Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die
Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im
Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der
GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt – und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende
September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske
für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab –
konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll
Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion
… Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen
Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit
der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden
StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und
ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten
könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer
Gegenkandidatur rechnen.«


Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über
die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die
Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im
Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei
der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre
Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand
spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100
Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der
Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer
geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis
Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt
1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser
Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind
sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer
Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die
politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der
katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung
auch meinen Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
vom 8. August 2015).
Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der
Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten
Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber
meinen Beitrag Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die
Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand
der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.
Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden
– und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit
gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört,
beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer
sind die Kinder
versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer
Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem
Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein
will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen – und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber
hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt
werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen
Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser
geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der
Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der
Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum
konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern
legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das
Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen
Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“
vom 10. Juli
2015).
Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an
dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen
Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte
beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der
Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind – nun weitergehen wird, kann
man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat
bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun
folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des
Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn
warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die
Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine
unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher
tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: „Wir werden zu neuen Streikformen greifen“, wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann – „unkonventionelle Streikformen“. Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für
neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen.
Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei
einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu
kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der
berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert
ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“
    Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder
    einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht
    direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten
    mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist
    somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die
    primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden,
    nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der
    Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei
    für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren
    Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im
    Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das
    strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den
    Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten
    Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der
    Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“
    nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige
    Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen
    Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen
    sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern
    (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen
    Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
    im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde),
    weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten
    Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere
    Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern
    werden.

Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen,
die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich
der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der
Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten
Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie
es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut
unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der
Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die
Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon
Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte
Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der
Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat.
Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt,
lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch
auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die
Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und
letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon
deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations-
und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.

Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als
Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre
eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im
Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften
im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse
aller Gewerkschaften.

Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene

War da nicht noch was? Genau, die Schlichtung im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste, in der Öffentlichkeit oftmals fälschlicherweise verkürzt auf „Kita-Streik“, aber es haben nicht nur die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen di Arbeit niedergelegt, sondern auch die Sozialarbeiter beispielsweise in der Jugend- oder Behindertenhilfe, die aber in der öffentlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht vorgekommen sind.

Heute findet in Fulda die vierte bundesweite Streikdelegiertenkonferenz der Gewerkschaft ver.di statt und dort wird der Verdi-Chef Frank Bsirske das Ergebnis der seit Wochen laufenden Mitgliederbefragung über eine Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs vorstellen und mit den Delegierten sicherlich sehr kontrovers diskutieren. Vgl. dazu auch den Artikel Die nächste Runde droht. Alfons Frese schreibt darin: »Die Verdi-Mitglieder haben über den Schlichterspruch im Kita-Streit abgestimmt. Jetzt wird wieder verhandelt – und womöglich gestreikt. Verdi-Chef Bsirske sitzt in der Klemme.«

„In der Klemme“ ist noch nett ausgedrückt. Nicht nur der Streik der Sozial- und Erziehungsdienste – als unbefristeter Arbeitskampf begonnen, nicht um ein paar Prozente im bestehenden Tarifsystem, sondern mit dem Ziel einer strukturellen Aufwertung der Fachkräfte im Tarifgefüge durch eine deutliche Höhergruppierung – ist krachend gescheitert, wenn man den Schlichterspruch, der bei langer Laufzeit nur kosmetische Anhebungen vorsieht und die Sozialarbeiter sogar leer ausgehen lässt, annehmen würde bzw. wird, denn die Führungsspitze von ver.di plädiert genau dafür (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015).

Es muss an dieser Stelle leider auch noch auf die zweite ebenfalls krachende Niederlage in einem aktuellen Arbeitskampf hingewiesen werden, gemeint ist der Streik bei der Deutschen Post DHL, wo man das eigentliche Ziel, eine Verhinderung bzw. wenigstens eine Abschwächung der Auslagerung der Zustellung in Billigtöchter des eigenen Unternehmens (DHL Delivery), nicht ansatzweise erreicht hat und mit einem mager daherkommenden Ergebnis den ebenfalls unbefristet begonnenen Streik abgebrochen hat nach einem Verhandlungstreffen mit dem Konzern in Bad Neuenahr-Ahrweiler (vgl. dazu meinen kritischen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Was steht heute also an in Fulda auf der Streikdelegiertenversammlung?
»Kommt der Ende Juni nach zähen Verhandlungen, Streiks und einer Schlichtung erreichte Tarifkompromiss zum Tragen, oder geht das ganze Theater von vorne los, weil die Erzieherinnen und Sozialarbeiter das Ergebnis ablehnen?«, so Alfons Frese in seinem Artikel.
Und weiter:

»Wenn die Mehrheit zugestimmt hat, ist alles gut. Wenn nicht, hat Bsirske ein Problem. „Dann hängen wir am Fliegenfänger“, heißt es im Umfeld des Verdi-Vorsitzenden.«

Ein leider schönes Bild, bringt es doch das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Gewerkschaft hat sich mit der Zustimmung ihrer Unterhändler zu dem Schlichtungsspruch in eine letztendlich unauflösbare Situation manövriert, sollte die Basis diesem Votum nicht folgen, denn warum sollten die kommunalen Arbeitgeber das Fass neu aufmachen, haben sie doch bereits die – natürlich nur unter „größten Bauchschmerzen“ erfolgte – Annahme des Schlichterspruchs verkündet, zugleich aber darauf hingewiesen, dass mehr nicht drin ist (zugleich steht der Verhandlungsführer der Arbeitgeber tatsächlich vor einer Ablehnungsfront vor allem der ostdeutschen Kommunen, die seinen Bewegungsspielraum gegen Null verengen).

Wenn die Verdi-Mitglieder aber dem Votum der Gewerkschaftsspitze, die offensichtlich die Panik ergriffen hat, nicht folgen, müsste man konsequenterweise eigentlich die abgekühlten Arbeitskampfmaßnahmen nach den Sommerferien wieder aufnehmen.
Die unrühmliche Rolle des Verdi-Vorsitzenden Bsirske verdeutlicht auch dieses Zitat aus dem Artikel von Frese:

„Wir müssen abwägen, ob wir es uns zutrauen können, durch weitere Streikwochen substanziell mehr zu erreichen.“ In dem Fall müsste man aber „gegen die Schlichtungsempfehlung und erhebliche Teile der Öffentlichkeit anstreiken“, warnte der Verdi-Chef seine Basis.

Wer hat denn seine Leute – auch für der Sache gewogene Leute überstürzt daherkommend – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Maßgabe, nur so lasse sich die angestrebte substanzielle Aufwertung der Berufe erreichen? Der heilige Geist oder die Führungsebene der Gewerkschaft? Wobei man an dieser Stelle der Vollständigkeit halber anmerken muss, dass es neben Verdi auch noch die GEW gibt, die ebenfalls gestreikt hat – und die offensichtliche Nicht-Synchronisation des gewerkschaftlichen Vorgehens wäre ein eigenes Thema.

Wenn man in einen unbefristeten Streik geht, dann muss man doch eine klare Vorstellung haben, wie und vor allem womit mindestens man da wieder rauskommen will. Es handelt sich um die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Arbeitskampf und man sollte diese auch so nur verwenden. Die gleiche offensichtliche Nicht-Strategie bei der Post und das gleiche fatale Ergebnis – eine Niederlage.
Wie auch immer die Sache heute ausgeht – unabhängig davon sind die Auswirkungen für die gewerkschaftliche Sache desaströs. Wenn man – wie es die Spitze der Organisation will – dem Schlichterspruch zustimmt, dann werden sich viele Aktive enttäuscht abwenden und sicher werden auch viele, die während des Streiks eingetreten sind, die Gewerkschaft wieder verlassen. Auf der anderen Seite wird eine Wiederaufnahme des Arbeitskampfes tatsächlich sehr schwierig bis unmöglich sein, nachdem man die Bewegung, die sich vor Ort im Streik entfaltet hat, abrupt ab- bzw. ausgebremst hat durch die mehrwöchige Abkühlphase über die Mitgliederbefragung, die natürlich auch deshalb so lange angelegt war, um die Leute am Ende dann doch wieder auf Linie zu bekommen.

Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.

Nachtrag: Mittlerweile sind die Abstimmungsergebnisse der befragten Mitglieder der beiden Gewerkschaften veröffentlicht worden: Ver.di-Basis lehnt Schlichterspruch ab: »Insgesamt lehnten 69,13 Prozent der Ver.di-Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst den Schlichterspruch ab« und von der GEW wird gemeldet: Mitgliederbefragung abgeschlossen: Enttäuschung, Wut und Realismus: »31,2 Prozent der befragten GEW-Mitglieder wollen den Schlichterspruch annehmen, 68,8 Prozent sprechen sich dagegen aus.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Dilemma mit den an sich sehr hohen Ablehnungswerten seitens der GEW-Mitglieder in der Pressemitteilung der Gewerkschaft: »Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt. Gleichzeitig lehnt eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden das Verhandlungsergebnis ab. Jetzt müssen die GEW-Gremien das Ergebnis politisch bewerten und das weitere Vorgehen beraten.« Anders ausgedrückt: Der erforderliche hohe Anteilswert von 75 Prozent für einen Streik wurde nicht erreicht, auf der anderen Seite einen Tarifabschluss auf der Basis von fast 70 Prozent Ablehnung? Es wird spannend bleiben, wie die beiden Gewerkschaften mit dieser Gemengelage umgehen werden.

Bayern legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“

Nicht nur der Bundesrat hat dem Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition zugestimmt, auch der Bundespräsident Joachim Gauck hat entgegen der von durchaus gewichtiger Seite vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken das Gesetz unterschrieben. Damit ist es in Kraft – und wird in Karlsruhe das Bundesverfassungsgericht beschäftigen, den neben anderen hat auch die Lokführergewerkschaft GDL angekündigt, gegen das Gesetz zu klagen. Also die Gewerkschaft, aus deren Streikaktivitäten sich ein erheblicher Teil der Zustimmung bei den Parlamentariern zu diesem Gesetz erklären lässt. Nicht umsonst sprach man ja auch vom „Lex GDL“.

Ironie der Geschichte: Ein Ergebnis der Schlichtung bei der Deutschen Bahn ist, dass der Konzern die GDL auf alle Fälle bis 2020 als eigenständigen Tarifpartner anerkennt. Und es darf und muss an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen werden, dass es sich rückblickend als ein gleichsam historisches Moment erweisen wird, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt worden ist – und das von einer sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin. Nun könnte man naiv meinen, erst einmal ist jetzt Ruhe im Schacht. Aber wie zu erwarten bzw. zu befürchten war, hat sich der Apparat in Bewegung gesetzt und man will nach der zumindest gesetzgeberisch erfolgreichen „Bearbeitung“ der Berufs- und Spartengewerkschaften ein größeres Fass aufmachen. Und das läuft wieder – natürlich – unter einer Legitimationsdecke der Betroffenheit des „normalen Bürgers“, der Bahn fahren muss, um zur Arbeit zu kommen, der den Flieger braucht, um das Business am Laufen zu halten oder der seine Kinder in der Kita zwischenlagert, um überhaupt arbeiten gehen zu können. Es geht um die „Daseinsvorsorge“.

Natürlich gehört die Bahn dazu – aber auch viele andere Bereiche werden unter diesem heutzutage fast schon antiquiert klingenden Begriff subsumiert, dessen Relevanz immer dann besonders spürbar wird, wenn die Daseinsvorsorge nicht funktioniert, wenn beispielsweise der Strom ausfällt oder die Müllabfuhr nicht mehr kommt. Hinter dem Begriff steckt allerdings eine heute sicher vielen nicht mehr geläufige Begriffsgeschichte. Untrennbar verbunden ist die „Daseinsvorsorge“ als Terminus mit dem höchst umstrittenen Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902-1974), der 1933 – wie passend – die Schrift „Der totale Staat“ veröffentlicht hat. Neben Carl Schmitt oder Theodor Maunz gehörte auch Forsthoff zu den Juristen, die versucht haben, dem Nationalsozialismus staatsrechtliche Legitimität zu verschaffen. In seinem 1938 erschienenen Werk „Die Verwaltung als Leistungsträger“ entwickelte er den bis heute verwendeten Begriff der Daseinsvorsorge. Das ursprüngliche Verwaltungsrecht kannte nur die Eingriffsverwaltung, Forsthoff führte das Konzept der Leistungsverwaltung ein. Die in Erfüllung der sozialen Verantwortung erfolgende leistungsgewährende Betätigung des Staates bezeichnete er als Daseinsvorsorge.

Aber zurück in die Gegenwart und in die bayerischen Höhen und Tiefen, denn aus diesem Bundesland kommt jetzt ein Vorstoß, der expressis verbis den Terminus von der Daseinsvorsorge aufgreift (obgleich – das kann hier aber nicht weiter vertieft, sondern nur angerissen werden – mittlerweile die ursprünglich ausschließlich staatsbezogene Zuordnung abgeschüttelt worden ist, nachdem man sich jahrzehntelang der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gewidmet hat). Denn die bayerische Landesregierung fordert für diesen sehr weit ausdehnbaren Bereich (immerhin handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff), dass das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge mit „besonderen Spielregeln“ ausgestaltet werden soll.

Dazu hat Bayern einen Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 294/15 vom 16.06.2015). Daraus einige Auszüge, um die Argumentation der Bayern nachvollziehbar zu machen:

»Der Bundesrat stellt … fest, dass in Wirtschaftsbereichen wie insbesondere der Energie- und Wasserversorgung, der Entsorgung, des Gesundheitswesens, der Feuerwehr, der inneren Sicherheit oder des Verkehrs, auf deren Leistungen die Bevölkerung elementar angewiesen ist (insoweit Bereiche der Daseinsvorsorge) Streiks sich in ihren Auswirkungen von Streiks in anderen Wirtschaftsbereichen deutlich unterscheiden: Denn Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge treffen nicht nur den Arbeitgeber, sondern vor allem die Allgemeinheit, die auf diese Leistungen im täglichen Leben angewiesen ist. Ein Ausweichen auf andere Anbieter ist oft nicht bzw. nicht in der erforderlichen Schnelligkeit möglich. Die seit Monaten andauernden Tarifkonflikte im Schienenverkehr und im Luftverkehr zeigen, welche beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schäden Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge haben können.

Der Bundesrat stellt weiter fest, dass der Staat verpflichtet ist, bestimmte Leistungen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Dieser Verpflichtung wird mit einer Reihe von Sicherstellungsgesetzen … nachgekommen. Im Streikrecht hingegen besteht eine Lücke.

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge so zu regeln, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks nicht gefährdet wird.«

Da wären wir schon bei einer ersten zentralen Fragestellung angekommen. Wie will man denn sicherstellen, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks „nicht gefährdet wird“, ohne dem Streikrecht der Gewerkschaften in diesem Bereich die Zähne zu ziehen?

Denn natürlich – wir haben das sich gerade erst erlebt beispielsweise beim Kita-Streik – ist es in vielen Dienstleistungsbereichen so, dass primär nicht der Arbeitgeber (also z.B. die Kommunen) getroffen wird wie der Inhaber einer Fabrik, dessen Produktion eingestellt wird durch einen Arbeitskampf, sondern die Inanspruchnehmer, neudeutsch auch oft als „Kunden“ bezeichnet, sind diejenigen, die die unmittelbaren Folgen eines Streiks zu spüren bekommen. Das liegt in der Natur der Sache bei diesen zumeist personenbezogenen Dienstleistungen. Würde man also das Petitum der Bayern für bare Münze nehmen, dann wären allenfalls symbolische Arbeitsniederlegungen möglich, nicht aber mehr echte, veritable Streiks.

Natürlich formuliert man das im vorliegenden Entschließungsantrag der Bayern (noch) in einer Soft-Variante, denn es geht jetzt erst einmal darum, den Fuß in diese Tür zu bekommen. Richtig auftreten kann man sie später immer noch.

Folgende gesetzliche Vorgaben werden vorgeschlagen: Ein obligatorisches Schlichtungsverfahren, eine Ankündigungsfrist von vier Werktagen und eine Pflicht zur Vereinbarung zur Mindestversorgung.

Der entscheidende Einstiegspunkt für eine sukzessive Aushöhlung des Streikrechts ist das „obligatorische Schlichtungsverfahren“, das man natürlich, wenn man es denn mal hat, weiter ausbauen kann zu dem, was die grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke in einer Pressemitteilung so charakterisiert: Bayerns Ruf nach Zwangsschlichtung völlig überzogen.

»Mit dem Gesetz zur Tarifeinheit hat Andrea Nahles die Büchse der Pandora geöffnet und Einschränkungen in das Streikrecht salonfähig gemacht. Jetzt nutzt Bayern die Gunst der Stunde und fordert im Bundesrat verbindliche Zwangsschlichtungen in der Daseinsvorsorge. Mit diesem Vorschlag nimmt die CSU das Streikrecht aller Gewerkschaften ins Visier … Bei Arbeitskampfmaßnahmen gibt es ausreichend gerichtliche Kontrollinstanzen, die unverhältnismäßige Streiks unterbinden können. Dies kommt aber selten vor, da die Gewerkschaften in der Regel verantwortungsvoll agieren. Die Hysterie aus Bayern entbehrt also jeglicher Grundlage.«

Nicht nur die Gewerkschaften, auch die Arbeitgeber sollten diesen Vorstoß entschieden zurückweisen. Dazu ein Blick zurück in eine Zeit, in der man in Deutschland Erfahrungen hat machen müssen mit staatlichen Zwangsschlichtungen. Interessanterweise kommt die folgende Rückschau unter der Überschrift Lehren aus der Weimarer Republik vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW):

Im Jahr 1923 wurde eine Schlichtungsverordnung verabschiedet,

»die beim Scheitern der autonomen Schlichtungsversuche die Einsetzung eines paritätischen Schlichtungsausschusses unter Vorsitz eines vom Reichsarbeitsminister bestellten, unabhängigen Schlichters vorsah. Wurde im Rahmen dieses Schlichtungsausschusses der zunächst unverbindliche Schiedsspruch von den Tarifparteien nicht angenommen, wurde dieser auf Antrag einer Partei oder bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses von Amts wegen verbindlich. Diese Schlichtungsverordnung räumte dem Staat demnach eine fast unbegrenzte Interventionsmöglichkeit ein, da sowohl die Einberufung des Schlichtungsausschusses, die Besetzung des Schlichters, und die Entscheidung über die Anwendung der Verbindlichkeitserklärung im Ermessen des Reichsarbeitsministeriums lagen. Diese Zwangsschlichtung wurde in den darauffolgenden Jahren in einem großen Umfang genutzt. So gab es 1924 mehr als 18.000 Schlichtungsverfahren. Von 1923 bis 1932 endeten dabei 4 bis 6,5 Prozent aller Schlichtungsverfahren mit einer Verbindlichkeitserklärung. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass bis zu 30 Prozent aller Arbeiternehmer der Weimarer Republik von solchen Zwangsschlichtungen betroffen waren.«

Die Wirkung im Sinne eines enormen Rückgangs der Streikaktivitäten und -folgen war enorm: »Während von 1919 bis 1924 noch jahresdurchschnittlich 23 Millionen Arbeitstage durch Streik oder Aussperrung verloren gingen, waren dies zwischen 1925 und 1932 (ohne 1928) nur noch 3 Millionen pro Jahr.«

Interessant auch das Umkippen des Instrumentariums zuungunsten der Arbeitnehmerseite:

»Bis 1930 wurde die überwiegende Mehrheit der Verbindlichkeitserklärungen von den Gewerkschaften beantragt, was eine arbeitnehmerfreundliche Tendenz der Schiedssprüche andeutet. Diese Tendenz änderte sich seit dem Ruhreisenstreik von 1928/1929, spätestens aber nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise … In der … Weltwirtschaftskrise schlug die Tendenz der Schiedssprüche dann in Richtung Arbeitgeber aus. Erneut war es die Eisen- und Stahlindustrie, in der die Arbeitgeber – dem politischen Ziel der Regierung Brüning folgend, die Weltwirtschaftskrise durch Preis- und Lohnsenkungen abzufedern – erstmals eine Absenkung der Tariflöhne beschlossen und dies anschließend per Zwangsschlichtung auch durchsetzten. Diesem Schiedsspruch folgten weitere Lohnreduktionen in anderen Industrien. Die Tarifpolitik wurde zum Spielball politischer Interessen.«

Zwangsschlichtungen höhlen die Tarifautonomie, die sowieso schon unter erheblichen Druck ist, weiter aus. Das ist die grundsätzliche Dimension. Darüber hinaus ist der aktuelle Vorstoß der Bayern, die ja nur Forderungen seitens des Wirtschaftsflügels der Union aufgegriffen haben und über den Bundesrat in die politische Maschinerie einzuspeisen versuchen (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle vom 20. April 2015), immer auch zu sehen im Kontext der fundamentalen Veränderung der Streiklandschaft. Also weg von den „klassischen“ Streikakteuren in der Industrie und hin zu den Dienstleistungen, von denen viele angesichts ihrer Bedeutung für die breite Masse der Bevölkerung als daseinsvorsorgerelevante Bereiche definiert werden können.