 230 Unternehmen in Deutschland. Gestützt wurde diese Befragung durch gut ein Dutzend Experteninterviews mit Personalverantwortlichen in MDAX- und DAX-Unternehmen. Jedes zweite Unternehmen? Na ja, vielleicht hat man da doch einen sehr engen Blick auf „die“ Unternehmen. Was für große Konzerne gilt, wird sich in den vielen anderen „normalen“ Unternehmen sicher anders darstellen. Aber diese Zweifel sollen hier gar nicht vertieft werden – sondern der kritische Blick ist auf die folgende Argumentation zu richten:

»In einen ausländischen Berufseinsteiger muss Deutschland deutlich mehr investieren als in einen inländischen Berufseinsteiger. Der Grund: Ausländische Studierende brechen deutlich häufiger ihr Studium ab als ihre deutschen Kommilitonen (41 Prozent versus 28 Prozent). Zudem kehren 54 Prozent der ausländischen Studierenden Deutschland nach ihrem Studium den Rücken – trotz des guten Arbeitsmarkts. Für einen deutschen Berufseinsteiger muss der Staat deshalb rund 45.500 Euro für die Hochschulausbildung aufwenden, für einen ausländischen Berufseinsteiger rund drei Mal so viel, nämlich 134.200 Euro. Der Fokus von Politik und Hochschulen sollte deshalb in den kommenden Jahren auf einer Senkung des Studienabbruchs, auf einer höheren Verbleibquote in Deutschland und auf einer langfristigen Finanzierung des Studiums von ausländischen Studierenden liegen.«

Nach vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes lag die Zahl der ausländischen Studierenden im Wintersemester 2014/15 bei fast 320.000 – das ist mehr als eine Verdoppelung seit 1996. Den Statistikern zufolge gab es 2014 gut 107.000 ausländische Studienanfänger an deutschen Hochschulen, so viele wie nie zuvor. „Deutschland ist ein Bildungstransitland. Wir investieren viel Geld in ausländische Studierende, tun aber zu wenig, um diese erfolgreich zum Studienabschluss zu führen und sie zum Verbleib in Deutschland zu motivieren“, so wird der stellvertretende Generalsekretär des Stifterverbandes, Volker Meyer-Guckel, zitiert.

„Bildungstransitland“ – das ruft bei den älteren Semestern sicher Assoziationen hervor, beispielsweise der Transitverkehr durch die DDR, mit den böse blickenden Einreise-, Durchreise- und Ausreisebeamten des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates, wenn man sich auf dem Landweg „durch die Zone“ nach Westberlin befand.

Aber wieder zurück zu den ausländischen Studierenden und den Kernaussagen des Hochschlug-Bildungs-Reports: Was ist an den zitierten Daten eigentlich so schlimm bzw. problematisch?

Die den Ausführungen mitlaufende Bewertung geht doch so: Da kommen (potenzielle) Fachkräfte, die das Arbeitsangebot hier bei uns erhöhen könnten, zum Studium nach Deutschland und dann müssen wir doch im Sinne einer bestechend einfachen Effizienzlogik, wenn wir schon Geld dafür aufwenden, so viel wie möglich „für uns“ aus dem Investment herausholen. Deshalb runter mit der Abbrecherquote und rauf mit der „Dableibe-Quote“, so die plausibel erscheinende Schlussfolgerung.

Hierzu nur zwei Anmerkungen:

1.) Wieso eigentlich runter mit der „Abbrecherquote“? Anders formuliert: Wenn man die Perspektive wechselt und davon ausgeht, dass der Maßstab nicht die den Industriestandards entsprechende, möglichst in Richtung 100 Prozent strebende, mithin hoch effiziente Ausnutzung des „Humankapitals“ ist, sondern die Anforderungen und Standards, die man einem Studium zuschreibt, die es zu erfüllen gilt, dann kann eine Verringerung der Abbrecherquote dann gerechtfertigt und sinnvoll sein, wenn sie auf einer schlechten Qualität der Lehre basiert und eine Verbesserung hier Menschen zum Abschluss führt, die eigentlich können, aber aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen nicht das schaffen, was sie schaffen könnten. Das mag einen Teil der Studierenden betreffen – aber es gibt eben auch einen je nach Studiengang nicht unerheblichen Teil an Studierenden, die schlichtweg den Anforderungen nicht gewachsen sind, was das Studium angeht, bei denen, wie die Ökonomen sagen würden, eine „Fehlallokation“ der Ausbildungsentscheidung vorliegt. Hier testiert der Abbruch lediglich ein Scheitern an den spezifischen Anforderungen des gewählten Studienprogramms. Würde man hier durch subtilen Druck oder explizite Anreize beispielsweise über Finanzierungsregelungen die Abbrecherquoten nach unten fahren, obgleich „eigentlich“ die Studierenden durchgefallen wären, dann hat das vor allem einen Effekt: Die Qualität des gesamten Systems würde sukzessive nach unten gefahren werden. Genau dieser (mögliche) Effekt wird doch generell in der Bildungsdiskussion immer wieder postuliert und heftig debattiert. Beispiel Schule: Wenn die Vorgabe lautet, dass die Schulen die Quote derjenigen, die ohne einen Schulabschluss die Schule verlassen, in den kommenden Jahren zu halbieren haben im Sinne der „Bildungsgerechtigkeit“, dann wird man sehen, dass diese Vorgabe statistisch auch realisiert wird. Das sagt aber erst einmal gar nichts darüber aus, wie man das erreicht hat. Nicht unplausibel und von den Beteiligten auch immer wieder bestätigt: Man senkt die zu überspringenden Hürden so weit ab, dass jeder rüber kommt.

  • Die hier angesprochene grundsätzliche Problematik liegt letztendlich auch der folgenden Meldung aus dem Schulsystem zugrunde: So ungerecht sind Abiturnoten in Deutschland. Da erfahren wir: »So schlossen 2013 in Thüringen 38 Prozent aller Prüflinge mit einer Eins vor dem Komma ab; im angrenzenden Niedersachsen gelang das nicht mal halb so vielen Schülern, nämlich 16 Prozent. Auch die Durchfallerquoten unterscheiden sich stark: In Rheinland-Pfalz scheiterten nur 1,3 Prozent der Kandidaten, in Mecklenburg-Vorpommern fünfmal so viele … In Berlin lag der Anteil der Einserabiture 2013 sogar fast doppelt so hoch wie sieben Jahre zuvor.« Sind die jungen Menschen so unterschiedlich zwischen den Bundesländern? Der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Manfred Prenzel, wird mit diesen Worten zitiert: Bei der Benotung gebe es „Subkulturen“ in einzelnen Schulen und in den Bundesländern. „Die ostdeutschen Bundesländer haben eine ausgeprägte Tradition, Spitzenleistungen zu fördern und zu honorieren“, sagt Prenzel, „andere Länder neigen eher dazu, Abiturienten gleichzumachen, vielleicht aus politischen Gründen.“ Das Problem mit Blick auf den Zugang zu einem Studium: „Wenn die Schulnoten das alleinige Kriterium bei der Vergabe sind, kann dies dazu führen, dass die Schüler aus dem einen Bundesland bessere Karten haben als die aus dem anderen“, so Prenzel. Genau – und zwar möglicherweise unbeschadet der tatsächlichen Leistungsfähigkeit oder der kognitiven Stärke. Zugespitzt formuliert: Pech gehabt, wenn das Kind auf einer anspruchsvollen und strengen Schule war.

2.) Und wie ist es mit der Erhöhung der „Verbleibquote“? Das scheint doch vernünftig vor dem Hintergrund der Investition, die man in die ausländischen Studierenden getätigt hat. Dieser Ansatz folgt einer nationalen Binnenlogik, die aber nur die eine Seite der Medaille darstellt. Und es ist bezeichnend, dass selbst in einem Hochschlug-Report, an dem eine international aufgestellte Unternehmensberatung federführend beteiligt ist, eine Sichtweise vorangetrieben wird, die anscheinend immer noch von einer nationalökonomischen Verengung dergestalt gekennzeichnet ist, dass sie eine vordergründig verständliche Frage stellt: Nützen uns die was direkt? Also hier bei uns, in unseren Unternehmen? Letztendlich steht dahinter ein Modell, das man auch in nachfolgenden Verpflichtungen findet, wenn jemanden die Ausbildung teil- oder vollfinanziert wird und derjenigen sich verpflichten muss, dann x Jahre mindestens in dem Unternehmen zu arbeiten. Kauf dir eine ausländische Fachkraft in spe und du bekommst eine Rendite auf das eingesetzte Kapital.
Aber was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn die, die hier studiert und gelebt haben, wieder zurück gehen in ihre Heimatländer? Eine kurze Illustration, warum das – möglicherweise – weitaus „gewinnbringender“ sein kann als die ausländischen Absolventen nach ihrem Studium hier in irgendein deutsches Unternehmen zu platzieren. An vielen Universitäten mit ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen wurden in den 70er, 80er und 90er Jahren bis heute ausländische Studierende „auf unsere Kosten“ ausgebildet, die dann in ihre Heimatländer zurück gegangen sind. Aber wenn man sich anschaut, wie viele dieser ehemaligen Studierenden, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt und in der Regel auch sehr persönliche Erfahrungen hier haben machen können, heute in entscheidenden Positionen sitzen am anderen Ende der Welt, dann braucht man nicht viel Phantasie und kaum eine Studie, um nachzuvollziehen, dass nicht wenige Aufträge für deutsche Unternehmen aus dieser personalen Beziehung zu Deutschland generiert worden sind und tagtäglich entstehen. Das wäre eine volkswirtschaftliche Perspektive.

Man kann und muss diesen Gedankengang erweitern – beispielsweise auf die aktuelle Debatte über den Umgang mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen und unter denen auch viele sind, die eigentlich kein Asyl bekommen werden (können), die zurück müssten und irgendwann auch zurück gehen werden. Die aber oftmals jahrelang in der Duldungsschleife hängen. Nun kann man restriktiv verfahren wie bislang und die, die nicht aufrücken in den Status eines anerkannten Flüchtlings mit einem Bleiberecht, vom Arbeitsmarkt- und Ausbildungszugang fernzuhalten versuchen, denn da „lohnt“ sich eine Investition doch nicht und darüber hinaus würden hier möglicherweise Anreize gesetzt, dass noch mehr „verlorene“ Fälle kommen. Man könnte aber auch anders an die Sache herangehen und den Ansatz verfolgen, so schnell wie möglich auch in die zu investieren, die nicht auf Dauer hier bleiben werden. Zugang zu Arbeit und gerade bei den jüngeren Flüchtlingen zu einer Ausbildung so schnell wie möglich.

Aber es bleibt natürlich wie immer die Frage nach der Finanzierung. Denn die Attraktivitätszunahme eines Studiums in Deutschland, die sich in den ansteigenden Zahlen der ausländischen Studierenden niederschlägt, hat natürlich auch damit zu tun, dass anders als in so gut wie allen anderen Ländern in Deutschland keine Studiengebühren (mehr) erhoben werden. Nach dem Ausflug der meisten Bundesländer in die Welt der Studiengebühren wurde mittlerweile überall der mehr oder weniger geordnete Rückzug angetreten. Insofern müssen die Hochschulen jetzt wieder vollständig aus Steuermitteln finanziert werden. Hier gibt es jetzt einen Link zu dem Thema ausländische Studierende. Denn die Befürworter von Studiengebühren haben den Ausstieg auf der Erhebung von Studiengebühren nicht verwunden und benutzen die Berichte über die steigende Zahl an ausländischen Studierenden in Deutschland für einen Reanimationsversuch die Gebührenerhebung betreffend. So beispielsweise Katja M. Fels, Christoph M. Schmidt und Mathias G. Sinning in einem Gastbeitrag in der FAZ: Für sozialverträgliche Studiengebühren: Sogar aus Amerika kommen mittlerweile gerne Studenten nach Deutschland – weil das Studium hier kostenlos ist. Doch an deutschen Hochschulen fehlt das Geld. Deshalb gehört das Thema Studiengebühren wieder auf den Tisch. Sie plädieren dafür, »über ein sozialverträglich ausgestaltetes Gebührenmodell zu diskutieren und von anderen Ländern zu lernen« angesichts des erheblichen Mittelbedarfs der Hochschulen und politischer Rahmenbedingungen wie der Schuldenbremse, die dem Hauptfinanzier der Hochschulen, also die Bundesländer, die letzten Spielräume nehmen wird und den Zustand der gravierenden Unterfinanzierung der Hochschulen perpetuieren und vertiefen wird.

Aber sie nennen nicht nur die Finanznot der Hochschulen, sondern beziehen sich – sozialpolitisch hoch relevant – auf ein zweites Hauptargument für ein kostenpflichtiges Studium: Aspekte der „sozialen Gerechtigkeit“ würden dafür sprechen. Das irritiert erst einmal den einen oder anderen. Ihre Argumentation ist eine Zusammenfassung grundlegender Aussagen aus der Bildungsökonomie, also nichts Neues und sie geht so:

»Die Bildungsfinanzierung in Deutschland steht praktisch auf dem Kopf: Der private Kostenanteil bei frühkindlicher Bildung ist höher als die Kostenbeteiligung im Tertiärbereich. Anders ausgedrückt: Eltern müssen pro Jahr für einen Kita-Platz anteilig mehr aus der eigenen Tasche bezahlen als für das spätere Bachelorstudium ihres Nachwuchses … Diese Gewichtung öffentlicher und privater Investitionen im deutschen Bildungssystem steht den gesellschaftlichen Erträgen aus den jeweiligen Bildungsstufen diametral gegenüber. Während die durch internationale Studien belegten positiven gesellschaftlichen Folgen einer frühkindlichen Bildung besonders hoch sind, nicht zuletzt, weil der Zeithorizont, über den diese Bildungsinvestitionen Erträge abwerfen können, noch lang ist, weisen die deutlichen Einkommensunterschiede zwischen Akademikern und Nichtakademikern auf hohe private Erträge von tertiärer Bildung hin. Studierende profitieren also später selbst in hohem Maße von einem abgeschlossenen Studium – die zusätzlichen Gewinne für die Gesellschaft fallen im Vergleich zu denen früherer Ausbildungsphasen hingegen geringer aus.«

Aber die Autoren wissen um die verlorene erste Schlacht um Studiengebühren und postulieren deshalb: Ohne ein Modell, das Studiengebühren und Sozialverträglichkeit erfolgreich kombiniert, wird es keine (neue) Bewegung in dieser Frage geben.

Für die Entwicklung eines sozialverträglich ausgestalteten Studiengebührenmodells in Deutschland sehen die Autoren ein besonders relevantes Vorbild: Australien, denn diesem Land sei ein solches mit nachgelagerten Studiengebühren und dem „Higher Education Contribution Scheme“ (HECS) gelungen. Entwickelt wurde HECS von Bruce Chapman, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Australian National University in Canberra. Dieses Beitragsmodell sieht vor, dass Studiengebühren mittels eines staatlichen Kredits vorfinanziert werden und die Rückzahlung erst nach Eintritt ins Berufsleben beginnt.

Das soziale Element von HECS besteht aus drei Komponenten:

  • Erstens wird dieser Kredit zinslos gewährt, 
  • zweitens greift die Verpflichtung zur Rückerstattung der Studiengebühren erst dann, wenn die Einkünfte des Schuldners eine festgelegte Schwelle überschreiten, 
  • und drittens erfolgt die Rückzahlung in einkommensabhängigen Raten; diese drei Komponenten unterscheiden HECS etwa vom amerikanischen oder britischen Gebührenmodell. 

Eine sofortige und komplette Entrichtung der Studiengebühren vor Beginn des jeweiligen Studienjahres wird mit einem Nachlass von 20 % honoriert. »Die jährlichen Verwaltungskosten des Systems sind mit weniger als 3 Prozent der Einnahmen sehr gering, da die Rückforderung des Darlehens über das australische Finanzamt erfolgt. Dieses berechnet zusätzlich zur Einkommensteuer die Kredittilgungsraten und zieht sie direkt vom Steuerzahler ein. Ein verwaltungstechnisch aufwendiger und somit teurer Umweg über eine staatliche Förderbank, wie er bei der Einführung von Studiengebühren in Deutschland beschritten wurde, ist daher offensichtlich nicht notwendig«, so Fels/Schmidt/Sinning in ihrem Gastbeitrag für die FAZ.

Das alles klingt sympathisch – das australische Studienfinanzierungsmodell macht die Studienfinanzierung elternunabhängig und koppelt sie ans zukünftige Einkommen. Nur wer einen finanziellen Vorteil aus seinem Studium zieht, muss am Ende auch zahlen.

Aber das Wasser für den Wein ist nicht weit – das ist eine alte Diskussion, denn über das australische Modell wurde auch in Deutschland schon vor Jahren intensiv diskutiert, bevor die erste Welle der deutschen Studiengebühren über viele Bundesländer kam. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den 2004 veröffentlichten Artikel Erst lernen, dann zahlen von Jan-Martin Wiarda. Bereits in diesem Artikel wird der Urheber des australischen Modells mit einer kritischen Bewertung zitiert:  „Es ist wahr, die eingenommenen Studiengebühren sind nicht direkt an die Universitäten geflossen. Die Regierung hat sie genutzt, um ihren eigenen Beitrag zu verringern.“ Und Wiarda erläutert:

»Und der Rückzug der Politik war drastisch: Anfangs deckten die Studiengebühren in Australien gerade 10 Prozent der Universitätsbudgets; inzwischen hat die Regierung den Gebührenanteil auf fast 40 Prozent hochgeschraubt und ihre Zuschüsse zurückgefahren. Zwar ist die Zahl der australischen Studenten seit den Achtzigern tatsächlich auf mehr als das Doppelte gestiegen, wie die Regierung anführt, doch hat sich das Zahlenverhältnis zwischen Studenten und Lehrenden verschlechtert, und die Ausgaben pro Student sind real gesunken.«

Wohlgemerkt, 2004.

Und außerdem: Die Zunahme der ausländischen Studierenden kann man – jedenfalls aus Sicht Australiens – nicht als Argument für die Finanzierung über Studiengebühren nach dem durchaus in seinen Grundelementen sozialverträglichen Modell heranziehen: Das Modell kann als Inländer-Modell funktionieren, eignet sich aber nicht als Modell für die Behandlung von ausländischen Studierenden. Und selbst die inländischen Studierenden, die dann nach ihrem Studium ins Ausland gehen, erweisen sich  im australischen System als Problem, denn die große Zahl von Australiern, die ihrem Heimatland nach Abschluss des Studiums den Rücken kehren, um in den USA oder in Großbritannien zu arbeiten, sind von der Rückzahlungspflicht ausgenommen.

Was bleibt ist die Frage, wie wir auf Dauer und nachhaltig die offensichtlich als Ausbildungsstätten immer wichtiger werdenden Hochschulen in Deutschland vernünftig finanzieren können. Und vernünftig meint hier etwas Doppeltes: Zum einen quantitativ ausreichend und zum anderen aber auch unter Berücksichtigung von Verteilungs- und damit immer auch Gerechtigkeitsfragen. Denn die derzeitige Finanzierung über Steuermittel kann vor dem Hintergrund der gegebenen Steuerstruktur in Deutschland durchaus als verteilungspolitisch sehr problematisch angesehen werden.