Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in „Telefoninkasso“ schult. Und Normalbürger, die Sozialrichter spielen dürfen

Zugegeben – die Überschrift zu diesem Blog-Beitrag ist nicht twitter-fähig. Zu viele Zeichen. Aber kürzer geht’s eben nicht. Nicht bei den Themen, die hier angerissen werden müssen. Es geht um einen Blick in die unteren Etagen des Sozialstaats.

Beginnen wir mit den handfesten materiellen Sorgen eines größer werdenden Teils der Arbeitslosen: »Im vergangenen Jahr hatte nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes jeder dritte Erwerbslose – exakt waren es 34,6 Prozent – finanzielle Schwierigkeiten, mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit einzunehmen. Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Betroffenen um 48 000 auf 1,07 Millionen«, so der Artikel Viele Arbeitslose können sich kein Essen leisten. »Jeder fünfte Erwerbslose (19,1 Prozent) hat sogar Probleme, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu begleichen. Vom Jahr 2013 zum vergangenen Jahr erhöhte sich die Zahl dieser Menschen um 62 000 auf 590 000. Genau 18,4 Prozent der Arbeitslosen konnten aus finanziellen Gründen ihre Wohnung nicht ausreichend heizen.« 2014 haben 30,9 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland unter „erheblicher materieller Entbehrung“ gelitten, wie das die Statistiker ausdrücken. Datengrundlage für diese Informationen ist die Leben in Europa (EU-SILC)-Befragung, die in allen EU-Staaten durchgeführt wird.

Ganz offensichtlich reicht selbst die Gewährleistung des „Sozia-kulturellen Existenzminimums“ in Form der Hartz IV-Leistungen nicht aus, um diese „erheblichen materiellen Entbehrungen“ zu vermeiden. Über die Angemessenheit der Höhe der Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) tobt seit langem eine intensive Debatte, viele Kritiker bemängeln, dass der Regelsatz – derzeit 399 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person – zu niedrig bemessen sei.
Unabhängig von dieser Auseinandersetzung sollte man meinen, dass wenigstens der karge Regelsatz sicher ist für die Betroffenen. Dem ist aber nicht so – nicht nur im Fall der Sanktionierung des Leistungsempfängers, weil er irgendwelche Pflichten verletzt hat, die das Jobcenter ihm oder ihr auferlegt hat, sondern auch, weil die Jobcenter einen ganz eigenen Status haben als Gläubiger, der sie von anderen Gläubigern unterscheidet: Eigentlich „genießen“ Menschen, die so wenig haben, dass sie Hartz IV-Leistungen beziehen, in unserem Land Pfändungsschutz. »Das Minimum darf ihnen keiner nehmen. Doch es gibt einen Gläubiger in Deutschland, für den diese Regel nicht gilt: die Bundesagentur für Arbeit. Um Darlehen und überschüssige Aufstockungen wieder einzutreiben, darf sie bis zu 30 Prozent des Minimalbetrags abziehen – auch während der Betroffene noch arbeitslos ist«, schreibt Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Armut treiben.  Sie illustriert das an einem Fallbeispiel:

»(Julia) Meier, die eigentlich anders heißt, lebt seit ihrem 41. Lebensjahr immer wieder von Hartz-IV. Sie ist jetzt 52. In einer Kleinstadt in Süddeutschland, in der es Fachwerkhäuser gibt und eine Bimmelbahn, zog sie zwei Söhne alleine groß. Sie jobbt, wenn sie Jobs findet und wenn es die Rückenschmerzen zulassen. Dennoch erreicht sie schon seit Jahren das Existenzminimum nicht mehr. Meist lebt sie von 50 Euro weniger. Der Grund: Julia Meier hat Schulden … 100 Euro für die Stromnachzahlung, 1000 Euro für die Mietkaution oder 300 Euro für Möbel – Julia Meier muss bei jeder größeren Ausgabe ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Erspartes hat sie nicht. Wenn sie im Callcenter arbeitet, wo der Stundenlohn nicht zum Leben reicht, hilft das Amt aus. Doch auch dieses sogenannte Aufstocken hat häufig ein Nachspiel: Wenn Meier mehr verdient, als sie am Monatsanfang geschätzt hat, erhält sie nach einiger Zeit einen Brief: Das Jobcenter fordert sein Geld zurück. Mittlerweile hat sie viel Post von dieser Sorte bekommen. „Ich habe den Überblick verloren“, sagt sie. Das Amt dagegen addiert die Rechnungen auf. Pro Darlehen oder Rückzahlung behält es bisher zehn Prozent des Regelsatzes ein und begleicht dabei bis zu drei Forderungen gleichzeitig. Ist eine Schuld getilgt, folgt die nächste.«

Besonders problematisch ist die Situation für viele Aufstocker, die stundenweise arbeiten und deren Einkommen stark schwanken und bei denen oft Schulden entstehen:

»Wenn die Jobcenter ihnen Rückforderungen schicken, ist das Geld meist schon verbraucht, kritisiert Michaela Hofmann von der Caritas. „Die Leute können nichts ansparen“, sagt sie. Gerade bei Langzeitarbeitslosen sei das Geld durch dauerhafte Abzüge so knapp, dass sie immer wieder neue Darlehen aufnehmen müssten, um Stromrechnungen oder eine neue Waschmaschine zu bezahlen. Frieder Claus, der elf Erwerbslosen-Beratungsstellen der Diakonie im Landkreis Esslingen betreut, sagt, dass etwa die Hälfte seiner Klienten weniger Geld bekommt, als es der Hartz-IV-Satz vorsieht.«

Nachdem sich die Bundesländer in der vergangenen Woche beim Bundesarbeitsministerium über 30-Prozent-Abzüge allein durch Darlehensrückzahlungen an das Jobcenter beschwert hatten, will Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) der Bundesagentur für Arbeit diese Praxis nun untersagen. Die fachliche Weisung werde jetzt „entsprechend angepasst“, so wird eine Sprecherin des Ministeriums in dem Artikel zitiert. Nur – die davon nicht betroffenen Aufstocker-Rückzahlungen werden auch in Zukunft die Bezüge vieler Hartz-IV-Empfänger reduzieren.
Die damit einhergehenden Folgen sind sogar gravierender als im Fall der Sanktionierung: Sanktionen sind maximal drei Monate gültig. Die Rückzahlungen dagegen bleiben bestehen, bis die Rechnung beglichen ist.

Und die Bundesagentur für Arbeit setzt zudem offensichtlich auf eine „Professionalisierung“ hin zu einem „modernen Inkasso-Unternehmen“:

»Um säumigen Schuldnern beizukommen, setzt die Bundesagentur … auf ein neues „Fachkonzept Inkasso“, mit dem sie künftig einen „besseren Einziehungserfolg“ erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen – auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen.«

Und es kommt noch besser:

»Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden.«

 Offensichtlich eine ganz neue Variante des Public-Private-Partnership.

Und was ist mit der Julia Meier? Die gerät jetzt in einen ganz eigenen Teufelskreis:

Seit knapp drei Jahren ist sie im Insolvenzverfahren. Dabei muss sie sich auf ein geringes Einkommen beschränken und weitere Kredite könnten ihr Verfahren scheitern lassen. Für ein neues Bett und einen Kühlschrank hat sie beim Jobcenter deshalb Beihilfe beantragt. „Da Sie diese Gegenstände schon einmal besessen haben, ist eine Bewilligung als Beihilfe (…) nicht mehr möglich“, antwortet ihr das Amt. Aber: „Es besteht die Möglichkeit, ein Darlehen zu beantragen.“

Vor diesem Hintergrund ist es sicher nicht überraschend, dass immer wieder von ganz unterschiedlichen Akteuren eine Anhebung des Regelsatzes im Grundsicherungssystem gefordert wird. Finden diese Forderungen eine Entsprechung in der Wahrnehmung der „Normalbürger“?

Mit dieser Frage hat sich auch die Wissenschaft beschäftigt und herausgekommen ist dieser Beitrag:

Katharina Hörstermann und Hans-Jürgen Andreß: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ Eine Vignettenanalyse zur Bestimmung eines Einkommenmindestbedarfs, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2015, S. 171-198

Eine Zusammenfassung findet man in dem Artikel Die sind zu mehreren, da sparen sie doch! von Gerald Wagner. Aus der Forschung ist bekannt, »dass es Befragten meist schwerfällt, bei allgemeinen Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit zu konsistenten Urteilen zu kommen. Aufschlussreicher ist es, die Menschen mit konkreten Beispielen zu konfrontieren. Die Soziologie greift dazu auf Vignettenanalysen zurück. Dabei werden Versuchsteilnehmern hypothetische Situationsbeschreibungen (sogenannte Vignetten) vorgelegt, die eine Testperson gewissermaßen in die Rolle des Gesetzgebers versetzen.«

»In einer neuen Studie wurden 410 Teilnehmer gefragt, was Hilfsbedürftigkeit eigentlich ausmacht und wie viel sie den Steuerzahler kosten soll. Ein kurzer Text beschrieb dazu die Lage eines Hartz IV-Empfängers, also sein Alter, die Gründe für seine Erwerbslosigkeit und seinen Haushalt mit den darin lebenden Personen. Seien Sie kreativ, sagte die Studie, spielen sie Sozialrichter! Wie viel würden Sie den Betroffenen bewilligen?«

Die Ergebnisses dieses Experiments überraschen und zeigen, dass sich die Vorstellungen der Bevölkerung bezüglich der Bedürfnisse sozial Schwacher von denen des Gesetzgebers doch beträchtlich unterscheiden – selbst dann, wenn der Vignette der tatsächliche Arbeitslosengeld-II-Regelsatz als Anhaltspunkt der Urteilsfindung beigefügt wurde, wie Wagner anmerkt.
Hier eine Zusammenfassung aus den Ergebnissen:

»Die Studie bot acht verschiedene Haushalte an, von einem Alleinstehenden bis zur fünfköpfigen Familie mit drei Kindern. Mit der Ausnahme des Einpersonenhaushalts, dem die Befragten im Durchschnitt mehr Geld als den aktuellen Regelsatz bewilligten, bekamen alle anderen Haushalte von den Teilnehmern weniger Mittel zugesprochen – zum Teil drastisch weniger: So nannte die Studie als amtlichen Regelsatz für die fünfköpfige Familie monatlich 1455 Euro (ohne Miet- und Heizkosten). Die Probanden kürzten diese Mittel im Durchschnitt um fast ein Drittel.«

Das ist heftig.

Zugleich zeigen sich deutlich wertende Differenzierungen: So führte in den Experimenten fehlendes Engagement bei der Arbeitssuche zu deutlichen Kürzungen der zugewiesenen Mitteln. Umgekehrt neigten die Teilnehmer dazu, Älteren grundsätzlich mehr zu bewilligen als Jüngeren.

Es bleibt natürlich eine wichtige Frage: Warum fiel die absolute Höhe der von den Teilnehmern als gerecht angesehenen Hilfe so niedrig aus, gerade bei größeren Haushalten?
Die Studienautoren vermuten mangelndes Wissen bei den Befragten: Die Probanden könnten den Bedarf gerade großer Haushalte einfach nicht richtig einschätzen, da die Mehrheit der Bevölkerung in kleinen Haushalten oder gleich allein lebt.
Gerald Wagner zweifelt an diesem Interpretationsansatz: »Dagegen spricht …, dass sich die Studienteilnehmer auch dann sozusagen geizig gaben, wenn man ihnen den realen Satz des Arbeitslosengeldes für den Vignetten-Haushalt beifügte. Das spräche für eine andere Erklärung: Die Befragten scheinen sich darin einig, dass große Haushalte auch zu Einsparungen führen könnten.«

Wir können an dieser Stelle nur spekulieren. Offensichtlich gibt es so etwas wie eine „moralische Ökonomie“ mit Blick auf die als angemessen empfundenen Sozialleistungen. Zumindest die Bedarfsgemeinschaften mit mehreren Personen, also in aller Regel mehreren Kindern, können in diesem Fall froh sein, dass der Gesetzgeber und nicht „Volkes Stimme“ die Höhe der Leistungen festgelegt hat.

„Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Flüchtlinge, Jobcenter und der Arbeitsmarkt

Nach Ansicht der Ökonomen wird 2016 die lange Phase sinkender Erwerbslosigkeit enden. Das liegt vor allem an den hohen Flüchtlingszahlen, so Stefan Sauer in seinem Artikel mit der harten Überschrift Konkurrenz um Billigjobs nimmt wegen Flüchtlingen zu. Der erwartete Anstieg resultiert vor allem aus den vielen Flüchtlingen, die meist ohne Sprachkenntnisse und kaum kompatibler Berufsausbildung zunächst in der Arbeitslosigkeit landen. Höchstens zehn Prozent der anerkannten Asylbewerber im Erwerbsalter werden in kurzer Zeit eine Stelle finden,  prognostizieren Arbeitsmarktexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Instituts  für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), so Sauer. Daran anknüpfend hat sich eine – typische – Ökonomen-Debatte entwickelt, die vor allem von Befürwortern einer neuen Deregulierungswelle vorangetrieben wird: »Ihr Kernargument lautet: Nur wenn gesetzliche Hürden abgebaut werden, haben Flüchtlinge Aussichten auf baldige Einstellung.« Da verwundert es nicht, dass in diesem Kontext sogleich eine der letzten Regulierungsschritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt – also die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 – teilweise bzw. auch ganz wieder zur Disposition gestellt wird.

Der Deutsche Landkreistag regte unlängst an, in den ersten drei Monaten nach der Anstellung sollten Firmen Flüchtlinge weniger als die gesetzlich vorgeschrieben 8,50 Euro pro Stunde zahlen dürfen (vgl. Landkreistag fordert zeitlich begrenzte Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge). Der Wirtschaftsrat der CDU sprach sich ebenfalls für befristete Ausnahmen beim Mindestlohn aus. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) plädiert dafür, den Mindestlohn in Einstiegs- und Qualifizierungsphasen auszusetzen (vgl. Haseloff fordert Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge).

Am konsequentesten argumentiert mal wieder Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut in München. Schon am 14. September ließ er uns wissen: Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit. Er bleibt in der klassischen Denkweise, die schon im Vorfeld des Mindestlohngesetzes dazu geführt hat, dass er und sein Institut vehement gegen den gesetzlichen Mindestlohn argumentiert haben. Man bewegt sich im idealtypischen Modell von Angebot und Nachfrage, die durch den Preisbildungsmechanismus schon zum Ausgleich gebracht werden. Und wenn wir nach dieser Logik mit einem (Arbeits)Angebotsüberschuss an schlecht bis gar nicht qualifizierten Flüchtlingen konfrontiert sind, dann muss man eben deren Preis absenken, um die Nachfrage nach ihnen zu erhöhen. Im Original liest sich das dann so:

»Auch wenn die Produktivität vieler Asylsuchender wegen der Sprachprobleme und der eher schlechten Ausbildung vorläufig noch gering ist, ist sie doch keineswegs null … Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Dass der Arbeitsmarkt eben nicht so einfach tickt, wie es sich die Anhänger dieses – nun ja – vulgärokonomischen Modells zu denken scheinen, soll hier gar nicht diskutiert werden. Aber an einem Punkt muss man Sinn durchaus zustimmen, wenn man sich auf seine Logik einlässt: Er argumentiert in neueren Veröffentlichungen, z.B. im Handelsblatt vom 20. Oktober 2015, dass es keinen Sinn macht, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge abzusenken, denn dann würde eine neue Verzerrung zuungunsten der Nicht-Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einstellungsentscheidungen produziert werden.

»Die billigeren ausländischen Arbeitskräfte würden einheimische Arbeitnehmer, die weiterhin mit 8,50 Euro zu entlohnen wären, allzu häufig in die Arbeitslosigkeit verdrängen. Die Gesamtbeschäftigung im Segment der Niedrigqualifizierten bliebe weiterhin durch den zu hohen Mindestlohn fixiert«, schreiben Michele Battisti und Gabriel Felbermayr in ihrem die Position von Sinn stützenden Artikel Migranten im deutschen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitslosigkeit, Erwerbsquoten (S. 46).

Also muss der Mindestlohn für alle weg. Wenn schon, denn schon.

Offensichtlich bewegen wir uns hier auf verminten Gelände. Die nächste Welle der Deregulierung steht bevor, so haben Christoph Deutschmann und Roland Springer ihren Artikel dazu überschrieben. Obgleich die beiden sehr skeptisch sind, was die Erwartungen der Arbeitsmarktintegrationsoptimisten angeht – sie gehen davon aus, dass »der gegenwärtige (und der politisch gewollte künftige) Bevölkerungszustrom eine Situation (schaffen wird), in der ein begrenztes Angebot an Arbeitsplätzen im niedrig qualifizierten Industrie- und Dienstleistungssektor auf eine stark zunehmende Nachfrage stößt. Selbst prekäre Jobs und Ausbildungsplätze werden wie nie zuvor gefragt sein, weil viele Migranten alles tun werden, um einen Fuß in die Tür des deutschen Arbeitsmarktes zu bekommen. Die Konkurrenz zwischen Einheimischen – inklusive der hier ansässigen Migranten, die viele Randarbeitsplätze ja schon besetzen – und Zuwanderern wird sich dann fühlbar verschärfen, nicht nur am Arbeits-, sondern auch am Wohnungsmarkt.«
Darüber hinaus:

»Für Arbeitgeber ergibt sich daraus eine Traumkonstellation: Nicht nur ist oft mit einer im Vergleich zu den Einheimischen höheren Leistungsbereitschaft vieler Migranten zu rechnen, wie auch die Erfahrungen in älteren Einwanderungsländern lehren. Auch die Löhne werden sinken und der Mindestlohn als Vorzeigeprojekt der SPD könnte bald zur Disposition stehen, wenn es um die Frage geht, ob 8,50 € Stundenlohn nicht die Beschäftigung von Flüchtlingen behindern.«

Bei einer solchen Konfiguration macht es natürlich gar keinen Sinn, wenn man die Abschaffung des Mindestlohns nur auf die Flüchtlinge begrenzen würde, denn zum einen würde dies deren „Wettbewerbsvorteil“ beispielsweise gegenüber einheimischen Langzeitarbeitslosen durch die Bereitschaft, (fast) alles zu tun, nochmals potenzieren und zum anderen würde das Sinn’sche Ziel, durch eine generelle Abschaffung der staatlich gesetzten Lohnuntergrenze die Arbeitsnachfrage im Niedrigstlohnbereich auszudehnen, nicht erreicht werden können.

Nun kann man ja den ganzen Ansatz von Sinn & Co. durchaus kritisch sehen. So auch der Arbeitsmarktforscher Karl Brenke vom DIW, den Stefan Sauer in seinem Artikel so zu Wort kommen lässt:

„Kein Gastwirt wird die Geschirrspülmaschine abschaffen, um Flüchtlinge als Tellerwäscher einzustellen, nur weil er für sie den Mindestlohn nicht zahlen müsste.“  Zum zweiten seien die massenhaften Jobverluste, die etwa Ifo-Chef Sinn vor Einführung des Mindestlohns vorausgesagt hatte, ausgeblieben.  „Daraus lässt sich ableiten, dass umgekehrt auch ein Aussetzen des Mindestlohns keine großen Effekte haben wird und also keine zusätzlichen Jobs entstehen.“

Und wie sieht es derzeit wirklich aus, soweit man das angesichts der in mehrfacher Hinsicht unklaren Gefechtslage überhaupt genau beschreiben kann? Das IAB der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht regelmäßig einen Zuwanderungsmonitor, der einen Zahleneindruck vermitteln kann. Die Oktober-Ausgabe ist zusammengefasst in dem Artikel Flüchtlinge haben schlechte Jobchancen. Daraus einige interessante Punkte:
Das IAB rechnet für dieses Jahr mit 324.000 Asylbewerbern im erwerbsfähigen Alter, im Jahr 2016 mit 610.000. Die Forscher unterstellen dabei für beide Jahre einen Zustrom von jeweils einer Million Flüchtlingen. Für 2016 geht das IAB von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 130.000 aus – man muss wohl anfügen: der registrierten Arbeitslosigkeit, der Hartz IV-Bezug wird deutlich größer ausfallen.

»IAB-Untersuchungen haben ergeben, dass im ersten Jahr im Schnitt lediglich acht Prozent der 15 bis 64 Jahre alten Flüchtlinge in Deutschland eine Arbeit gefunden haben. Und selbst nach fünf Jahren hatte nur jeder zweite Flüchtling einen Job, nach zehn Jahren waren es 60 Prozent und nach 15 Jahren knapp 70 Prozent. Immerhin, so betonen die Arbeitsmarktforscher, haben Flüchtlinge langfristig ähnlich gute Jobchancen in Deutschland wie Inländer – wenn sie nur ausreichend lang in Deutschland leben.«

Auch die Beschäftigungssegmente, in denen sich die Flüchtlinge konzentrieren, sind nicht überraschend:

»Branchenbezogenen unterscheiden sich die Beschäftigungschancen von Migranten aus Kriegs- und Krisenländern deutlich von denen der übrigen Beschäftigten. Jeder vierte Flüchtling aus einem Krisenland stammende Beschäftigte arbeitet in Hotels und der Gastronomie. Jeder fünfte ist als Lagerist, Fahrer oder im Handel beschäftigt. Auch einfachere Tätigkeiten etwa als Gebäudereiniger oder Wachmann werden im Vergleich zu deutschen Beschäftigten weitaus häufiger von Flüchtlingen ausgeübt.«

Die vergleichsweise geringe Qualifikation, aber auch die Sprachprobleme vieler Flüchtlinge wird dafür verantwortlich gemacht. Auch von dieser Seite muss man also skeptisch an die Frage herangehen, ob eine nennenswerte Arbeitsmarktintegration zu nicht massiv verzerrenden Bedingungen schnell möglich sein wird. Das wird dauern. Und nur anteilig gelingen, wenn das zentrale Nadelöhr – also die Sprachkenntnisse – so schnell und intensiv wie möglich angegangen wird und daran anschließend möglichst viele gerade der jungen Flüchtlinge in eine ordentliche Ausbildung gebracht werden. Das aber wird zusammengenommen gut und gerne mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Denn auch die von manchen Beschleunigern in die Diskussion geworfenen Kurzzeit-Ausbildungen müssen als Irrweg betrachtet werden (vgl. dazu den Artikel „Sie hätten auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance“ von Florian Diekmann über Kurzausbildungen für Flüchtlinge).

Und wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass viele der Flüchtlinge im kommenden Jahr in großer Zahl im Hartz IV-System und damit in den Jobcentern, aufschlagen werden. Hierzu ein aufschlussreiches Interview mit Thomas Lenz, dem Vorstandsvorsitzenden des Jobcenters Wuppertal: „Sie sind alle hochmotiviert“. Das Gespräch verdeutlicht auch, was an zusätzlichen Belastungen auf die Jobcenter – die ja schon bislang enorm unter Druck waren und sind – zukommen wird. Auf die Frage, um wie viele Menschen es in Wuppertal geht, antwortet Lenz:

»Rund 900 so genannte geduldete Personen, deren Asylantrag bereits abgelehnt worden ist, die aber aus humanitären Gründen bleiben dürfen. Dazu kommen monatlich zwischen 200 und 400 anerkannte Asylbewerber, die meisten von ihnen sind Syrer. Im Oktober 2014 waren bei uns 460 Syrer registriert, jetzt sind es 1.448 alleine aus dieser Personengruppe und die Zahl wird weiter ansteigen. Denn wer anerkannt ist, darf seine Familie nachholen. Wir laufen uns gerade erst warm, denn wenn das Asylverfahren beschleunigt wird, kommen pro Jahr 2.000 bis 4.000 dazu.«

Damit einher geht eine enorme Verschiebung dessen, womit sich die Jobcenter auseinandersetzen müssen: Früher »kamen vielleicht eine Handvoll Menschen, die aber meist schon lange in Deutschland lebten, die Sprache beherrschten und in einem sozialen Umfeld eingebunden waren. Heute sind es traumatisierte Menschen, die zum Teil schreckliche Erfahrungen auf der Flucht gemacht haben, die Angst um ihre Familien haben, mit denen wir uns kaum verständigen können, trotz Dolmetscher, da viele nur bestimmte Dialekte beherrschen.«

Was das für die Arbeitsmarktpolitik bedeutet bzw. bedeuten müsste, kann man der folgenden Aussage entnehmen: Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Qualifikation der neuen „Kunden“ der Jobcenter berichtet Lenz:

»… klar gibt es den syrischen Architekten oder die Ärztin, aber das ist die Ausnahme. Viele Flüchtlinge sind noch sehr jung. Diese Menschen haben die letzten Jahre unter Kriegsbedingungen gelebt, in Syrien gibt es kein funktionierendes Ausbildungs- oder Schulsystem mehr. Wer einen Abschluss oder einen Beruf erlernt hat, dem fehlen die Nachweise, die auf der Flucht verloren gegangen sind. Diese Klientel ist nicht nach einem Bewerbungstraining fit für den Arbeitsmarkt, dafür brauchen wir langfristige Maßnahmen und Sprachkurse.«

Das ist der Punkt und Lenz wird hier deutlich, als er nach geplanten Qualifizierungsmaßnahmen gefragt wird: „Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Und weiter: »Bei den Weiterbildungsmaßnahmen bauen wir Sprachmodule ein, wir wollen diese Menschen nicht parken, bis sie einen Platz in einem Sprachkurs finden.« Auf die naheliegende Frage, warum denn das Jobcenter nicht selbst das Nadelöhr Sprachkenntnisse mit Sprachkursen angeht, bekommt man eine Antwort, die wieder einmal verdeutlicht, was sich endlich ändern muss: »Wir dürfen es nicht. Bisher sieht man den klassischen Arbeitslosen als einen Menschen an, der vorübergehen seinen Job verloren hat. Mit einigen Qualifizierungsmaßnahmen sollen wir ihn wieder fit für den ersten Arbeitsmarkt machen. Das funktioniert jedoch in vielen Fällen nicht.«

So ist das. Bleibt noch anzumerken: Obwohl wir wissen, dass im kommenden Jahr mehrere hunderttausend Flüchtlinge im Hartz IV-System aufschlagen werden, wissen die Jobcenter, von denen bereits heute bei vielen Land unter ist, noch nicht einmal, wie viel Geld und Personal im kommenden Jahr zur Verfügung stehen wird. Es gibt eine Menge Baustellen, auf denen man schon längst was tun könnte und müsste. Irgendwie erinnert einen das an viele Baustellen auf unseren Autobahnen, so bitter das klingen mag.

Unterwegs verloren gegangen – die „Rechtsvereinfachungen“ im SGB II. Die Grünen fordern weiter eine „Entbürokratisierungs-Offensive“. Und hinter den Kulissen wird geschachert

»Ursprünglich war einmal geplant, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten in den mehr als 400 Jobcentern darum kümmern sollten, Arbeitslose zu fördern und zu vermitteln. Derzeit gilt dies aber nur für knapp die Hälfte der Mitarbeiter. Die anderen sind mit der Berechnung von Leistungen beschäftigt«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Grüne pochen auf weniger Regeln für Hartz IV. Man muss an dieser Stelle an den – eigentlich – fundamentalen Paradigmenwechsel erinnern, der im Gefolge der Hartz-Gesetze mit der Einführung der Grundsicherung (SGB II) im Jahr 2005 vollzogen werden sollte: Die beiden – unterschiedlichen Logiken folgenden – bedürftigkeitsabhängigen Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden zusammengelegt mit dem Versprechen, dass mit der Einführung eines pauschalierten Regelsatzes, derzeit 399 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person, eine enorme Verwaltungsvereinfachung einhergehen werde, da man nunmehr auf komplizierte einzelfallbezogene Berechnungen der Leistungen verzichten könne und auch ein Großteil der bis dahin in der Sozialhilfe auf Antrag gewährten einmaligen Leistungen für bestimmte Lebenstatbestände wurde gestrichen und mit dem neuen Regelsatz verrechnet. Aber wie so oft im Leben – was sich auf dem Papier so plausibel darstellen lässt, stößt in der wirklichen Wirklichkeit auf zahlreiche unterschiedliche Fallkonstellationen, deren zumindestens teilweise Berücksichtigung einen Teil der Verwaltungsvereinfachung sofort wieder außer Kraft setzt. Viele Details mussten geregelt werden, die nicht im pauschalierten Regelsatz enthalten waren bzw. sind.

Auch die Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre dazu beigetragen, dass das grundsätzliche und nicht auflösbare Spannungsverhältnis zwischen Einzelfallgerechtigkeit auf der einen und den Effizienzvorteilen eines pauschalierende Leistungssystems auf der anderen Seite  immer wieder zu Gunsten der Berücksichtigung des Einzelfalls im Ergebnis das System verkompliziert hat. Wenn man ehrlich is, muss man zu dem ernüchternden Ergebnis kommen, dass wir mittlerweile in einer Harz IV-Welt angekommen sind, in der letztendlich alle Beteiligten massiv unzufrieden sind. Viele Betroffene deshalb, weil eben nur ein wenig Einzelfallgerechtigkeit berücksichtigt wird, ansonsten ein Verweis auf die Regelsatzleistung erfolgt. Und die andere Seite ist gezwungen, beispielsweise durch Anrechnungsregelungen immer umfassendere Nachweise von den Leistungsempfängern einzufordern und dann zu prüfen, was davon für die Grundsicherungsleistung relevant ist oder nicht. Hinzu kommt, dass sich natürlich viele Anrechnungstatbestände permanent verändern.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die durchschnittliche Akte eines der 3,4 Millionen Hartz-IV-Haushalte einen Umfang von etwa 650 Seiten hat. Öchsner nennt scheinbar skurrile Fragen, die geregelt werden müssen und natürlich zu entsprechendem Aufwand bei Klärung und Bescheidung führen: »Dabei kann es um Extras wie orthopädische Schuhe, das Warmwasser aus einem Boiler oder gar um die Frage gehen, wie viel Kleister einem Hartz-IV-Empfänger fürs Tapezieren der Wände zusteht.«

Nun muss man sich darüber im klaren sein, dass das hier angesprochene Problem grundsätzlich nur dann gelöst werden könnte, wenn man eine radikale Variante der Pauschalierung durchsetzt. Das würde aber auch bedeuten, dass viele Betroffene unter die Räder der Pauschalierung geraten würden, denn ihre nicht selten durchaus berechtigten abweichenden Bedürfnisse können einem solchen System nicht mehr abgebildet werden. Man kann sich die letztendliche Konsequenz eines solchen Weges am Beispiel der hoch umstrittenen Wohnkosten verdeutlichen, die immer wieder nicht nur im Mittelpunkt sozialgerichtliche Verfahren stehen. Das SGB II arbeitet hier mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der „angemessenen Wohnkosten“, die übernommen werden. Diese Formulierung führt nun dazu, dass man gezwungen ist, eine Grenze zu definieren, ab der die „Angemessenheit“ überschritten wird. Wenn nun aber in der betreffenden Region gar keine Wohnungen mehr vorhanden sind, die von den Harz IV-Empfängern zu den vorgegebenen Mietpreisobergrenzen erreicht werden können, dann bedeutet das, dass die Betroffenen den übersteigenden Betrag aus ihrem Regelsatz decken müssen, der dafür aber gar keine Position enthält, da die Wohnkostenübernahme außerhalb des Regelsatzes geregelt ist. Man kann es drehen und wenden wie man will: Pauschalierung ist auf der einen Seite aus Sicht der Verwaltung überaus effizient, auf der anderen Seite muss es zwangsläufigerweise immer zu Ungerechtigkeiten kommen, da die Pauschalen im Regelfall kalkuliert werden auf der Basis von Durchschnitten, die immer diejenigen benachteiligten müssen, die oberhalb des jeweiligen Durchschnitts liegen.

Öchsner weist in diesem Zusammenhang darauf hin:» Schon vor mehr als einem Jahr schlug deshalb eine Kommission von Bund, Ländern und Bundesagentur für Arbeit vor, das Hartz-IV-System zu vereinfachen. Doch passiert ist nichts.« Das hört sich interessant an, deshalb werden wir an dieser Stelle einen genaueren Blick auf diesen Vereinfachungsansatz.

Gemeint ist die „Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts – einschließlich des Verfahrensrechts – im SGB II (AG Rechtsvereinfachung im SGB II)“. So heißt die wirklich. Das BMAS, die BA, die Bundesländer und die Kommunalen Spitzenverbände haben darin miteinander über mögliche Rechtsvereinfachungen im SGB II geredet und verhandelt. Wohlfahrtsverbände oder gar Vertreter der Betroffenen waren „natürlich“ nicht beteiligt.
Bereits im Sommer des vergangenen Jahres wurde der Bericht über die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom 2. Juli 2014 vorgelegt. Die Arbeitsgruppe nahm im Juni 2013 ihre Tätigkeit auf und hatte am 4. September 2013 einen Bericht über die Ergebnisse der ersten drei Workshops vorgelegt. Bis April 2014 wurden in weiteren fünf Workshops die weiteren Rechtsänderungsvorschläge diskutiert und bewertet. Der Bericht wurde am 2. Juli 2014 von der Arbeitsgruppe beschlossen. Rechtsvereinfachungsbedarfe wurden unter anderem zu den Themen „Einkommen und Vermögen“, „Verfahrensrecht“, „Kosten der Unterkunft und Heizung sowie Bedarfsgemeinschaft“, „Mehrbedarfe, Leistungen nach § 24 SGB II und Bildungs- und Teilhabepaket“, „Anspruchsvoraussetzungen“, „Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung“ und „Sanktionen“ identifiziert und mögliche Lösungsansätze wurden erarbeitet. Der Katalog der Kommission besteht aus 36 Vorschlägen für Gesetzesänderungen im Hartz-IV-System. Unter anderem sollten die Jobcenter die staatliche Grundsicherung für zwölf statt für sechs Monate bewilligen, um die Flut von Hartz-IV-Bescheiden zu begrenzen.

Es ist hier nicht der Platz, die vielen einzelnen und in der Regel sehr kleinteiligen Vorschläge zu würdigen und ggfs. zu kritisieren. Verwiesen sei stellvertretend dafür auf das Papier Einschätzung der im Rahmen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Rechtsvereinfachung im SGB II eingebrachten Änderungsvorschläge der Bundesanstalt für Arbeit der Sozialrechtlerin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt aus dem vergangenen Jahr:

»Der Begriff Rechtsvereinfachung kommt ganz unschuldig daher – wer kann schon etwas dagegen haben, dass komplizierte rechtliche Tatbestände oder Rechtspraktiken vereinfacht werden!? Die Erfahrungen der letzten Jahre aber zeigen, dass unter dem Deckmantel von „Vereinfachung“, „Vereinheitlichung“ oder gar „Gleichbehandlung“ häufig Verschlechterungen zu Lasten der Betroffenen durchgesetzt wurden. Schaut man das Potpourri an Veränderungswünschen an, das die Leistungsträger im weitesten Sinn hier zusammengetragen haben, dann lassen sich natürlich Vorschläge finden, die eine „echte“ Vereinfachung zum Gegenstand haben, es sind aber auch etliche Vorschläge zu finden, die das Leistungsrecht komplett verändern würden – leider die meisten zum Nachteil der Betroffenen.«

Sie berührt in ihrer sowohl die positiven wie auch die negativen Aspekte würdigenden Auseinandersetzung eine Grundproblematik von Prozessen, wie sie mit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe formatiert werden: Im Mittelpunkt steht meistens bis ausschließlich die Perspektive der Administration, die sich Entlastung verschaffen will. Eine Besserstellung der Betroffenen ist dann – wenn überhaupt – als Nebenfolge der Effizienzsteigerung der Verwaltungsabläufe zu erwarten.

Aber auch wenn man diesen kritischen Einwurf ausklammert – die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe wurden wie gesagt Anfang Juli 2014 veröffentlicht und an den Gesetzgeber weitergereicht. Nun haben wir bekanntlich Oktober 2015, der auch schon bald vorbei ist. Und passiert ist – nichts.

Warum?

Der eine oder andere wird es schon ahnen – die Akteure auf der hier relevanten Gesetzgebungs-, also auf der Bundesebene, haben sich gegenseitig kalt gestellt. Vereinfacht gesagt: Die SPD wollte bzw. will die heute bestehenden verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige im SGB II zurückführen (wohlgemerkt nicht abschaffen, sondern mit den Regelungen bei den über 25jährigen Hartz IV-Empfängern gleichstellen), was auf großen Widerstand in der Union, vor allem aber in der bayerischen CSU gestoßen ist. Nun wollen die Bayern (aber nicht nur die, auch Länder wie Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz befinden sich hier im Lager der Bayern) dafür etwas anderes, was bislang blockiert wird: Sie wollen eine Veränderung bzw. Abschaffung des sogenannten „Problemdruckindikators“ bei der Verteilung der Mittel für arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen im SGB II. Was ist das nun wieder, wird der eine oder andere aufstöhnen. Versuchen wir es mit einer kurzen Erklärung, die man beispielsweise dem Papier Position zum Problemdruckindikator des Deutschen Caritasverbandes aus dem Januar 2015 entnehmen kann:

»Die finanziellen Mittel, die den einzelnen Jobcentern für Eingliederungsleistungen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zugewiesen werden, sind unterschiedlich hoch. Die Verteilung wird durch die Eingliederungsmittel-Verordnung jährlich geregelt. Sie richtet sich grundsätzlich nach dem Anteil der örtlich zu betreuenden erwerbsfähigen Leistungsempfänger. Zusätzlich erhalten Jobcenter mit einer überdurchschnittlich hohen Grundsicherungsquote einen Zuschlag, solche mit einer unterdurchschnittlichen Quote einen Abschlag (sog. Problemdruckindikator).«

Es geht hier angesichts mehrerer Milliarden Euro um richtig viel Geld. Zugespitzt formuliert hat die Verwendung dieses Mittelverteilungssystems dazu geführt, dass manche Jobcenter im Süden oder Südwesten der Republik kaum noch Mittel für Fördermaßnahmen im SGB II zur Verfügung haben, weil bei ihnen die allgemeine Quote an Hartz IV-Empfängern niedrig ist im Vergleich zu anderen Regionen. Wie so oft in der Sozialpolitik stand am Anfang des Problemdruckindikators, der seit 2004 eingesetzt wird (und der in der jährlich aktualisierten Eingliederungsmittel-Verordnung geregelt ist), eine gute Absicht: »Die Idee war dabei, Kreise mit sehr hohem “Problemdruck“ im Sinne von hoher Langzeitarbeitslosigkeit in der Ausgestaltung der Eingliederungsmittel besser zu stellen als Gebiete mit niedriger Langzeitarbeitslosenrate.« Das klingt doch plausibel. Im Ergebnis führt das dazu, dass für Jobcenter in Bayern und Baden-Württemberg nur halb so viel Eingliederungsmittel je Leistungsberechtigten zur Verfügung stehen wie für das Jobcenter in Berlin-Neukölln. Und wo ist jetzt das Problem?

Gerade »in Regionen mit guter Arbeitsmarktlage sind die zugewiesenen Mittel pro erwerbsfähigen Leistungsberechtigten besonders gering. Allerdings weisen gerade in diesen Regionen die Personen, die noch im Leistungsbezug sind, häufig besondere, verfestigte Problemlagen auf. Sie brauchen daher oftmals besonders kostenintensive (z. B. § 16e SGB II), langwierige oder mehrere Fördermaßnahmen. Wenn für sie pro Kopf wenige Mittel zur Verfügung stehen, können diese Menschen nicht angemessen gefördert werden«, so der Deutsche Caritasverband in seinem Positionspapier. Man kann es auch so sagen: Dem Problemdruckindikator liegt die Annahme zugrunde, dass bei einer guten Arbeitsmarktlage und einer geringen Quote an Grundsicherungsempfängern weniger Eingliederungsmittel erforderlich seien – möglicherweise aber, so die Kritiker, ist genau das Gegenteil der Fall, dass bezogen auf die einzelnen Individuen hier sogar höhere Aufwendungen anfallen, da die, die sich hier im Grundsicherungsbezug befinden, durch noch schwierigere persönliche Verhältnisse auszeichnen als in Regionen, in denen viele andere auch im SGB II-Bezug sind.

Hinzu kommt – und das wird leider oft vergessen: Diese unterschiedliche Mittelverteilung wird natürlich dann vor allem zu einem Problem, wenn zugleich die Mittel insgesamt erheblich gekürzt werden. Und genau das ist seit dem Jahr 2011 imm Bereich des Eingliederungstitels passiert, um gut 50 Prozent sind die Mittel runter gefahren worden.

An diesen Stellen hat man sich also meinen müssen zu bekriegen seit dem Sommer des vergangenen Jahres. Nichts ist seitdem passiert. Thomas Öchsner berichtet in seinem Artikel: »In Regierungskreisen ist nun zu hören, man nähere sich einem kleinsten gemeinsamen Nenner an, auf den man sich einigen könne. Von dem ursprünglichen Vereinfachungskatalog der Reformkommission dürfte dann aber nicht allzu viel übrig bleiben.«

Das wäre natürlich angesichts der schon sowieso gegebenen begrenzten Reichweite der Vorschläge ein Desaster. Kein Wunder, dass die oppositionellen Grünen an dieser Stelle neues Holz aufs Feuer legen und über ihre arbeitsmarktpolitische Sprecherin im Bundestag, Brigitte Pothmer, eine „Entbürokratisierungs-Offensive“ einfordern. »Sie rechnet vor: Könnten sich nur zehn Prozent der Mitarbeiter, die mit der Gewährung von Leistungen beschäftigt sind, durch eine Rechtsvereinfachung anderen Aufgaben widmen, ließen sich 2.200 Vollzeitstellen mobilisieren.«

Der einzige Schönheitsfehler in der Argumentation der Grünen: Diese Stellen sollen frei geschaufelt werden, »damit mehr Mitarbeiter in den Jobcentern für die Flüchtlinge zur Verfügung stehen.« Das mag zwar derzeit en vogue sein, aber der Personaleinsatz sollte nicht an den Status Flüchtlinge gebunden werden. Die zusätzlichen Stellen dafür muss die Bundesregierung auch zusätzlich zur Verfügung stellen. Auf eine bessere Betreuung, wie sie durch die frei werdenden Personalkapazitäten theoretisch möglich werden könnte, warten die vielen Langzeitarbeitslosen, die Verlierer des deutschen „Jobwunders“, schon lange.