Nur ein Stolpern auf dem Weg hin zu einer historischen tariflichen Einigung über mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? Die Charité in Berlin und die Pflege

2015 gab es einen nur scheinbar kleinen, lokal begrenzten Tarif-Konflikt, der möglicherweise als Initialzündung in die Sozialgeschichte eingehen wird: Gemeint ist der zehntätige Streik von Pflegekräften an der Berliner Charité – immerhin Europas größte Universitätsklinik, die mit ihren Tochterfirmen mehr als 16.000 Mitarbeiter beschäftigt und einer der größten Arbeitgeber Berlins ist – im Sommer dieses Jahres, bei dem es nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal ging (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015). Und Ende des letzten Jahres konnten hier frohe Botschaften vermeldet werden (vgl. dazu den Beitrag Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene – auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? vom 28.12.2015): Daniel Behruzi hatte seinen Artikel überschrieben mit Charité: Auf der Zielgeraden: »Fortschritte bei Tarifverhandlungen für mehr Personal. Berliner Uniklinik will ab Januar erste Maßnahmen zur Entlastung der Beschäftigten umsetzen«. Und Hannes Heine bringt noch mehr Optimismus schon in seiner Artikel-Überschrift zum Ausdruck: Charité: Tarifvertrag mit Signalwirkung kommt: »Der Tarifstreit zwischen Charité und Verdi steht vor der Lösung – um die Löhne geht es allerdings nicht, sondern um mehr Personal. Eine Mindestbesetzung wäre einzigartig.«

Aber bekanntlich soll man sich nie zu früh freuen. Jedenfalls könnte man sich an diese Lebensweisheit erinnert fühlen, wenn man diese Überschriften aus dem März 2016 zur Kenntnis nimmt: Charité und Verdi streiten über Tarifvertrag, um nur eine zu zitieren. »Kurz vor Ende der Tarifverhandlungen ein neuer Streitpunkt: Charité und Verdi wollen unterschiedliches Personal. Wie es weitergeht, ist unklar«, berichtet Susanne Romanowski. Was ist da los?

Man kann es so auf den Punkt bringen: »Universitätsklinik Charité weigert sich, zugesagte Mindestbesetzung der Stationen mit Fachkräften zu gewährleisten. Die sind ihr zu teuer«, schreibt Claudia Wrobel in ihrem Artikel »Service« statt Pflege. Die Gewerkschaft ver.di hat darüber informiert, dass die Gespräche über den Tarifvertrag „Gesundheitsschutz“ festgefahren sind, weil die Arbeitgeber-Seite ein unsittliches Anliegen in die Verhandlungen – die seit acht Monaten laufen – eingebracht habe:

»Die Krankenpflegeausbildung dauert drei Jahre – und das noch ohne die notwendige Spezialisierung. Die verantwortungsvolle Arbeit dieser examinierten Fachkräfte können allerdings auch nicht näher definierte »Servicekräfte« übernehmen, zumindest wenn es nach dem Willen der Leitung von Europas größtem Universitätsklinikum, der Berliner Charité, geht.«

Wobei man das offensichtlich auch anders darstellen kann, mit den Arbeitgebern als „Opfer“ gewerkschaftlicher Forderungen:

»In der angestrebten personellen Mindestbesetzung fordert die Gewerkschaft Verdi, dass alle neuen Stellen durch examinierte Pflegekräfte besetzt werden sollen. Als Maßstab setzt Verdi-Generalsekretär Kalle Kunkel die Personalsituation auf den einzelnen Stationen an. Die Charité ist empört: „Das ist eine eine arbeitspolitisch völlig unsinnige Forderung, der wir uns nicht fügen werden“, sagt Vorstandschef Karl Max Einhäupl«, kann man in dem Artikel von Susanne Romanowski lesen.

Es geht hier um unterschiedliche Sichtweisen auf das, was getan werden muss in den Krankenhäusern: »Die Gewerkschaft empfindet es als „Provokation“, dass das Krankenhaus auch ungelernte Servicekräfte beschäftigen möchte. Diese sollen nach Plan des Krankenhauses patientenferne Aufgaben wie das Abräumen von Geschirr übernehmen. So könnten sich die ausgebildeten Pflegekräfte laut Einhäupl besser um die Betreuung der Patienten kümmern. Aber genau bei den vermeintlich patientenfernen Aufgaben sehen sowohl Charité-Vorstand als auch Verdi eine „Grauzone“: „Dass die Zubereitung von Essen dazu gehört, klar. Aber was ist mit der Nahrungszufuhr?“, fragt Kunkel. Die Einstellung neuer Servicemitarbeiter helfe aus der Sicht von Verdi keiner der Pflegekräfte.«

Der entscheidende Punkt ist also: Die Pflegepersonalbemessung soll auch nichtpflegerische Berufsgruppen enthalten. Für die Arbeitgeber eine einfache Rechenaufgabe, denn diese Kräfte sind deutlich billiger als examinierte Pflegekräfte. Diese Frage hat eine fundamentale strategische Bedeutung, nicht wegen der tatsächlich patientenfernen Arbeiten, für die es unbestritten keine examinierten Pflegefachkräfte braucht, sondern wegen dieses möglichen Musters: Tätigkeiten, die früher von examinierten Pflegekräften ausgeführt wurden, werden künftig verstärkt von sogenannten Servicekräften erledigt.

Das Arbeitgeber ein Interesse an der Realisierung dieser Entwicklungslinie haben, steht außer Frage. Für die Gewerkschaft muss das aber zu Recht eine Bruchstelle sein, die man nicht akzeptieren darf, weil dann das Ziel „mehr Personal“ erkauft werden würde durch „mehr, aber billigeres und weniger qualifiziertes Personal“. Es darf und muss daran erinnert werden: In dem Eckpunktepapier als Grundlage für die Beendigung des Streiks im vergangenen Jahr hatte der Charité-Vorstand unter anderem feste Personalquoten zugesagt. Von einem „Qualifikationsmix“ war da noch keine Rede.

Möglicherweise ist diese Zuspitzung am Ende der mehrmonatigen Verhandlungen strategisch zu sehen: »Manche der Verantwortlichen in der landeseigenen Uniklinik wollen allen Lippenbekenntnissen zum Trotz offenbar immer noch verhindern, dass es überhaupt zu einem Tarifvertrag für mehr Personal kommt«, so Herbert Wulff in seinem Artikel Der Stein roll. Charité blockiert Tarifeinigung.

So wird es jetzt eine Menge Unruhe an der Charité geben, ob man diese Kuh der Arbeitgeber wieder vom Eis bekommen wird.

Aber grundsätzlich gilt sicher weiterhin dieser Einordnung von Wulff: »Die Öffentlichkeit hat die Personalnot in den Kliniken wahrgenommen. Der Druck für eine gesetzliche Regelung steigt. Im Saarland und anderswo bereiten sich Krankenhausbelegschaften darauf vor, ebenfalls Tarifkonflikte für Entlastung zu beginnen. Der Stein ist ins Rollen gebracht. Die Taktiererei der Klinikmanager wird ihn nicht aufhalten.« Zu den von Wulff angesprochenen Beispiel Saarland vgl. auch diesen Artikel vom Anfang des Jahres: Ein Streik wie keiner zuvor: »Die Gewerkschaft Verdi will bei den Klinikträgern im Saarland einen Tarifvertrag zur Entlastung der Pflege-Beschäftigten durchsetzen – und droht mit massiven Streiks.«

Gerade vor diesem grundsätzlichen Hintergrund ist zu hoffen, dass die Pflegekräfte an der Charité Erfolg haben werden in ihrem wichtigen Kampf. Er würde enorm ausstrahlen in den ganzen Pflegebereich.

Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen

So eine Schlagzeile wird allen weh tun, die für die Pflege unterwegs sind: Klage gegen Pflegenotstand gescheitert. Von Karlsruhe ist keine Hilfe für diesen wahrlich gebeutelten Bereich und damit für die dort zu pflegenden wie arbeitenden Menschen zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in der Überschrift einer Pressemitteilung über die Nicht-Annahme einer Verfassungsbeschwerde mit Anführungszeichen gearbeitet: Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen, so heißt es dort. Offensichtlich will man damit seine Distanz zur Begrifflichkeit zum Ausdruck bringen, als ob dieses Wort eine Nicht-Realität widerspiegelt, zumindest kann man damit nicht viel anfangen. Vielleicht will man auch warnen, dass es sich um ein kontaminiertes Wort handelt. Dabei sind die Anführungszeichen begründungspflichtig, denn offensichtlich ist seine Verwendung mehr als weit verbreitet – ein einfacher Test mit Google fördert immerhin in nur 0,35 Sekunden „ungefähr 164.000 Ergebnisse“ zu Tage. Rein quantitativ gesehen muss da schon was dran sein. Aber eine Google-Suche kann auf der anderen Seite natürlich nicht wirklich ein Maßstab sein für die höchsten Richter unseres Landes bei der Beurteilung der Frage, ob etwas gegen die Verfassung verstößt.

Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Pflegemissstände in unserem Land – war da nicht schon mal was vor kurzem? Das wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnernd fragen. Genau, erst am 10 Januar 2016 konnte man hier den Beitrag lesen: Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab. Aber hier wird nichts aufgewärmt, sondern tatsächlich geht es bei dem neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts um ein anderes – angestrebtes – Verfahren.

Im Januar dieses Jahres ging es um den Vorstoß des in der Angelegenheit Pflegenotstand engagierten Armin Rieger, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen. Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.

Die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters wurde nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung abgelehnt, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.

Bei dem aktuellen Fall geht es um einen parallelen Vorstoß von anderer Seite. Auch über den wurde hier – bereits am 8. November 2014 – in einem eigenen Beitrag berichtet: Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten.  Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber „zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen“ zu bewegen. »So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben«, urteilte damals Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in seinem Artikel Aufschrei gegen den Pflegenotstand.

Die Nöte der Beschwerdeführer, zwischen 35 und 89 Jahre alt, die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden, wurden dem höchsten deutschen Gericht in einer 112-seitigen Klageschrift zugestellt worden. Hinter den Klägern stand der Sozialverband VdK. Die damalige Hoffnung war, dass wenn die Bundesverfassungsrichter zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, der Gesetzgeber dann in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen müsse.

»Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« So die Einschätzung bereits in dem Beitrag vom 8. November 2014. Referenzpunkt für diese Skepsis war die zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannte Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde des Herrn Rieger: »Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen ist Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«

Und genau das wurde als Achillesferse auch bei der VdK-Klage gesehen, denn »die formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG könnte sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen, da es sich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht.«

Neben der Vorahnung, dass auch dieser Vorstoß aus primär formalistischen Gründen auflaufen wird, wurde damals ein weiteres Fragezeichen hinsichtlich einer möglichen Rolle des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen:

»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«

Dann schauen wir uns abschließend an, was das Bundesverfassungsgericht denn heute in seiner Pressemitteilung Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vorgetragen hat an Gründen für eine Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde (die Entscheidung im Original: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. Januar 2016 
– 1 BvR 2980/14):

»Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch grundgesetzwidriges Unterlassen des Gesetzgebers sowie die eigene und gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert vorgetragen wurde.«

Die Verfassungsrichter stützen ihre Entscheidung im Wesentlichen auf zwei Punkte:

»1. Nur in seltenen Ausnahmefällen lassen sich der Verfassung konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Ansonsten bleibt die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber überlassen. Ihm kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, kann vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt nachgeprüft werden. Es kann erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat.«

Genau dieses Erfordernis sehen die Verfassungsrichter aber bei der vorliegenden Verfassungsbeschwerde als nicht erfüllt an:

»Weder führen die Beschwerdeführer aus, unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten, noch zeigt die Verfassungsbeschwerde substantiiert auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.«

Dann wird noch ein zweiter Punkt nachgeschoben, der zum einen an die bekannte Argumentationsfigur der Nicht-Betroffenheit wie im Fall des Heimleiters Rieger erinnert, zum anderen aber an einer markanten Stelle hinausgeht:

»2. Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind … Vorliegend ist bereits die Notwendigkeit von stationärer Pflege in der Person der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gegeben. Hinzu kommt, dass Pflegebedürftige gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XI zwischen den für die Versorgung zugelassenen Pflegeheimen wählen können. Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen.«

Während der erste Teil der unter Punkt 2 vorgetragenen Argumentation der entspricht, mit der schon die Beschwerde des Herrn Rieger zurückgewiesen wurde, enthält der zweite Teil eine fast schon putzige Bewertung, die aber keineswegs den gerade bei einem Verfassungsgericht anzulegenden inhaltlichen Maßstäben genügen kann: Gleichsam im Fahrtwind eines sehr reduzierten und mit Blick auf die Lebenswirklichkeit mehr als fragwürdigen Postulats einer „Wahlfreiheit“ des Pflegebedürftigen zwischen verschiedenen Heimen wird in den Raum gestellt, jeder könne sich ja einem Heim mit Pflegenotstand entziehen. Das hat nun rein gar nichts mit der Versorgungsrealität vieler Menschen in vielen Regionen unseres Landes zu tun. Also entweder hätte man sich dieses Argument sparen sollen oder aber man muss das „substantiiert“ begründen können – das verlangt das Gericht von den Beschwerdeführern ja auch.
Aber was soll’s. Der letzte Satz im Zitat – »Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen« – macht deutlich, was der Kern der Botschaft aus Karlsruhe ist: Wir sind nicht zuständig, bei Details wendet euch bitte an die Fachgerichte. Man wird sicher erleichtert sein beim hohen Gericht, dass dieser Kelch an einem vorübergegangen ist angesichts der Tiefen und Untiefen, die mit dem Pflegenotstandsthema verbunden sind.
Und fürwahr – der Ball liegt damit wieder im Spielfeld, wo er hingehört: Es handelt sich um politische Weichenstellung und um konkrete gesetzgeberische Gestaltungen, mit denen man die mit dem Begriff des Pflegenotstands beschriebene Problematik bearbeiten müsste, sollte, könnte. Wenn man denn wollte.
Und mit dem Wollen ist das bekanntlich so eine Sache. Die Pflege, also vor allem und zuerst die Pflegekräfte, müssen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen. Beispielsweise das irgendwann einmal das, was beispielsweise auf Twitter unter dem Hashtag #Pflegestreik virtuell verhandelt wird, zu einer realen politischen Auseinandersetzung wird. 

Über den Tag hinaus schauen: Viele Bausteine für eine bessere Pflegepolitik

Es gibt sie natürlich immer noch, vielleicht sogar immer drängender, die „anderen“ Themen neben der Flüchtlingsfrage. Auch wenn ein Blick nicht nur in die Talk-Shows diese Wochen, sondern auch in die Zeitungen und sonstigen Medien den Eindruck vermitteln könnte, es geht nur noch um Flüchtlinge (und Parteien, die auf dieser Welle surfen).

Zu den einerseits drängenden, andererseits für eine parteipolitische Auseinandersetzung eigentlich überhaupt nicht passungsfähigen Themen von grundsätzlicher Bedeutung zählt sicher die Pflege. Über die Frage der Weiterentwicklung des Pflegesystems, hier insbesondere bezogen auf den Bereich der Altenpflege, wird auf allen Ebenen des föderalen Systems entschieden (oder eben nicht) – aber auf der kommunalen Ebene manifestieren sich die Betreuungs- und Pflegerealitäten. Und allein schon angesichts der enormen Anzahl unterschiedlicher Akteure, ganz abgesehen von den vielen Handlungsfeldern, sieht sich jede seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema zukünftige Gestaltung der Pflege konfrontiert mit einer hoch komplexen Vielgestaltigkeit an einzelnen Stellschrauben, an denen zu drehen wäre, zuzüglich des Denkens neuer Wege und Instrumente. Genau damit musste sich auch die am 27. März 2014 vom baden-württembergischen Landtag eingesetzte Enquetekommission „Pflege in Baden-Württemberg zukunftsorientiert und generationengerecht gestalten“ auseinandersetzen. Deren voluminöser Abschlussbericht ist nun veröffentlicht worden – insgesamt 1.012 Seiten in kleiner Schriftgröße verdeutlichen schon rein quantitativ die herkulische Aufgabe, eine Gesamtschau dessen vorzulegen, was es bedarf, um eine bessere Pflegepolitik zu gestalten.

Der umfangreiche Bericht und Empfehlungen der Enquetekommission „Pflege“ beinhaltet viele Problembeschreibungen und Handlungsempfehlungen. Er deckt sämtliche Aspekte der Pflegepolitik ab: Von der akutstationären Pflege im Krankenhaus bis zu Formen ambulanter oder (teil-)stationärer Altenpflege, Fragen der Pflegeberatung, der Aus- und Weiterbildung bis hin zu möglichen Formen der Aufwertung der Pflege im Vergleich zu den Heil- und Gesundheitsberufen. Entsprechend kann man die Lese- und Rezeptionsaufgaben, wenn man sich ihnen denn stellen will, auch so ausdrücken: 600 Empfehlungen für bessere Pflegepolitik, so hat Florian Staeck seinen Artikel in der Ärzte Zeitung dazu überschrieben.

Nun könnte man die Frage aufwerfen, warum sich eigentlich ein Landtag mit dieser Fragestellung beschäftigt. »Die Länder hätten jenseits der Sozialgesetzbücher viele eigene Gestaltungsoptionen, sagte Bärbl Mielich, Landtagsabgeordnete der Grünen und Obfrau ihrer Fraktion in der Enquete … Als Beispiel verwies sie auf die Ausgestaltung der Heimgesetze durch die Länder«, zitiert Staeck in seinem Artikel. Es sei in der Enquete um die „langen Linien“ jenseits der Tagespolitik gegangen. Eine mögliche Umsetzung der vielen Empfehlungen allerdings wird Aufgabe der nächsten Legislaturperiode, denn am 13. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt.

Wer sich im Bericht selbst einen Überblick verschaffen möchte, dem sei die Zusammenfassung auf den Seiten 11-21 empfohlen.

Staeck weist in seiner Zusammenfassung darauf hin, dass es teilweise bemerkenswerte fraktionsübergreifende Konsense in dem Bericht gibt, aber sich natürlich parteipolitische Differenzen an verschiedenen Stellen Bahn brechen. Aus seiner Zusammenfassung hier einige Punkte, die eine teilweise sehr kontroverse Behandlung in der aktuellen pflegepolitischen Debatte erfahren:

»Personalausstattung: In der Altenpflege wie im Krankenhaus müsse der Personalschlüssel „an die Versorgungsrealität“ angepasst werden. Für Kliniken solle die Bundesregierung eine „verbindliche gesetzliche Festlegung der Personalrichtwerte“ prüfen. Nötig sei ein eigenes „Kostengewicht Pflege im DRG-System“, damit der Pflegebedarf in der Finanzierungslogik abgebildet wird.«
Im Bericht selbst findet man in der Zusammenfassung diesen Hinweis: »Die Enquetekommission sieht es als notwendig an, die Personalschlüssel für Pflegeeinrichtungen, die in den 1990er Jahren festgelegt wurden und im Jahr 2003 kleinere Anpassungen erfuhren, der Versorgungsrealität anzugleichen« (Enquetekommission 2016: 14).

»Im Abschlussbericht werden größere Kompetenzen vor allem für die akademisierte Pflege als „unumgänglich“ bezeichnet. Bei einer neuen Aufgabenverteilung müssten die „Vorbehaltsaufgaben bei der Heilbehandlung neu definiert“ werden. Und: Die veränderten Aufgabenspektren müssten sich im „Budget der Leistungserbringer widerspiegeln“.«

Bekanntlich gibt es derzeit eine intensive befürwortende und ablehnende Diskussion über die „Verkammerung“ der Pflegeberufe, erst vor wenigen Tagen hat die erste Pflegekammer in Rheinland-Pfalz ihre Arbeit aufgenommen. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind auch in den Abschlussbericht eingeflossen:
»Pflegekammer: Nur auf einen Minimalkonsens hat sich die Enquete beim Thema Verkammerung geeinigt. Die Entscheidung über das Für oder Wider könne nicht „ohne ein Votum der in der Pflege beschäftigten Personen getroffen werden“, heißt es.
Schon das ging CDU und FDP zu weit: Sie plädieren dafür, die Entwicklung in anderen Bundesländern nur zu beobachten. Ende 2019 solle die Regierung dazu einen Bericht vorlegen.«

Relativ deutlich hingegen ist die Positionierung beim Thema Pflegeberatung:
»Pflegeberatung: Die Enquete verteilt schlechte Noten an die Pflegekassen: Nur wenige von ihnen würden dem Anspruch wohnortnaher Pflegeberatung gerecht, heißt es. Zudem seien die Beratungsangebote zu wenig bekannt. Unabhängig von den Kostenträgern und aufbauend auf die Pflegestützpunkte solle die Landesregierung ein „leistungsfähiges Beratungs- und Casemanagement“ aufbauen. Beratung müsse „kleinteiliger, mobiler und zugehender“ werden.«

Bei dem wichtigen Punkt der Pflegefinanzierung musste die Kommission die Segel streichen, denn hier war ein Konsens nicht erreichbar, deshalb hat die Komission die jeweiligen Positionen zur Pflegefinanzierung von CDU und FDP einerseits sowie Grünen und SPD andererseits gegenübergestellt.

Ansonsten findet man in dem Abschlussbericht sehr viel Material und Anregungen für die pflegepolitische Debatte.

Einen „Ausstrahlungseffekt“ hat die 21-monatige Arbeit in Baden-Württemberg auf alle Fälle – nach Sachsen. »Dort ist das Gremium jüngst unter dem Arbeitstitel „Sicherstellung der Versorgung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege älterer Menschen im Freistaat Sachsen“ eingesetzt worden und hat vergangene Woche zum ersten Mal getagt.«