Angekündigter Doppelbeschluss: Die Rente mit 63 soll mit der Arbeitslosigkeit bis 61 fusioniert werden

In der Großen Koalition wird gerungen und gestritten um die Konkretisierung der Rente mit 63 hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen. Nunmehr gibt es nach Medienberichten angeblich eine Lösung der in den vergangenen Wochen viel diskutierten – angeblich – drohenden „Frühverrentungswelle“ ab 61. Den „rollierenden Stichtag“ werden wir uns merken müssen.

Karl Doemens berichtet in der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau: Einigung bei Rente mit 63 steht bevor. Im Rücken des derzeit stattfindenden DGB-Bundeskongresses soll es angeblich eine Verständigung gegeben haben auf eine Operationalisierung der Bedingungen, unter denen man den abschlagsfreien Renteneintritt mit 63 vollziehen kann. Mit einem „rollierenden Stichtag“ sollen Arbeitslosigkeitszeiten bei der Rente mit 63 nur bis zwei Jahre vor dem Beginn des Ruhestands angerechnet werden können.

Grundsätzlich gilt als Anspruchsvoraussetzung: 45 Beitragsjahre, wobei hier Bezugszeiten des früheren Arbeitslosengeldes und des heutigen Arbeitslosengeldes I, also der Versicherungsleistung, ohne zeitliche Begrenzungen angerechnet werden können, nicht aber Zeiten der Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 des Arbeitslosengeldes II. An dieser Stelle setzt die in den vergangenen Wochen immer wieder vorgetragene Kritik aus den Reihen der Union und der Arbeitgeber an, die behaupten, es gibt dadurch einen »Anreiz für Frühverrentungspakete, die dem Arbeitnehmer die Einbußen durch eine zuvor bewusst herbeigeführte Arbeitslosigkeit ersetzen. Faktisch könnten  die Beschäftigten in Deutschland dann trotz stetig steigender Lebenserwartung schon mit 61 Jahren den Betrieb verlassen und aufs Altenteil wechseln.«

Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass diese und ähnliche Argumentationen schon recht einseitig daherkommen, um das mal vorsichtig auszudrücken. Denn hier wurde und wird ein Bild gemalt, das so aussieht: Der Arbeitnehmer kann es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu kommen (was in nicht wenigen Fällen angesichts der konkreten Arbeitsplätze vielleicht sogar durchaus der Fall sein könnte) und wenn er durch den Eintritt in die Arbeitslosigkeit mit 61 zwei Jahre lang die Möglichkeit hat, das Arbeitslosengeld I zu beziehen, dann wird er das freudig machen, um dann mit 63 in die abschlagsfreie Rente zu wechseln. Das ist gelinde gesagt eine „mutige“ Hypothese, wenn man bedenkt, dass das Arbeitslosengeld I als Lohnersatzleistung deutlich niedriger liegt als das bisherige Einkommen und zudem die späteren Rentenansprüche natürlich auch noch niedriger ausfallen werden durch die Arbeitslosigkeitszeiten. Darüber hinaus gibt es solche „Kleinigkeiten“ wie Sperrzeiten bei Eigenkündigung. Um nur eine Hürde zu nennen. Folglich kommen wir zum eigentlichen Kern der Sache: Eine „Frühverrentungswelle“ kann man im Grunde nur dann erwarten, wenn die Unternehmen da mitmachen bzw. das instrumentalisieren für ihr Anliegen, sich von älteren Mitarbeitern zu trennen,  beispielsweise in dem sie die Arbeitslosengeld I-Zahlungen aufstocken. Zugespitzt formuliert: Eigentlich warnen die Arbeitgeber vor sich selbst bei dieser Diskussion – die übrigens seitens der Experten bei einer kürzlich stattgefunden Anhörung im Deutschen Bundestag überwiegend als nicht besonders gewichtig eingeschätzt wurde. Aber irgendwie hat sich das verselbständigt.

Ursprünglich wollte die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Arbeitgeber in solchen Fällen zur  Erstattung der Sozialleistungen verpflichten – eine solche Regelung hat es schon mal bis 2006 gegeben, sie wurde dann aufgrund von Praktikabilitätsproblemen wie auch aufgrund von rechtlichen Bedenken wieder abgeschafft und auch bei der erwähnten Anhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages hatten die dort vertretenen Experten überwiegend vor einer solchen bürokratischen Regelung gewarnt, die zudem weitgehend ins Leere laufen würde.

Aber auch die ursprüngliche Lösung aus der Union wird nicht kommen: »Nach ihrer Vorstellung sollten Arbeitslosenzeiten ab dem 1. Juli 2014 generell nicht mehr angerechnet werden. Das würde aber zu einer rechtlich fragwürdigen Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die bereits in diesem Sommer in Rente gehen und solchen, die erst später die Altersgrenze erreichen, führen«, schreibt Doemens in seinem Artikel.

Jetzt also soll es den „rollierenden Stichtag“ als Kompromiss geben:

»Er orientiert sich am tatsächlichen Renteneintrittsalter des Betroffenen. Nur bis zwei Jahre davor werden eventuelle Arbeitslosenzeiten angerechnet. Wer am 1. Juli 2014 den abschlagfreien Ruhestand in Anspruch nehmen will, der muss also 45 Beitragsjahre nachweisen, deren eventuelle Arbeitslosenzeiten aber vor dem 1. Juli 2012 lagen. Damit wäre eine Frühverrentung mit 61 Jahren ausgeschlossen.«

Nur eine skeptische Anmerkung: In den vergangenen Monaten wurde von beiden Seiten – den Apologeten wie den Weltuntergangskritikern der Rente mit 63 immer wieder mit „Gerechtigkeit“ bzw. „Ungerechtigkeit“ argumentiert. Das aber sind schwere und zugleich flüchtige Begriffe. Bleiben wir bei der vorgesehenen rollierenden Stichtagsregelung. In dem Beitrag von Doemens findet sich ein interessanter Hinweis: »Diskutiert wird in der Koalition noch, ob es eine Ausnahmeregelung für Fälle geben soll, bei denen der Betrieb in dem fraglichen Zeitraum Pleite machte.«

Das verweist auf ein potenziell neues, erhebliches „Gerechtigkeitsproblem“, denn ein solcher Fall würde ja bedeuten, dass der betroffene ältere Arbeitnehmer unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verliert und er dann nicht in den Genuss der späteren abschlagsfreien Rente mit 63 kommen kann, wenn ihm vielleicht wegen wenigen Monaten die Anspruchsvoraussetzung 45 Beitragsjahre fehlt.
Wenn man jetzt aber eine Sonderregelung für die Fälle schafft, wo das Unternehmen in die Insolvenz gegangen ist, stellt sich sofort die „Gerechtigkeitsfrage“, was denn mit den Arbeitnehmern ist, denen mit 61 oder später aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde. Die fallen dann nicht unter die Sonderregelung, können aber ebenfalls nichts für ihre Arbeitslosigkeit. Man ahnt an dieser Stelle, ein weites und lukratives Feld für die Juristen tut sich hier auf.

Und zur Gerechtigkeit: Die Gerechtigkeit hat lahme Füße, kann man einem alten deutschen Sprichwort entnehmen.

Wer bietet mehr? Rente mit 63 oder gar eine Frühverrentungswelle ab 61? Ach was: Die FDP ist für die Rente mit 60. Wenn da nicht das Kleingedruckte wäre

Ein Baustein des „Rentenpakets“ der Bundesregierung ist die „Rente mit 63“. Über dieses Vorhaben wurde in den vergangenen Monaten und Wochen erbittert gestritten. Neben der Frage, ob es sich hierbei nicht lediglich um einen gut dotiertes Wahlgeschenk für die Mitglieder der Industrie-Gewerkschaften handelt, ging und geht es immer wieder auch um die Frage, ob durch die Ermöglichung des abschlagsfreien Renteneintritts ab dem vollendeten 63. Lebensjahr möglicherweise eine Frühverrentungswelle ab dem 61. Lebensjahr droht.  Aber auch wenn man eine solche wie die meisten Experten nicht am Horizont aufziehen sieht, stellen sich zahlreiche „Gerechtigkeitsfragen“, die mit den Voraussetzungen der Inanspruchnahme der geplanten vorzeitigen Renteneintrittsregelung verbunden sind. Aber all die damit verbundenen komplexen Fragen scheinen sich zu erübrigen, wenn man die neuesten Vorschläge, wie sie die mittlerweile außerparlamentarische FDP vorgelegt hat, betrachtet. Es wird viele Beobachter im ersten Moment überrascht haben, dass diese Partei sogar eine „Rente mit 60“ in die Debatte geworfen hat. FDP will Rente mit 60 ermöglichen, so die Schlagzeile in der FAZ oder Liberale propagieren den Ruhestand ab 60, wie Dorothea Siems ihren Artikel in der WELT überschrieben hat. Was ist hier los? Geriert sich die APO-FDP noch fortschrittlicher als irgendwelche Sozialromantiker? Sehen wir jetzt endlich die Konkretisierung dessen, was der im Jahr 2011 agierende FDP-Generealsekretär und mittlerweile zum FDP-Parteivorsitzenden aufgestiegene Christian Linder als „mitfühlenden Liberalismus“ bezeichnet hat? Müssen sich die Oppositionsparteien jetzt warm anziehen angesichts einer anstehenden Sozialoffensive der FDP-Restpartei?

Schauen wir zuerst einmal auf das, was in den Medien über die neuen Vorschläge der FDP berichtet wird:

»Die Liberalen wollen die starre Altersgrenze in der Rente abschaffen. Jeder Beschäftigte, der das 60. Lebensjahr erreicht hat, sollte frei wählen können, wann er in den Ruhestand geht. Im Gegensatz zu der von der Regierung geplanten Rente mit 63 sollen aber nicht die Sozialkassen die Kosten eines frühzeitigen Ausscheidens tragen, sondern jeder Versicherte die Bezüge erhalten, die er sich mit seinen Beiträgen erworben hat. Wer früher aus dem Berufsleben ausscheidet, bekommt somit weniger Geld, wer später aufhört zu arbeiten, erhält nach diesem Konzept eine höhere Rente … Anders als bei der abschlagsfreien Rente mit 63, die es nur für diejenigen geben soll, die 45 Beitragsjahre vorweisen können, sieht das FDP-Modell keine Mindestanzahl von Jahren vor … Einzige Voraussetzung für die Rente mit 60 ist, dass das Einkommen aus gesetzlicher Rente plus betrieblicher und privater Altersvorsorge oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegt.«, so Dorothea Siems in ihrem Artikel.

Das hört sich doch prima facie mehr als vernünftig an. Schon seit Jahren wird von ganz unterschiedlichen Seiten immer wieder eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters gefordert. In der Lebensrealität sind wir mit einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen konfrontiert, die es durchaus nahe legen, dass man die Frage der Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt man in den Ruhestand übertritt, nicht mehr an starre Zeitgrenzen bindet. Und ja – dass die Definition von Zugangskriterien zu der geplanten „Rente mit 63“, wie beispielsweise der Erfüllung von 45 Beitragsjahren, in der Lebenswirklichkeit zu höchst problematischen Abgrenzungsfragen führen wird, liegt auf der Hand und ist systematisch nicht zu vermeiden. Aber wie immer im Leben sollten wir einen Blick in das Kleingedruckte werfen, um den Vorschlag der FDP richtig einordnen zu  können. Denn dieser wird an zwei weitere Bedingungen geknüpft:

1.) Zum einen soll die Höhe der Rente anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung der jeweiligen Generation berechnet werden. Die FDP plädiert also für einen „jahrgangsindividuellen Faktor“ bei der konkreten Bestimmung der Rentenhöhe.  Die Zielsetzung, die mit diesem Vorschlag verbunden ist, liegt auf der Hand: Wenn die Lebenserwartung wie in den zurückliegenden Jahren weiter ansteigt, dann muss in diesem hier vorgeschlagenen System die Rentenhöhe absinken. Es kann und darf an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass die Bestimmung der zukünftigen Lebenserwartung keine triviale Aufgabe ist. In dem Vorschlag der FDP wird so getan, als könne man die zukünftige Lebenserwartung einzelner Jahrgänge genau vorhersagen. Darüber werden Statistiker – wenn überhaupt – irritiert bis belustigt sein.

2.) Der entscheidende Punkt ist hier verborgen: »Um das Arbeiten im Alter zu fördern, will die FDP zudem die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Rentner vollständig flexibilisieren … Die FDP will die Hinzuverdienstgrenzen komplett abschaffen. Für erwerbstätige Rentner sollen sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung wegfallen. „Versicherte können so ab dem 60. Lebensjahr ihre Arbeitszeit reduzieren und den Verdienstausfall durch Bezug einer Teilrente teilweise kompensieren oder – wenn sie möchten – länger arbeiten“, wirbt die FDP für eine neue Rentnerfreiheit.«

Also das hört sich doch jetzt wirklich gut an – eine neue „Rentnerfreiheit“. Und grundsätzlich ist die Forderung nach Teilrenten-Modellen eine richtige. Das Problem, was sich an dieser Stelle auftut, ist allerdings keineswegs trivial: Wenn die Arbeitgeber die Möglichkeit haben, „junge“ Rentner nicht nur weiter zu beschäftigen, sondern diese auch zu günstigeren Konditionen arbeiten lassen zu können, dann werden sie das auch tun, allerdings muss man sich dann darüber bewusst sein, dass die vorgeschlagene Regelung zu einer Verzerrung dahingehend führen wird, dass die Beschäftigung eines älteren Mitarbeiters, der sich schon im Rentenbezug befindet, günstiger sein wird hinsichtlich der anfallenden Arbeitskosten, als die Beschäftigung eines „Normal“-Arbeitnehmers. Und wieder würde ein Anreiz geschaffen werden, eine bestimmte Personengruppe auf dem Arbeitsmarkt zu bevorzugen. Dies muss dann auch im Zusammenhang gesehen werden mit der Tatsache, dass zahlreiche ältere Menschen aufgrund der niedrigen Renten-Höhe gezwungen sein werden, einer weiteren Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen. Insofern muss man an dieser Stelle „anerkennt“ anmerken, dass bei einer Realisierung des vorgeschlagenen Konzepts mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden, unter anderem die immer wieder diskutierte Problematik einer ansteigenden Altersarmut aufgrund zu niedriger Renten, denn nunmehr kann man ja den Betroffenen den „Ausweg“ einer weiteren und sogar noch geförderten Beschäftigung nahe legen. Und die Arbeitgeber werden sich über diesen Vorschlag freuen, denn vor dem Hintergrund des demografischen Wandels werden sie ein großes Interesse daran haben, einen Teil der älteren Arbeitnehmer und sei es Teil zeitlich weiter beschäftigen zu können.

Die Diskussion über eine Öffnung des Arbeitsmarktes an dieser Stelle ist nicht neu – sie wird auch unter dem Stichwort „Flexi-Rente“ geführt. So schreibt Wolfgang Prosinger in seinem Artikel Endlich geht es dem Problem an die Wurzel:

»Ist die weithin starre Regelung des Eintrittsalters in die Rente noch zeitgemäß? Gibt es nicht ein Heer von rüstigen, körperlich und geistig gesunden Rentnern, für die es geradezu absurd zu sein scheint, mit 65 respektive 67 in die Untätigkeit abgeschoben, zum alten Eisen verdammt zu werden? Dieses Heer zählt nach Millionen, nach vielen Millionen. Jetzt endlich wird darüber geredet, Stimmen werden laut, die Arbeitsmöglichkeiten über das Stichdatum hinaus fordern, und ein Wort dafür ist auch schon gefunden: Flexi-Rente. Also ein Einstieg in den Ruhestand je nach Wünschen und Können der Betroffenen.«

Um welche Größenordnung es hier geht bzw. gehen könnte? Arbeitende Rentner sollen Fachkräftemangel lindern, so ist ein Artikel der FAZ überschrieben, der sich auf Berechnungen des DIW bezieht: Das DIW sieht ein Potential von zusätzlich bis zu 250.000 Rentnern, die arbeiten wollten – wenn die Politik dafür Anreize setzt. Derzeit sind gut 150.000 Menschen im Rentenalter sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Diesem Beitrag kann man entnehmen, dass die Überlegungen innerhalb der CDU sogar noch weiter gehen als die der FDP (zumindest in der Form, wie sie derzeit dargestellt werden in den Medienberichten), denn die FDP plädiert angeblich und „nur“ für einen Wegfall der Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung, wenn Unternehmen Rentner weiter beschäftigen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung Carsten Linnemann hingegen wird und dem FAZ-Artikel so zitiert: »Nach seiner Überzeugung sollten die Arbeitgeber von der Zahlung von Sozialbeiträgen für Rentner befreit werden. Außerdem sollte der Abschluss befristeter Arbeitsverträge möglich werden.« Ganz offensichtlich geht es bei diesem Vorschlag nicht nur um eine Entlastung der Arbeitgeber auf der Seite der Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch um die Eröffnung der Möglichkeit, die älteren Mitarbeiter befristet zu beschäftigen, was natürlich auch bedeuten würde, dass man sich entsprechend problemlos wieder von ihnen trennen kann. Summa summarum wäre das dann die Schaffung eines Alters-Arbeitsmarktes mit eigenen, d.h. abweichenden Regeln vom „Normal-Arbeitsmarkt“.
Nach Angaben des DIW soll es schon seit Jahren etwa 100.000 Personen im Alter von 65 bis 74 Jahren geben, die nicht arbeiten, dies aber gern täten. Wie aber kommen die nun auf 250.000 potenzielle Rentner-Arbeitnehmer? »Nehme man eine Quote von 10 Prozent zum Ziel – und damit heutige Rentner-Erwerbsquoten in der Schweiz oder Dänemark – ergebe sich ein Zuwachs von 250.000 Beschäftigte.

Während Linnemann mit den Worten zitiert wird, dass die Beitragsausfälle in der Sozialversicherung in seinem Modell überkompensiert werden durch die von den weiter erwerbstätigen Rentnern zu zahlenden Steuern (wobei hier unterstrichen werden sollte, dass es die „Rentner“ sind, die die Steuern dann bezahlen müssen), kommt das Bundesarbeitsministerium »zu der Einschätzung, dass eine flexiblere Gestaltung des Renteneintritts die Sozialversicherung mit hohen Beitragsausfällen belasten würde. Sollten Arbeitgeber, die Rentner weiterbeschäftigen, dafür von der Beitragspflicht befreit werden, würde das die gesetzliche Rentenversicherung knapp eine Milliarde Euro im Jahr kosten. Das geht aus einer Antwort des SPD-geführten Ministeriums auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag hervor.«

Es ist schon mehr als offensichtlich, worum es hier eigentlich geht: Würden die Vorschläge umgesetzt werden, dann gibt es einen ganz klaren Gewinner und das wären die Arbeitgeber, die auf der Seite der Sozialbeiträge im Fall von weiterbeschäftigten „Rentnern“ massiv entlastet werden würden.  Und die angekündigte „Rentnerfreiheit“ würde sich im wesentlichen darauf beschränken, dass die Rentner mit geringen Renten die „Freiheit“ haben, sich auf dem für sie etwas geöffneten Arbeitsmarkt um ein Zusatzeinkommen zu bewerben, um den eigenen Lebensunterhalt sicherstellen zu können. Gleichzeitig wäre es ganz elegant möglich, die Verantwortung für Armutsprobleme im Alter auf die Betroffenen zu verlagern, denn sie haben ja die Möglichkeit, sich selbst zu helfen, indem sie sich auf dem Arbeitsmarkt engagieren.

Diese einseitige Instrumentalisierung einer anderen, flexibleren Ausgestaltung des Renteneintritts ist abzulehnen aufgrund der dadurch – ob bewusst oder unbewusst – ausgelösten Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt.

Die Kritik an den derzeit vorliegenden Modellen bzw. Vorschläge für eine „flexible-Rente“ ist aber keineswegs so zu verstehen, dass die bestehende Systematik beibehalten werden sollte. Eine der großen Aufgaben einer sachorientierten Rentenpolitik in den vor uns liegenden Jahren wird darin bestehen, eine an den Menschen orientierte Flexibilisierung des Renteneintritts in das bestehende System einzubauen bzw. dieses nach diesem Kriterium zu erweitern.

Vom Ritual der Anhörungen, viel Papier und einem „Rentenpaket“, das mit Zwischenstopp im Bundestag unterwegs ist zum Empfänger. Und wie immer steckt der Teufel im Detail

Es ist eingetütet und bereits on the road – das „Rentenpaket“ der großkoalitionären Bundesregierung. Gut, derzeit liegt es noch im Bundestag und vielleicht wird das eine oder andere auch noch im parlamentarischen Gang der Dinge auf die Verpackung gekritzelt, aber es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht zum Sommer die gesetzgeberische Umsetzung der beiden zentralen Bausteine dieses Vorhabens – also die vorübergehende „Rente mit 63“ und die dauerhafte Anhebung eines Teils der „Mütterrente“, beides verbunden mit einer dauerhaften Absenkung des Rentenniveaus über das bisherige Maß hinaus und einem tiefen Griff in die derzeit gut gefüllten Kassen der Rentenversicherung -, das Licht der Welt erblicken werden. Zu den rituellen Bestandteilen der Behandlung eines Gesetzesvorhabens gehört die Anhörung von „Sachverständigen“, in aller Regel von Interessengruppen und einigen wenigen „Einzelsachverständigen“, die von der einen oder der anderen Partei in den Ring gerufen werden. Die Effizienz und Effektivität dieser Form der angestrebten Kompetenzerweiterung des Parlaments wäre ein eigenes Habilitationsthema, hilfsweise mag man sich begnügen mit der Annahme, dass da nicht so wirklich viel passiert. Aber man möchte ja keinem weh tun, also werfen wir einen kurzen Blick auf die Anhörung zu dem „Rentenpaket“ von Nahles & Co., die am 5. Mai stattgefunden hat.

Ausgangspunkt ist der „Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)“ der Bundesregierung. Hierzu (und zu zwei Anträgen und einem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke) fand nun am 05.05.2014 eine zweistündige Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag statt. Man kann sich diese Anhörung als Video anschauen oder aber gleich zu der Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen der geladenen Institutionen und Sachverständigen greifen, die als Ausschussdrucksache 18(11)82 veröffentlicht worden ist. Wieder einmal haben sich da viele viel Mühe gemacht, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Dem gegenüber steht dann ein Kommentierung wie die von Henrike Roßbach unter der Überschrift Andrea Nahles auf Autopilot: »Es wird viel Kritik zu hören sein, wenn die Verbände und Fachleute heute vor dem Sozialausschuss des Bundestags ihre Meinung zum Rentenpaket von SPD-Sozialministerin Andrea Nahles kundtun …
All das wird die Ministerin aber nicht aufhalten.«

Das ist aber keineswegs ein Sondermerkmal der Frau Nahles, sondern entspringt eben der Ritualisierung und damit verbunden auch der Entleerung von Anhörungen als Instrument der Politikberatung. In eine ähnliche Richtung auch die Einschätzung von Max Haerder in einem Artikel der WirtschaftsWoche, der davon ausgeht, dass Expertenanhörungen im Bundestag häufig wie Stellvertreterkämpfe funktionieren: »Die Anhörung im Berliner Sitzungssaal am Montagnachmittag war ein Paradebeispiel für diese politische Kunst der indirekten Kriegsführung – bis hinzu Nickeligkeiten zwischen den Fachleuten selbst, die sich gegenseitig die fachliche Neutralität absprechen wollten. Am Ende zweier detailreicher Stunden konnten alle Beteiligten ermattet, aber zufrieden vor die Mikrofone treten und per Pressemitteilungen verbreiten, wovon sie schon vorher überzeugt waren.«

Kritik hat es gegeben und man kann sie nachlesen, vor allem in den Stellungnahmen der Anzuhörenden. Was die aber genau gesagt und geschrieben haben, darüber geht dann die Berichterstattung durchaus ihre eigenen Wege. So kann man in der Online-Ausgabe der WELT lesen: Experten geben der Rente mit 63 miserable Noten. Der Bericht des Deutschen Bundestages über die Anhörung selbst kommt schon anders daher, wenn man nur die Überschrift betrachtet: Frühverrentung nein, Leistungseinbußen ja. Daraus nur ein bemerkenswerter Satz vor dem Hintergrund der Debatten in den vergangenen Wochen: »Das Risiko einer Frühverrentungswelle durch die geplante abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren bewertet eine Mehrheit von Sachverständigen als gering.« Oder: »„Ob es zu einer Frühverrentungswelle kommen wird, wissen wir nicht. Die Berechnungen sind unterschiedlich«, mit diesen Worten aus der Anhörung wird Eckart Bomsdorf, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Köln, zitiert. Also reichlich Nebel in der Arena der Stellvertreterkämpfe.

Interessanter sind dann solche Ausführungen, die man beispielsweise in dem Artikel Lauter Teufel im Detail von Barbara Dribbusch finden kann und die sich auf die Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung bezieht:

»Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) verglich in ihrer Stellungnahme zwei Fälle: Im ersten Fall A arbeitet ein Versicherter seit dem 18. Lebensjahr bei durchschnittlichem Verdienst. Nach 45 Jahren hat er 45 Entgeltpunkte zusammen und kann laut Rentenreform mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Seine Rente beträgt im Westen 1.287 Euro. Im zweiten Fall B arbeitet ein Versicherter nur 43 Jahre bis zum 63. Lebensjahr. Er verdient aber 10 Prozent mehr als A und zahlt entsprechend mehr ein. Im Alter von 63 Jahren hat er 47,3 Entgeltpunkte erworben. Bei einem Rentenbeginn mit 63 Jahren muss er jedoch Abschläge in Höhe von 8,7 Prozent in Kauf nehmen. Seine Monatsrente beläuft sich daher trotz höherer Beitragszahlung nur auf rund 1.236 Euro im Monat.«

Dieses Beispiel muss gesehen werden vor dem Hintergrund, dass die Rente mit 63 seitens der Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf damit gerechtfertigt wird, dass besonders die langjährig Versicherten einen Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht hätten. „Zumindest gemessen an der Höhe der eingezahlten Beiträge haben aber Versicherte, die die Anspruchsvoraussetzungen für die abschlagsfreie Rente ab 63 nicht erfüllen, unter Umständen einen noch größeren Beitrag geleistet“, heißt es in dem Papier der Deutschen Rentenversicherung, auf das Dribbusch sich bezieht.

Auch Stefan Sauer greift in seinem Beitrag Rentenpläne im Feuer die Problematik auf: Er verweist auf die Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung, nach der die Rentenpläne das grundlegende Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung verletzen und somit von höchsten Gerichten gestoppt werden können. Aus dem bereits zitierten Beispiel mit den beiden Fallkonstellationen resultiert für die Rentenversicherung:

»Das Äquivalenzprinzip wäre durchbrochen. Wenn die Höhe der Einzahlungen nicht mehr die Höhe der Auszahlungen bedingt, kann dies unabsehbare Konsequenzen für die Rentenversicherung haben. Forderungen nach Sonderregelungen und Abweichungen zugunsten anderer Zielgruppen ließen sich nicht mehr grundsätzlich abweisen. Die Legitimationsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung würde brüchiger denn je. Früher oder später würde das Versicherungsprinzip durch ein Fürsorgesystem abgelöst, das stark von politischen Opportunitäten geprägt wäre – wie dies bereits bei den aktuellen Rentenplänen erkennbar ist.«

Hier wird eine aus Sicht der Sozialversicherung bedenkliche Entwicklungslinie angesprochen, die in aller Deutlichkeit bereits von dem Rentenexperten Winfried Schmähl in seinem in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ im Jahr 2012 veröffentlichten Aufsatz Von der Rente als Zuschuss zum Lebensunterhalt zur „Zuschuss-Rente“ herausgestellt wurde. Nach einer Tour d’Horizon durch 120 Jahre Geschichte der Rentenversicherung kommt er für den aktuellen Rand der Entwicklung im Umkreis der geplanten Einführung einer „Zuschuss-Rente“ zu dem Befund, »dass als Folge der seit Jahren praktizierten Politik in der GRV immer stärker das Ziel der „Armutsvermeidung“ in den Vordergrund tritt, während durch die Niveaureduktion in der GRV das Ziel der Einkommensverstetigung im Lebensablauf immer weiter in den Hintergrund rückt.« Es wäre schon eine bemerkenswerte Folge der „Rentenreformen“, wenn sein Ausblick in die mögliche Zukunft so stattfinden sollte, wie er es andeutet: »Bei ihrer Gründung 1889 dominierte in der Gesetzlichen Rentenversicherung das Ziel, Armut bei Invalidität und im Alter zu lindern. Dies wurde erst 1957 mit der großen Rentenreform anders. Seitdem dienen Renten nicht mehr nur als Zuschuss zur Finanzierung des Lebensunterhalts, sondern als Lohnersatz. Seit der Jahrtausendwende haben verschiedene Reformen den Weg zurück zur Rente als Zuschuss vorgezeichnet.«

Abschließend sei hier aus der Stellungnahme des Einzelsachverständigen Felix Welti, seines Zeichens Sozialrechtler an der Universität Kassel, zitiert (S.71 der Ausschussdrucksache 18(11)82), legt er doch den Finger in einige offene Wunden – und seine grundsätzlich kritische Bewertung ist anschlussfähig an die Aussagen von Schmähl:

»Die Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung seit 1997 haben dazu beigetragen, die politische Legitimation und rechtliche Legitimität der gesetzlichen Rentenversicherung zu gefährden. Die Senkung des Rentenniveaus bei allen Risiken hat dazu geführt, dass immer häufiger das Niveau der Grundsicherung nicht überschritten wird. Beim Risiko Erwerbsminderung ist das schon fast die Regel. Der Verzicht auf Mindestsicherungselemente innerhalb der Rentenversicherung und die Anhebung des Renteneintrittsalters sind zusätzlich als ein Verzicht auf sozialen Ausgleich wahrgenommen worden, letztere, weil sich bestimmte Personengruppen zur Hinnahme von Abschlägen genötigt sahen. Mindestens die subjektiv wahrgenommene Verlässlichkeit des Rentensystems ist durch die hohe Frequenz von Änderungen und deren politische Begründung herabgesetzt worden. Zunächst wurden die Chancen kapitalgedeckter Altersvorsorge überzeichnet. Als deren Risiken durch die Finanzkrise wieder stärker bewusst wurden, stärkte das zwar die politische Legitimität der Rentenversicherung. Die mit den überzogenen Renditeerwartungen für die Riester-Rente begründeten Niveauabsenkungen aller Rentenarten blieben jedoch erhalten. Zudem blieb es bei dem Problem, dass der Rentenwert für alle sank, die private Altersvorsorge jedoch gerade von geringer verdienenden Versicherten wenig genutzt wird.«