Mehr als ein rentenpolitischer Sturm im Wasserglas? Die „Lebensleistungsrente“ erhitzt die Gemüter

Was plant die Bundesregierung? Einen erneuten milliardenschweren Griff in die Rentenkasse? Will sie das sozialpolitische Füllhorn über die Rentner auskippen? Auf solche Fragen wird man förmlich gestoßen, wenn man einen Blick auf die Berichterstattung in den Medien wirft: Wirtschaftsflügel der Union protestiert gegen geplante Mindestrente heißt es in der Überschrift eines Artikels. Oder eine Nummer heftiger: Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener. Aber offensichtlich haben nicht nur Teile der Union Probleme: Rentenversicherung sträubt sich gegen Lebensleistungsrente, so ist ein anderer Artikel überschrieben. Auch die Kommentaren bringen sich in Stellung: Von Rente ohne Leistung bis hin zu Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo. Auslöser für diese Reaktionen sind solche Berichte: »Die Regierungsparteien haben sich darauf verständigt, die im Koalitionsvertrag vereinbarte „solidarische Lebensleistungsrente“ für Geringverdiener wie geplant umzusetzen. Der CDU-Rentenexperte Peter Weiß verteidigte am Dienstag in einem Zeitungsinterview die Reformpläne als notwendig, um künftige Akzeptanzprobleme für die gesetzliche Rentenversicherung zu vermeiden. Die Lebensleistungsrente sei „fraglos nötig, weil es immer mehr Menschen gibt, die lange hart gearbeitet haben, im Alter aber trotzdem nicht auf einen Rentenanspruch kommen, der oberhalb der Grundsicherung liegt“, erklärte Weiß gegenüber der „Badischen Zeitung“. Diese Entwicklung sei „gefährlich, weil die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung schwindet“.«

Wie immer hilft an dieser Stelle ein Blick in den Koalitionsvertrag zwischen den Unionsparteien und der SPD aus dem Dezember 2013. Dort findet man auf der Seite 52 die folgende Vereinbarung:

»Lebensleistung in der Rente honorieren
Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen. Wir werden daher eine solidarische Lebensleistungsrente einführen. Die Einführung wird voraussichtlich bis 2017 erfolgen.
Grundsatz dabei ist: Wer langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert war, Beiträge gezahlt hat (40 Jahre) und dennoch im Alter weniger als 30 Rentenentgeltpunkte Alterseinkommen (Einkommensprüfung) erreicht, soll durch eine Aufwertung der erworbenen Rentenentgeltpunkte bessergestellt werden. Dies kommt vor allem Geringverdienern zugute und Menschen, die Angehörige gepflegt oder Kinder erzogen haben. Durch eine Übergangsregelung bis 2023 (in dieser Zeit reichen 35 Beitragsjahre) stellen wir sicher, dass insbesondere die Erwerbsbiografien der Menschen in den neuen Ländern berücksichtigt werden. In allen Fällen werden bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit wie Beitragsjahre behandelt. Danach soll zusätzliche Altersvorsorge als Zugangsvoraussetzung erforderlich sein. In einer zweiten Stufe sollen jene Menschen, die trotz dieser Aufwertung nicht auf eine Rente von 30 Entgeltpunkten kommen, jedoch bedürftig sind (Bedürftigkeitsprüfung), einen weiteren Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30 Entgeltpunkten erhalten. Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln … .«

Das hat man bislang liegen gelassen und nun wurde das erneut aufgerufen. Einige Kommentatoren nehmen die Hinweise auch von Rentenexperten aus der Union, dass ein strukturelles Problem in der gegebenen Rentenversicherung vorhanden ist, was in den vor uns liegenden Jahren an Gewicht gewinnen wird, gar nicht erst auf, sondern ordnen den Vorstoß entweder ein in eine parteipolitische Manöverkritik oder aber in ein gerne gespieltes Instrument, nach dessen Melodie es „den“ Alten heute gut und „den“ Jungen vor allem in Zukunft schlecht gehen wird, wenn man was auf der Leistungsseite zugunsten (eines Teils) der Älteren macht.

Für die erste Kritiklinie steht beispielhaft Karl Doemens, der in seinem Kommentar Lebensleistungsrente ist ein sozialpolitisches Placebo den Ansatz zu einem sozialdemokratischen Projekt verengt, obgleich die ersten Anläufe bereits von der damaligen christdemokratischen Bundesrentenministerin Ursula von der Leyen stammen:

»Deutschland altert. Doch die Anhänger der SPD ergrauen besonders schnell. Bei den drei Landtagswahlen Anfang des Monats erhielt die Partei deutlich mehr Stimmen von den über 60-Jährigen als vom Rest der Bevölkerung. Es ist also kein Wunder, dass Parteichef Sigmar Gabriel der Rentenpolitik zentralen Stellenwert einräumt. Gleich nach der Bundestagswahl 2013 machte er die Rente mit 63 zur Bedingung für eine große Koalition. Nun forciert er in der Flüchtlingskrise eine Mindestrente für Geringverdiener.
Beide Projekte folgen demselben Grundgedanken: Wer lange  gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, der soll es im Alter auf jeden Fall besser haben als derjenige, der kürzer oder gar nicht eingezahlt hat. Als Anerkennung winkt ein früherer Ruhestand oder ein Zuschlag, der das Altersgeld über Sozialhilfe-Niveau hebt.«

Heike Göbel von der FAZ hingegen wirft in ihrem Kommentar Rente ohne Leistung Union und SPD in eine Tonne und ordnet das ganze in eine andere Kritiklinie ein:

»Union und SPD haben Übung darin, Gruppen der Rentner willkürlich besserzustellen. Doch die Lebensleistungsrente hat ein Legitimationsproblem, denn den Alten geht es besser als den Jungen.«

Und wieder werden wir auch hier konfrontiert mit einem bekannten Argumentationsmuster, das darauf abstellt: »… nach wie vor sind nur drei Prozent der Rentner, eine halbe Million, auf den Gang zum Sozialamt angewiesen. In der Gesamtbevölkerung ist die Armutsquote mehr als doppelt so hoch. Armut betrifft in Deutschland nach wie vor mehr junge Leute und alleinerziehende Haushalte, nicht Alte.« Das ist nicht offensichtlich falsch, aber der Fehler liegt in der Generalisierung („die“ Alten, die es eben nicht gibt) und der – wenn überhaupt – nebulösen Hinweise, dass Altersarmut „noch“ kein Problem sei (aber eines werden kann). Dazu beispielsweise bereits den Beitrag Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative vom 10. April 2015.

Ist also die geplante „Lebensleistungsrente“ – nur als Fußnote sei hier notiert, dass in den aktuellen Berichten und Diskussionen das „solidarische“ an dieser neuen Leistung irgendwie schon verloren gegangen ist – eine echte Lösung für ein reales Problem mit eingebauter Wachstumsgarantie?

Man kann die Beantwortung grundsätzlich angehen – oder aber in einem ersten Schritt die aktuelle Protestwelle heranziehen. Bei deren Analyse wird deutlich, was es bedeutet, wenn man zu kurz springt. Schauen wir uns beispielsweise die Argumentation der Kritiker innerhalb der Union an. Dem Artikel Unionsaufstand gegen Mindestrente für Geringverdiener kann man entnehmen:

„Die Mindestrente ist nicht finanzierbar“, sagte etwa Hans Michelbach, Chef der CSU-Wirtschaftsvereinigung. Und der JU-Vorsitzende Paul Ziemiak fordert statt der Lebensleistungsrente gar eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters: „Es kann nicht bei der Rente mit 67 bleiben, wenn wir Altersarmut vermeiden wollen.“

Nicht finanzierbar? Um welche Größenordnungen geht es hier? Man muss an dieser Stelle vorwegschicken, dass sich die Leistungsausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung im vergangenen Jahr auf über 270 Milliarden Euro summiert haben. Dem Artikel Regierung einig: Für neue Rente kann man entnehmen: »Kurz vor Ostern hatte sich die Bundesregierung darauf verständigt, 2017 erstmals 180 Millionen Euro für die Lebensleistungsrente im Bundeshaushalt vorzusehen. Diese Summe soll laut Medienberichten bis 2020 schrittweise auf 700 Millionen Euro jährlich anwachsen.«

Wohlgemerkt – es handelt sich hierbei um Bruttobeträge, nicht um die tatsächlichen Ausgaben, darauf verweist schon der Passus im Koalitionsvertrag von Ende 2013. Dort steht auf der bereits erwähnten Seite 52: »Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln, u.a. dadurch, dass Minderausgaben in der Grundsicherung im Alter als Steuerzuschuss der Rentenversicherung zufließen, und durch die Abschmelzung des Wanderungsausgleichs.«

Anders formuliert: Die Zuschussrente soll nicht aus Beitragsmittel der Rentenversicherung finanziert werden (was ja ein weiterer klassischer Verschiebebahnhof wäre), sondern aus Steuermitteln – aber nicht aus zusätzlichen, sondern vor allem aus solchen, die ansonsten in einem anderen Systemen geflossen wären bzw. fließen werden: aus der Grundsicherung für Ältere (und Erwerbsgeminderte) nach dem SGB XII, die früher von den Kommunen finanziert werden mussten, mittlerweile ist hier der Bund eingestiegen, um die Kommunen zu entlasten.
Noch anders formuliert: Ein nicht geringer Anteil dessen, was hier als „neue“ Leistung verkauft wird, würde sowieso fließen im Rahmen der Grundsicherung für Ältere.

Noch hanebüchener ist die Forderung des Vorsitzenden der Jungen Union zu bewerten, dass man das – abschlagsfreie – Renteneintrittsalter über 67 Jahre anheben und an die – statistische und durchschnittliche – Lebenserwartungsverlängerung koppeln sollte. Wenn man ganz zynisch drauf wäre könnte man diesen Vorschlag so kommentieren: Wenn die Leute nur lange genug gezwungen sind zu arbeiten, dann lässt sich darüber die verbleibende Rentenbezugsdauer deutlich verkürzen und das Rentenproblem gleichsam biologisch gelöst. Aber auch weniger dramatisierend ist der Ansatz nicht logisch, denn der Anstieg der Lebenserwartung ist eben gerade nicht gleichverteilt über alle Menschen, wir haben erhebliche Lebenserwartungsunterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Menschen und das würde im Ergebnis dazu führen, dass die Menschen im unteren und mittleren Bereich schlechter gestellt werden als die im oberen Bereich, die sich zudem noch überdurchschnittlich häufig aus der gesetzlichen Rentenversicherung verabschiedet haben (beispielsweise in die berufsständischen Versorgungswerke oder als Selbständige ganz aus dem System).

Man kann aber auch ganz grundsätzlich an die Sache herangehen und fragen, warum es überhaupt den Problemdruck gibt, der offensichtlich zu dem Ansatz einer solidarischen Lebensleistungsrente geführt hat. Und der Erklärungskern dafür liegt in der Rentenformel begründet, die von ihrer Mechanik her voraussetzungsvoll daherkommt: Eine monatliche Bruttorente von etwas über 1.200 Euro bekommt man, wenn man 45 Jahre lang immer ohne Unterbrechung gearbeitet und Beiträge gezahlt hat – und zwar immer in Höhe des durchschnittlichen Einkommens der Versicherten, also ein Vollzeiteinkommen. Wenn man sich dieses Muster in Erinnerung ruft, dann wird klar, warum Menschen, die viele Jahre oder vielleicht sogar ihr gesamtes Erwerbsleben im Niedriglohnsektor gearbeitet haben oder die – noch schlimmer – viele Jahre in Teilzeit beschäftigt waren, keine Chance haben werden, eine gesetzliche Rente zu bekommen, die über, geschweige denn deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegen wird.

Was aber würde sich mit der geplanten „Lebensleistungsrente“ wirklich ändern? Nicht viel, das kann man an dieser Stelle schon mal vorausschicken. Bereits im Dezember 2013 hatte sich der Rentenexperte Johannes Steffen in seinem Beitrag »Solidarische Lebensleistungsrente«. Rentenniveausenkung konterkariert Armutsvermeidung kritisch mit den Hoffnungen auseinandergesetzt. Er hat sich damals diese Fragestellung genauer angeschaut: Reichen in der Summe 30 Entgeltpunkte aus, um zumindest bei einer typisierenden Betrachtung die Aufstockung der Rente durch Leistungen der Grundsicherung zu vermeiden? Das ernüchternde Ergebnis seiner Analyse, das heute aufgrund der von ihm angesprochenen grundsätzlichen Problematik einer mit den „Rentenreformen“ auf den Weg gebrachten und bis heute nicht korrigierten Absenkung des Rentenniveaus genau so Bestand hat, lautet: »Mit sinkendem Rentenniveau sinkt die Wertigkeit sämtlicher Rentenanwartschaften – immer im Vergleich zur Entwicklung der Löhne. Kaum, dass der »Kampf« gegen Altersarmut 2017 aufgenommen wird, ist er auch schon verloren. Denn ab 2020 reichen 30 EP nicht mehr aus, um den Grundsicherungsbedarf zu decken. Wer unbeirrt an der Rentenniveausenkung festhält, wird bei der Bekämpfung von Altersarmut absehbar scheitern.«

Man kann sich die bescheidene Wirkung der geplanten Lebensleistungsrente verdeutlichen, wenn man sich die aktuellen Beträge anschaut, um die es hier geht bzw. gehen würde:

Vorgesehen ist ja eine Anhebung der Renten auf eine Rente, die 30 Entgeltpunkten entspricht.
Mit aktuellen Werten bedeutet das aufgerundet:
30 EP x 29,21 Euro (= aktueller Rentenwert in Westdeutschland) = 876 Euro brutto => 782 Euro netto (nach Abzug der Sozialbeiträge der Rentner).
Auf diese Summe soll also die Rente aufgestockt werden (bei Bedürftigkeit).
Und wie sieht es in der Grundsicherung aus?
Dort liegt der Bedarf (von dem dann eigenes Einkommen abgezogen wird) für einen alleinstehenden Rentner bei (pauschalierten Unterkunft- und Heizkosten):
404 Euro Regelbedarf + 300 Euro Unterkunftskosten + 70 Euro Heizkosten = 774 Euro
Das wären also überschlägig noch nicht einmal 10 Euro Unterschied, wobei man aber berücksichtigen muss, dass auch der Rentner mit einer niedrigen Rente möglicherweise Anspruch hat auf Wohngeld.
Hinzu kommt: Die Lebensleistungsrente bekommt man nur mit den 40 Versicherten-/30 Beitragsjahren, außerdem würde das nur alle Neurentner betreffen, also alle im Bestand haben davon nichts.

Dafür dieser Aufwand? Denn man muss berücksichtigen, dass mit der Lebensleistungsrente ein Fremdkörper in die gesetzliche Rentenversicherung eingebaut werden würde.
Um diesen Punkt zu verstehen, muss man mal wieder grundsätzlich werden: Wo gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen der Rentenversicherung und der Fürsorge? Auf die Leistungen aus der Rentenversicherung hat der Versicherte einen Rechtsanspruch, unabhängig davon wie und mit wem er lebt. Auf eine Fürsorge-Leistung hat man nur Anspruch, wenn die Bedürftigkeit geprüft wird, wenn also kein vorrangig anzurechnendes Einkommen oder gar Vermögen vorhanden ist.

Was das bedeuten würde? Eine bedürftigkeitsgeprüfte Altersrente verwischt die Grenze zwischen erworbenem Rentenanspruch und Fürsorge. Die Rentenversicherung kennt den Haushaltszusammenhang nicht, müsste diesen also erst einmal abbilden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Eine Bedürftigkeitsprüfung wäre sehr aufwändig (was jeder besichtigen kann bei einem Besuch in einem Jobcenter, die sich damit tagtäglich herumschlagen müssen) und würde Doppelstrukturen in der Verwaltung schaffen. Und nicht zu vergessen: Bedürftigkeitsprüfungen bei Auslandsrenten wären kaum möglich, die spielen aber keine vernachlässigbare Rolle.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Sozialbeirat der Bundesregierung in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2015 zu einem skeptisch-ablehnenden Befund gekommen ist:

»Der Sozialbeirat hat sich zu nicht beitragsgedeckten Rentenaufstockungen in seinen Gutachten der vergangenen Jahre aus guten Gründen stets kritisch geäußert. Das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung (nach dem sich die Höhe der Renten – wie bei einer privaten Versicherung – an den zuvor eingezahlten Beiträgen orientieren) nähme Schaden, wenn am Fürsorgeprinzip orientierte Elemente in die Ermittlung der Rentenhöhe einbezogen würden und der Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und späterer Rentenhöhe geschwächt würde. Wenn ein Teil des Rentenzahlbetrages einer Einkommensanrechnung unterliegt, dürfte die Rente insgesamt in den Augen der Versicherten in die Nähe einer einkommensabhängigen Fürsorgeleistung rücken. Letztlich würden die steuerfinanzierte, fürsorgerisch motivierte Grundsicherung im Alter und die beitragsfinanzierte Rente der Sozialversicherung vermengt. Dadurch – so unterstellt nicht nur der Sozialbeirat – dürfte das Vorhaben negative Auswirkungen auf die Akzeptanz der Rentenversicherung haben, weil dadurch gleich hohe Beitragsleistungen unterschiedlich hohe Rentenansprüche bewirken könnten.«

Aber der Sozialbeirat ist sich auch des folgenden Dilemmas bewusst:

»Allerdings verkennt der Sozialbeirat auch nicht die Problematik, dass langjährige Vorsorge nicht zwingend zu einem höheren Alterseinkommen führt als unterbliebene Vorsorge und dies vielfach als unbefriedigend empfunden wird. Zum einen wird argumentiert, dass die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung darunter leide („warum soll ich einzahlen?“), zum zweiten wird angeführt, dass deshalb private und betriebliche Altersvorsorge unterbleibe („die lohnt sich für mich am Ende nicht“).«

Gibt es aus Sicht des Sozialbeirats einen Lösungsansatz? Wenn, dann findet man ihn hier:

»Zur Überwindung der Problematik, dass lange Jahre der Beitragszahlung nicht immer ausreichenden Schutz vor Altersarmut bieten bzw. nicht immer zu einem höheren Alterseinkommen führen als eine Grundsicherung, bestehen zwei verschiedene Konzepte. Neben der „solidarischen Lebensleistungsrente“, die durch eine Aufwertung erworbener Entgeltpunkte langjährige Vorsorge belohnen will, gibt es den Vorschlag, Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. der privaten und betrieblichen Altersvorsorge nur teilweise auf die Grundsicherung anzurechnen. Während die „solidarische Lebensleistungsrente“ damit an die gesetzliche Rentenversicherung als Leistungssystem anknüpft, setzt das Konzept der Anrechnungsfreibeträge bei der Grundsicherung an.«

Der Sozialbeirat kommt zu dem Ergebnis, dass die „solidarische Lebensleistungsrente“ nur für vergleichsweise wenige Fälle geeignet sei, das Problem zu lösen. »Insofern erscheint der mit der „solidarischen Lebensleistungsrente“ verbundene deutliche Bruch mit dem Äquivalenzprinzip, der zu Akzeptanzverlusten der gesetzlichen Rentenversicherung führen dürfte, unverhältnismäßig, da nur in sehr begrenzter und wenig zielgenauer Weise erreicht wird, dass geleistete Altersvorsorge stets zu einem höheren Alterseinkommen führt.«

Aus dieser Perspektive besteht eine Lösung darin, Alterssicherungsleistungen nur in begrenztem Umfang auf die Grundsicherung im Alter anzurechnen. Aber so ganz überzeugt ist auch der Sozialbeirat in seiner offiziellen Stellungnahme zumindestens nicht, denn es würden neue Abgrenzungsfragen aufgemacht: »So wäre z. B. zu beantworten, warum Alterssicherungsleistungen nur begrenzt, Partnereinkommen dagegen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.« Und hinzu kommt: »Die Einführung von Anrechnungsfreibeträgen für Alterssicherungsleistungen in der Grundsicherung würde – auch aufgrund der damit verbundenen Ausweitung der Zahl der Empfänger – zu höheren Kosten der Grundsicherung führen.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – erneut stoßen wir an dieser Stelle auf die strukturellen Probleme des bestehenden Alterssicherungssystem, das bis zu den erheblichen Rentenkürzungen, die Anfang des Jahrtausends beschlossen wurden, hervorragend funktioniert hat. Wenn immer mehr Menschen nicht die Voraussetzungen erfüllen (können), die man für eine halbwegs armutsfeste Alterssicherung braucht, dann muss man das System ändern.

Das aber würde bedeuten eine Debatte führen zu müssen über die Aufhebung der wirklichen Bremsstellen im System, also die Begrenzung der Finanzierung der Alterssicherung auf das Lohneinkommen aus sozialversichrungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und die auch noch begrenzt durch eine Beitragsbemessungsgrenze, ab deren Überschreiten kein Euro mehr zur Finanzierung der Renten herangezogen wird. Dann die zahlreichen Exklusionen aus dem System der Gesetzlichen Rentenversicherung, angefangen von den Beamten über die berufsständische Versorgungswerke für Ärzte & Co.bis hinzu den Selbständigen.

Und dann müsste man eine halbwegs armutsfeste Mindestrente einführen und die dafür erforderlichen Finanzmittel können nur über eine Umverteilung von oben nach unten mobilisiert werden, wie wir sie beispielsweise aus dem Schweizer System kennen. Alle zahlen ein, abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit, aber die Renten sind nicht nur armutsfest über eine Basisrente, sondern auch über eine Maximalrente, die natürlich so hoch bzw. niedrig dimensioniert ist, dass wir eine deutliche Umverteilung von oben nach unten hätten.

Der föderale Flickenteppich und die Flüchtlinge: Die einen kriegen eine Chipkarte, die anderen müssen zum Amt. Am Gelde hängt’s

Bei welchem Asylpaket sind wir eigentlich mittlerweile angekommen? Auf alle Fälle gab es das Paket I, dessen asylrechtlichen Änderungen seit dem 23.10.2015 in Kraft sind.  Mit dem Asylpaket I wurde Ende 2015 die Möglichkeit eröffnet, für Asylsuchende eine Gesundheitskarte mit eingeschränktem Leistungsanspruch einzuführen.  Die Verantwortung für die Umsetzung wurde in die Hände der Bundesländer gelegt – man ahnt schon, was jetzt kommen muss. Flickenteppich bei Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden – so hat die Bertelsmann-Stiftung eine Bestandsaufnahme der Umsetzung des Ansatzes überschrieben. Bis Ende Februar 2016 wurde die Gesundheitskarte für Asylsuchende in Berlin, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen eingeführt (in NRW allerdings nicht flächendeckend im Land, bislang haben lediglich 20 Kommunen ihre Beteiligung zugesagt). Brandenburg plant die landesweite Implementierung zum 1. April 2016. In den beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg gibt es die Gesundheitskarte schon seit einigen Jahren.

Entstanden ist eine unübersichtliche Landschaft hinsichtlich der Art und Weise, wie die gesundheitliche Versorgung der Asylsuchenden organisiert wird.

Die Erfahrungen in Bremen und Hamburg mit der Gesundheitskarte für Asylbewerber sind nach offiziellen Verlautbarungen positiv. Verwaltungskosten wurden eingespart. Sozial- und Gesundheitsämter seien entlastet worden. Das hat sicher auch die Empfehlung aus Fachkreisen beeinflusst, diesen Ansatz bundesweit einzuführen, so auch die Forderung einer Expertenkommission der Robert Bosch Stiftung (vgl. Themendossier Zugang zu Gesundheitsleistungen und Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge und Asylbewerber). Allerdings handelt es sich bei den beiden Erfolgsmodellen nicht ohne Grund um zwei Stadtstaaten und nicht um Flächenländer, denn in den Stadtstaaten fällt die kommunale und die Landesebene zusammen. Das ist bei den Flächenländern nicht der Fall und hier schlägt jetzt wieder das föderale Finanzierungsdurcheinander zu, das wir auch aus so vielen anderen Bereichen kennen.

Es geht mal wieder um das liebe Geld. Zur Einordnung: Die Kommunen tragen die Kosten für die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in den ersten 15 Monaten bzw. bis zu deren Anerkennung. Allerdings dürfen wir uns das nicht so vorstellen, dass das mit dem vergleichbar ist, was „normale“Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung bekommen. Asylbewerber sind über die Sozialhilfeverwaltung krankenversichert. Vor einem Arztbesuch müssen sie sich vielerorts beim Sozialamt einen Krankenschein abholen. Die Kosten werden nur bei eindeutigen Notversorgungen geleistet.

»Der Krankenschein wird durch das Sozialamt mit Anmerkungen für die ÄrztInnen versehen, dabei werden mitunter äußerst restriktive Auslegungen von § 4 AsylblG abgedruckt. Viele ÄrztInnen zeigen sich in der Praxis angesichts der Gesetzeslage überfordert und verweigern manchmal selbst die Notversorgung oder entscheiden sich bei Zahnschmerzen zur Ziehung des Zahns statt zu einer kostenintensiveren Wurzelbehandlung«, so eine kritische Darstellung von ProAsyl.

Die Begrenzung auf eine Notversorgung ist gesundheitspolitisch problematisch, denn sie führt unter anderem dazu, dass präventive Impfungen wie gegen Tuberkulose oft erst nach Monaten durchgeführt würden – in Gemeinschaftsunterkünften steige so die Ansteckungsgefahr.

Auch die Gesundheitskarte beinhaltet einen eingeschränktem Leistungsanspruch. Flüchtlinge haben bis zu ihrer Anerkennung nur ein Anrecht auf Versorgung im Notfall. Vorsorgeuntersuchungen können nur Schwangere erhalten.

Ursache für die schleppende Einführung ist vor allem der Streit um die Finanzierung. Für die Kosten der Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern müssen die Kommunen aufkommen. Wie bereits erwähnt, eröffnete das Asylpaket I zwar die Möglichkeit, die Gesundheitskarte einzuführen, die Umsetzung wurde aber den Bundesländern übertragen – und der Bund übernahm auch keine Finanzverantwortung. »Der Bund hat es abgelehnt, die Gesundheitskosten für Flüchtlinge komplett zu übernehmen, und auch die Länder belassen die Kosten in der Regel bei den Kommunen«, kann man dem Artikel Gesundheitskarte für Flüchtlinge kommt kaum voran entnehmen.

»Die meisten Länder arbeiten noch an der Umsetzung. Dazu stehen die Länder in Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen, um die Kostenaufteilung und den Leistungsrahmen der medizinischen Versorgung der Asylsuchenden zu definieren. Die im Gesetz auf Bundesebene vorgesehene Rahmenvereinbarung zwischen dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und den kommunalen Spitzenverbänden wird ebenfalls noch verhandelt«, so die Bertelsmann-Stiftung.

Da der Bund sich einer Finanzierung verweigert, bleibt die Zuständigkeit bei den Kommunen und die Bundesländer haben sicher kein Interesse, durch eine Übernahme der Kosten die Kommunen zu entlasten. Die Kommunen hingegen stehen vor der Situation, dass ihnen einerseits Kostenersparnisse in ihren Verwaltungen in Aussicht gestellt werden, weil die Betroffenen nicht mehr wegen jeder Einzelleistung im Amt vorstellig werden müssen. Aber das kostet natürlich, denn die Krankenkassen lassen sich das natürlich vergüten, wenn sie das für die Kommunen abwickeln. Eine Richtgröße in diesem Kontext sind (mindestens) zehn Euro Verwaltungsgebühr oder deren Ausgestaltung als prozentualer Abzug, z.B. 8 Prozent.

Im Saarland will die Regierung die Karte ermöglichen, „aber sämtliche Landkreise weigern sich, sie einzuführen“, heißt es. Und in Rheinland-Pfalz ist man schon weiter (das Gesundheitsministerium des Landes hatte Mitte Januar mit den gesetzlichen Krankenkassen eine Rahmenvereinbarung zur Einführung einer Gesundheitskarte abgeschlossen), aber auch hier verweigert sich die kommunale Ebene: »Der Plan der rot-grünen Landesregierung für eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge ist offenbar gescheitert. Nach SWR-Recherchen hat bis jetzt keine einzige Kommune die Karte eingeführt. Der Grund sind die hohen Verwaltungskosten«, heißt es in dem Artikel Wohl keine Gesundheitskarte für Flüchtlinge des SWR.

Dabei geht es ja nicht nur um die Gesundheitskarte (und damit verbunden die Abwicklung über die Krankenkassen), sondern es sollte auch darum gehen, was da drin steckt. Die Kommission der Robert Bosch Stiftung hat für eine bundeseinheitliche Grundversorgung der Flüchtlinge plädiert. Das würde dann aber auch ein Bundesfinanzierung konsequenterweise zur Folge haben, was eine erhebliche Entlastung der Kommunen zur Folge hätte.

Darüber hinaus haben Sozialverbände zudem wiederholt gefordert, auch Asylsuchenden das Leistungsspektrum regulär Krankenversicherter zu eröffnen. Das wurde von der Politik bislang mehrheitlich abgelehnt, wobei schnell klar wird, dass es hier nicht nur um die Abwehr höherer Ausgaben geht, die mit einem solchen Vorschlag verbunden wären, sondern wie bei so vielen anderen Fragen hat das eine normative Dimension:

»So erklärten Bayern und Sachsen, keine Gesundheitskarte einzuführen, auch weil sie darin einen Anreiz für die Flucht nach Deutschland sehen.«

Hier geht es also wieder um die abschreckende Wirkung einer möglichst restriktiven Ausgestaltung der Leistungen, ein Gedanke, der für das deutsche Asylrecht seit langem prägend war. Aber ob Menschen über das Mittelmeer kommen, weil es in Deutschland die Gesundheitskarte gibt, nun ja.

Richter als Sozialpolitiker. Von der Menschenwürdigkeit eines geschrumpften Existenzminimums und dem Elternunterhalt in der Sozialhilfe

Es sollte unstrittig sein, dass Sozialpolitik in Deutschland in einem nicht geringen Umfang hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung Richterrecht ist. Denn die Sozial- und Verwaltungsgerichte fällen eine Vielzahl an Urteilen, die für die Betroffenen wie auch für die Institutionen des Sozialstaats von großer Bedeutung und oftmals mit dem Bild des Daumen rauf oder eben runter gut zu beschreiben sind.

Zwei neue Entscheidungen höchster Gerichte in unserem Land mögen das verdeutlichen. Zum einen geht es um die im wahrsten Sinne existenzielle Frage, ob das Schrumpfen des Existenzminimums und damit ein Teil-Existenzminimum (noch) zulässig ist – eine Frage, die ja auch bei einem der großen Konflikte innerhalb der Grundsicherung eine zentrale Rolle spielt und in der vor uns liegenden Zeit auch vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden sein wird, also bei den Sanktionen im SGB II-System. Und die andere neue Entscheidung betrifft die angesichts der rein quantitativen Entwicklung absehbar an Bedeutung gewinnenden Frage nach dem Elternunterhalt im Rahmen der Hilfe zur Pflege, die nach SGB XII und damit aus Mitteln der kommunal zu finanzierenden Sozialhilfe gewährt werden kann bzw. muss. Beiden Fällen gemein ist, dass man konkreten Menschen etwas weg nehmen will, wogegen die sich zur Wehr gesetzt haben. Mit unterschiedlichem Ausgang. Zugleich ist das alles ein kleines Lehrstück, mit welchen konkreten Lebenslagen sich Sozialpolitik beschäftigen muss und wie stark – wenn auch gerne unter den Teppich gekehrt – die normative Dimension höchstrichterlicher Entscheidungen daherkommt.

Die erste hier zu besprechende Entscheidung erreicht uns aus dem Bundessozialgericht (BSG). Das hat die Pressemitteilung zu der Entscheidung (Az.: B 14 AS 20/15 R) überschrieben mit Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar! Mit einem Ausrufezeichen ist die Überschrift versehen, was in einer Gerichtsmitteilung einem wahren Gefühlsausbruch nahekommt. Es geht hier offensichtlich um ein wichtiges Thema, folgt man solchen Überschriften: Jobcenter dürften Hartz IV jahrelang kürzen.

Hartz IV? Ist das nicht das von Amts wegen gewährte Existenzminimum? Wie und warum kann man das jahrelang kürzen? Einen ersten Hinweis bringt zumindest der Hinweis unter dieser Überschrift: 400 Euro Hartz IV, 120 Euro Abzug – das ist rechtens: »Wer bei Hartz IV betrügt, muss mit hohen Strafen leben. Einem Mann wurde drei Jahre lang das Geld vom Staat um 30 Prozent gekürzt. Das Bundessozialgericht entschied nun: Das ist rechtens.« In diesem Artikel finden wir auch eine verständliche Zusammenfassung des Sachverhalts. der zu dem Verfahren vor dem BSG geführt hat:

»Geklagt hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Osnabrück. Der 1961 geborene Mann steht seit 2005 im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Im Jahr 2007 hatte er allerdings Einkünfte verschwiegen, so dass er eigentlich kein Hartz IV hätte beanspruchen dürfen. Das Amtsgericht Osnabrück verurteilte den Mann deshalb rechtskräftig wegen Betruges. Das Jobcenter forderte die überzahlte Hartz-IV-Leistung zurück, insgesamt 8.352 Euro. Da der Arbeitslose über keine Mittel verfügte, sollte er drei Jahre lang den Betrag abstottern. Jeden Monat wurde ihm sein Arbeitslosengeld II um 30 Prozent gekürzt. Von monatlich 404 Euro Hartz IV sollte er 121,20 Euro abzahlen.«

Hier taucht sie auf, die zum einen konkrete Frage des vorliegenden Falls, zum anderen aber weit darüber hinausreichend, denn das Begehren des Klägers, also des Arbeitslosen, ist durchaus relevant für andere Fallkonstellationen im Grundsicherungssystem, vor allem bei den Sanktionen.
»Der Arbeitslose hielt das für rechtswidrig. Er habe zwar in der Vergangenheit betrogen, trotzdem stehe ihm ein menschenwürdiges Existenzminimum zu.«

Und was sagt das BSG dazu?

»Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist.«

Man kann es auch so zusammenfassen:

»Das Bundessozialgericht indes hält die gesetzlichen Bestimmungen, wonach das Jobcenter im Falle eines Erstattungsanspruchs das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent kürzen darf, mit dem Grundgesetz für vereinbar. Die Behörde habe einen Erstattungsanspruch, und es liege in der Eigenverantwortung des Hartz-IV-Beziehers, die Kürzung zu vermeiden.«

An dieser Stelle sind wir an dem entscheidenden Punkt angelangt: Wenn der normale Hartz IV-Satz der Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums dient, wie kann man dann eine über Jahre vollzogene Kürzung ebendieses Existenzminimums rechtfertigen? Dazu das BSG:

»Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen … mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.«

Anders ausgedrückt: Der Arbeitslose könne in besonderen Bedarfslagen beim Jobcenter einen Zuschuss beantragen., also ein Darlehen, das er oder sie natürlich zurückzahlen muss.

Es geht hier nicht um eine Akzeptanz oder gar Rechtfertigung des in diesem konkreten Fall vorliegenden Betrugs seitens des Leistungsempfängers. Sondern um die Folgen hinsichtlich des Existenzminimums in Form einer über lange Zeit laufenden Absenkung auf ein Sub-Existenzminimums, denn auch der Verweis des Gerichts auf die Darlehens-Inanspruchnahme führt ja im Ergebnis dazu, dass man diese Beträge auch zurückzahlen muss, was dann den Abzug auf Dauer stellen würde.

Der über den Einzelfall hinausreichende Aspekt ist darin zu sehen, dass diese Entscheidung auch ausstrahlen wird auf das generelle Thema, inwieweit Sanktionen und die daraus abgeleitete Kürzung des Hartz IV-Satzes rechtmäßig sind. Damit beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht und das wird in den nächsten Monaten dazu aufgrund der Vorlage durch ein Sozialgericht eine Grundsatzentscheidung treffen müssen (vgl. dazu den Beitrag Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden vom 27. Mai 2015)

Im Hartz IV-System geht es um existenzielle Beträge. Um Geld für so etwas geht es auch im zweiten Fallbeispiel, das aus der Welt der Pflege und hierbei vor allem aus den Kelleretagen der Pflegefinanzierung stammt. Rabatt nur im Ausnahmefall, so hat Christian Rath seinen Artikel dazu überschrieben. Und er liefert uns gleich eine Beschreibung des Sachverhalts, der dem Verfahren zugrunde lag:

»Das Verfahren hatte ein heute 74-jähriger Mann aus Berlin ausgelöst, der seit 2010 in seiner Wohnung von einem Pflegedienst betreut wird. Rente und Pflegeversicherung reichten nich, um die erhaltene Pflege zu finanzieren. Die restlichen Kosten übernahm das Sozialamt, das versuchte, sich das Geld vom Sohn des alten Mannes zurückzuholen. Dieser zahlte aber nicht, weil er sich nicht leistungsfähig genug fühlte. Der Sohn, ein 44-jähriger Softwareentwickler, lebt inzwischen in Bayern. Mit seiner Freundin, einer Physiotherapeutin, hat er eine siebenjährige nichteheliche Tochter. Der Programmierer verdient rund 3.300 Euro monatlich. Nach Abzug von Selbstbehalt, beruflichen Aufwendungen, Altersvorsorge und Unterhalt für die Tochter verurteilte ihn das Oberlandesgericht Nürnberg zur Zahlung von 270 Euro monatlich an die Berliner Sozialbehörde.«

Dagegen ist der Betroffene zu Felde gezogen. Er beklagt eine Ungleichbehandlung von Ehegatten und nichtehelichen Paaren.

»Da er nicht verheiratet ist, war bei ihm ein Selbstbehalt von heute nur 1.800 Euro pro Monat berücksichtigt worden. Zusammen mit einer Ehefrau hätte er jedoch einen Familienselbstbehalt von 3.240 Euro geltend machen können – und hätte dem Sozialamt nichts zahlen müssen. Sein Anwalt Thomas Plehwe berief sich auf den Schutz der Familie im Grundgesetz, der auch für nichteheliche Familien gelte.«

Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass der Bundesgerichtshof (BGH) der Trennung zwischen ehelich und eben nicht-ehelich folgt und dementsprechend urteilt, dass der nicht-ehelich gebundene Mensch halt Pech hat, denn er hätte sich ja ehelich binden können. In der Pressemitteilung des BGH scheint das auch so zu sein:

»Zwar kann sich der Unterhaltspflichtige, auch wenn er mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebt und für den gemeinsamen Unterhalt aufkommt, nicht auf einen Familienselbstbehalt berufen.«

Also grundsätzlich gilt: Den Familienselbstbehalt gebe es nur für Ehegatten, weil auch nur diese rechtlich füreinander einstehen müssen, so der Vorsitzende Richter Hans-Joachim Dose. Wenn aber ein „zwar“ auftaucht, dann muss es auch noch etwas anderes geben. So auch in diesem Fall, denn im nächsten Satz erfahren wir:

»Eine eventuelle Unterhaltspflicht ist allerdings als sonstige Verpflichtung im Sinne von § 1603 Abs. 1 BGB vorrangig zu berücksichtigen.«

Anders formuliert: »Im konkreten Fall könne der Softwareentwickler aber immerhin einen Unterhaltsanspruch seiner Partnerin geltend machen, so der BGH. Die Mutter verzichte ja teilweise auf eigene Berufstätigkeit, um das gemeinsame Kind zu betreuen, wenn es aus der Schule kommt«, so Christian Rath in seinem Artikel.

Nun wird der eine oder andere Eingeweihte einwerfen, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt normalerweise nur bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes gilt.
Normalerweise. Hier die Argumentation des BGH:

»Ist das gemeinsame Kind, wie hier, älter als drei Jahre, steht dem betreuenden Elternteil nach § 1615 l Abs. 2 Satz 4 BGB dann weiterhin ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt zu, wenn dies der Billigkeit entspricht. Dabei sind kind- und elternbezogene Gründe zu berücksichtigen. Da hier keine kindbezogenen Verlängerungsgründe festgestellt sind, kamen lediglich elternbezogene Gründe in Betracht. Solche können bei zusammenlebenden Eltern auch darin liegen, dass ein Elternteil das gemeinsame Kind im Einvernehmen mit dem anderen Elternteil persönlich betreut und deshalb voll oder teilweise an einer Erwerbstätigkeit gehindert ist.«

Diese Gestaltung des familiären Zusammenlebens kann, so der BGH, auch dem Sozialamt als Leistungsminderung entgegengehalten werden. Die vom BGH aufgezeigte und von den Vorinstanzen übersehene Lösung dürfte zwar seine Zahlungspflicht gegenüber dem Sozialamt nicht beseitigen, aber doch reduzieren, so die zutreffende Zusammenfassung von Christian Rath.

Man könnte jetzt natürlich die Folge-Frage aufwerfen, was das eigentlich bedeutet im Kontext der unterschiedlichen Pflichten und Rechte, die mit dem Status „ehelich“ oder eben „nicht-ehelich“ verbunden sind. Das ist ja auch ein grundsätzliches Thema beispielsweise im Familienrecht.

Ganz offensichtlich wird mit diesem Urteil seitens des BGH eine bisherige Trennlinie niedergerissen und eine faktische Gleichstellung statuiert. An diesem Beispiel kann man die mittel- und langfristig durchaus wirksame Gestaltungskraft richterlicher Entscheidungen erkennen, die zum einen der wahrgenommenen Lebenswirklichkeit in Verbindung mit dem Schutz von Wahlfreiheit entspricht, zum anderen aber auch systematische Fragen an die Sinnhaftigkeit der asymmetrisch ausgestalteten Rechte und Pflichten zwischen Ehe und nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft aufwirft und zuspitzen wird.