Reform der Pflegeausbildung: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Von der Dreigliedrigkeit zum 1.+2. (+3.) Generalistik- bzw. (ab 3.) Y-Optionsmodell

Im wahrsten Sinne des Wortes kurz vor Ladenschluss ist es vollbracht worden – Bundestag be­schließt Reform der Pflegeausbildung, so ist der entsprechende Bericht des Parlaments überschrieben. »Kurz vor Ende der Wahlperiode hat der Bundestag am Donnerstag, 22. Juni 2017, mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen doch noch die umstrittene Reform der Pflegeausbildung verabschiedet. Die Abgeordneten stimmten für den Gesetzentwurf der Bundesregierung in geänderter Fassung.« Ursprünglich von der Bundesregierung vorgesehen war ein durchgängig generalistisches Ausbildungskonzept (BT-Drs. 18/7823), das die drei Berufszweige Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege in einer einheitlichen Pflegeausbildung zusammenfassen sollte. Der eigentliche Gesetzentwurf zur Umstellung auf eine generalistische Ausbildung stammt vom 9. März 2016 – und im Vergleich zu dem, was wir jetzt bekommen haben, strahlt er eine ganz eigene Klarheit aus: »Die bisherigen drei Ausbildungen in der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege und der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege werden reformiert und zu einem einheitlichen Berufsbild zusammengeführt; die bestehende Dreigliederung der Pflegeberufe wird aufgehoben. Ergänzend zur fachberuflichen Pflegeausbildung wird eine bundesgesetzliche Grundlage für eine primärqualifizierende hochschulische Pflegeausbildung geschaffen. Die neue Ausbildung bereitet auf einen universellen Einsatz in allen allgemeinen Arbeitsfeldern der Pflege vor, erleichtert einen Wechsel zwischen den einzelnen Pflegebereichen und eröffnet zusätzliche Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten. Die Ausbildung wird in ein gestuftes und transparentes Fort- und Weiterbildungssystem eingepasst und die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Qualifikationsstufen in der Pflege verbessert. Die Ausbildung ist für die Auszubildenden kostenlos.« (BT-Drs. 18/7823: 1 f.)

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Die „Pflegemafia“ aus dem Osten reloaded: Organisierte Kriminalität, Geschäfte an und mit alten Menschen und die nicht-triviale Frage: Was tun?

Gerade in der Presse sollte man mit Sorgfalt die Worte wägen und benutzen. Dieser Satz gehört nicht dazu: »Rund 230 überwiegend russische Pflegedienste stehen im Verdacht, ein System für Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« Da wird sich der eine oder andere fragen – wieso „russische“ Pflegedienste? Was haben die in Deutschland verloren? Und stimmt das überhaupt?
Der Satz stammt aus diesem Artikel von Anette Dowideit: Hunderte Pflegedienste unter Betrugsverdacht. Und darin schreibt sie, dass das mit den „russischen Pflegediensten“ aus dem Abschlussbericht von Sonderermittlern des BKA und LKA aus Nordrhein-Westfalen hervor gehe, der ihr und dem Bayerischen Rundfunk vorliegt. Der BR veröffentlichte zeitgleich unter der Überschrift Sonderermittler vermuten bundesweites Netzwerk. Dort findet man dann diese Typisierung: »Rund 230 russisch-eurasische ambulante Pflegedienste stehen nach Erkenntnissen deutscher Ermittlungsbehörden im Verdacht, ein bundesweites System zum Abrechnungsbetrug aufgebaut zu haben.« „Russisch-eurasische“ Pflegedienste – das wird ja immer bunter. Natürlich kommen da bei nicht wenigen Lesern unangenehme Assoziationen zur „Russenmafia“ auf. Und die Berichterstattung liefert einiges Futter für diese Einordnung: »Bei einigen der 230 Unternehmen, die dem Betrugsnetzwerk angehören sollen, gehen die Ermittler zudem von Verbindungen zur Organisierten Kriminalität aus. So zum Beispiel wegen der Einrichtung von Scheinfirmen im In-und Ausland, wegen des Verdachts der Geldwäsche oder enger Verflechtungen zur Glücksspielbranche. Unter ehemaligen Firmenbetreibern sollen außerdem auch Personen sein, die von den Behörden in anderem Zusammenhang als Auftragsmörder verdächtigt werden.« Geldwäsche bis hin zu Auftragskillern? Und dann die armen Pflegebedürftigen, die von solchen Gestalten ausgenommen werden?

Nun hat sich die Autorin das nicht ausgedacht, sondern sie zitiert in ihrem Artikel aus einem Abschlussbericht „Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch russische Pflegedienste“, den das nordrhein-westfälische LKA gemeinsam mit dem BKA und anderen Länderbehörden erstellt hat. Also doch „russische“ Pflegedienste?

In einem weiteren Artikel von Anette Dowideit unter der Überschrift Die Verbindungen der Pflegemafia zu Auftragsmorden, Geldwäsche und Schutzgeldzahlungen findet man dann zum einen nur einen Hinweis aus der Präsentation des LKA NRW bei der Senatsverwaltung in Berlin, dass »offenbar Verbindungen zu Auftragsmord und in einem Fall zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nachgewiesen« wurden, aber das bleibt dann so im Raum stehen. Zum anderen aber kann man dem Artikel entnehmen: »Die mutmaßlichen Täter kommen vor allem aus der Ukraine.« Eine Folie der LKA-Präsentation ist überschrieben mit: „Auffällig ist die hohe Anzahl von Firmenverantwortlichen mit einem Migrationshintergrund aus der Ukraine (i.d.R. deutsche Staatsangehörige).“

Also was jetzt – Russen oder Ukrainer? Irgendwie Osteuropäer oder Deutsche (oder eben beides)? Und selbst wenn das Netzwerk der Pflegedienste gesteuert wurde von Osteuropäern, um mal einen Kompromiss zu finden, haben die mit ihren Pflegediensten in Deutschland agiert und dabei – das taucht auch in den aktuellen Bereichen immer wieder auf – auf Ärzte und Apotheker zurückgegriffen. »Oft arbeiten dabei ein, zwei korrupte Ärzte mit Pflegedienstleitern und nur angeblich betreuten Senioren zusammen«, so heißt es in diesem Artikel Die „Pflegemafia“ wird zum Politikum von Hannes Heine.

Nun wird sich der eine oder andere treue Leser dieses Blogs daran erinnern – war das nicht alles schon mal Thema? Genau. Vor etwas mehr als einem Jahr, am 18. April 2016, wurde hier dieser Beitrag publiziert: Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe. Und der Beitrag damals beginnt so: Wenn Artikel so anfangen, dann deutet alles auf einen ganz großen Skandal hin: »Sie kommen meist aus Russland, sie sind professionell – und raffiniert. Über Kirchengemeinden suchen sie Kontakt zu Angehörigen von Pflegebedürftigen – und beginnen ihr düsteres, lukratives Business.« Und wer war Autor des erwähnten Artikels? Genau, Anette Dowideit, damals zusammen mit Dirk Banse.
Die beiden wurden so zitiert: »Ambulante Pflege ist ein lukrativer Markt, auf dem sich viele dubiose Anbieter tummeln. Seit Jahren gibt es Berichte über osteuropäische Firmen, die Kranken- und Pflegekassen abzocken, indem sie Senioren als Pflegefälle ausgeben, die in Wahrheit noch rüstig sind.« Und dann kommen bereits fast alle Fallkonstellationen, die auch jetzt wieder durch die Medienwelt getrieben werden. Heute noch angereichert um die Ermittlungserkenntnis, dass es möglicherweise ein bundesweit agierendes Netzwerk der betrügenden Firmen gibt.

Und bereits im Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2015, das im Oktober 2016 vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden ist, findet man dieses Fallbeispiel zur Organisierten Kriminalität im Wirtschaftsleben:

»In einem OK-Verfahren wegen bandenmäßigen Betrugs standen fünf deutsche Staatsangehörige mit russischem Migrationshintergrund im Fokus der Ermittlungen. Seit dem Jahr 2011 betrieben die Beschuldigten einen ambulanten Pflegedienst, um das deutsche Pflegesystem zur eigenen Gewinnmaximierung auszunutzen. Im Zuge der Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen wurden zahlreiche Beweismittel sichergestellt sowie umfangreiche Erkenntnisse zur bundesweiten Vorgehensweise der Täter gewonnen.

Nicht oder nur zum Teil erbrachte Pflegeleistungen wurden bei den Kostenträgern (Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter) abgerechnet. Zur Verschleierung der Betrugshandlungen führten die Mitarbeiter des Pflegedienstes die Pflegedokumentation gemäß den Vorgaben der Rahmenverträge nur unzureichend durch oder nutzten zwei unterschiedliche Dienst‐ bzw. Tourenpläne – den ersten für Abrechnungszwecke, den zweiten für tatsächlich durchgeführte Leistungen.

Um die Anforderungen der Rahmenverträge zu erfüllen, machten die Pflegedienst‐Verantwortlichen gegenüber den Kostenträgern zudem falsche Angaben zum tatsächlich eingesetzten Pflegepersonal bzw. zu deren jährlichen Weiterbildungen. In diesem Zusammenhang wurden Zertifikate für einschlägige Aus- und Weiterbildungen gefälscht, so dass Mitarbeiter mit häuslicher Krankenpflege betraut werden konnten, obwohl die entsprechenden Qualifikationen dafür nicht vorlagen. Weiterhin wurden einige Pflegepatienten in die Betrugshandlungen teilweise eingebunden. Einerseits wurde ihnen Bargeld übergeben oder in Vorbereitung auf das Gespräch zur Pflegeeinstufung auf sie eingewirkt, andererseits wurden einige Mitarbeiter bewusst vom Pflegedienst eingestellt, um die Pflege der eigenen Angehörigen zu übernehmen. Schließlich konnte nachgewiesen werden, dass der überwiegende Teil der Gesellschafter des Pflegedienstes geschäftliche Verbindungen zu anderen Pflegediensten unterhielt.

Kurzbewertung:
Das Ermittlungsverfahren hat gezeigt, welch hohes Schadenspotenzial vom Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen ausgeht. Alleine in diesem Ermittlungsverfahren ist den Kranken- und Pflegekassen sowie den Sozialämtern ein Schaden in Höhe von 1,4 Millionen Euro entstanden.«

Im Grunde war das also alles schon bekannt und wir werden jetzt mit ersten Ergebnissen einer seit Jahren laufenden Ermittlungsarbeit konfrontiert, die man als herkulische Aufgabe verstehen muss, denn es gilt ja, die Betrügereien im Detail nachzuweisen. Und das ist oftmals deshalb so schwierig bis unmöglich, weil hier nicht (nur) eine kriminelle Organisation andere schädigt, sondern wir im Regelfall mit einem Netzwerk mehrere unterschiedlicher Beteiligter konfrontiert sind. In nicht unerheblichem Maße funktionieren diese Betrugsmodelle nur dann, wenn auch die Betroffenen mit von der Partie sind, was man durch direkte Rückflüsse an die „Pflegebedürftigen“ oder Beteiligung der Angehörigen an den enormen „Gewinnmitnahmen“ der kriminellen Pflegedienste aus dem bestehenden System erreicht. Aber immer muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Pflegedienste  gemeinsame Sache mit Patienten und mit Ärzten machen und Leistungen abrechnen, die es nicht gab – zum Schaden aller Versicherten.

Und hier kommen wir zu einem Grundsatzproblem: Angesichts der demografisch bedingten Zunahme an pflegebedürftigen Menschen sowie der enormen Geldmittel, die allein aus der Pflegeversicherung (über 29 Mrd. Euro im Jahr 2015, hinzu kommen die privaten Pflegeausgaben sowie die „Hilfe zur Pflege“-Leistungen im Rahmen der Sozialhilfe) fließen, ist klar, dass wir es hier mit einem richtig großen Topf zu tun haben, aus dem sich auch kriminelle Akteure bedienen wollen – vor allem, wenn sie erkennen, dass das System Anreize setzt, den Weg der Falschabrechnung einzuschlagen, denn die Gewinnmaximierungsspielräume sind hier sehr hoch bei gleichzeitig sehr niedrigem Entdeckungsrisiko.

Wir haben es also mit zwei problematischen Dimensionen zu tun:

  • Zum einen gibt es – das legen die aktuellen Ermittlungsergebnisse nahe – einen kleinen, aber hochgradig kriminellen Kern an Pflegediensten (derzeit geht es beispielsweise um 230 von gut 14.000 Pflegediensten, was nicht heißen soll, dass die wirkliche Zahl nicht weitaus höher liegen kann, aber dennoch nur einen kleinen Teil der Dienste insgesamt berührt), die oftmals eingebettet in relativ stark geschlossene Gruppen wie den Zuwanderern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion agieren und dort komplexe Netzwerke „auf Gegenseitigkeit“ formieren können, die es überaus schwierig machen, konkrete Verfehlungen nachzuweisen.
  • Auf der anderen Seite haben wir es aber auch mit einem veritablen Systemproblem zu tun. Wenn man die Pflege in eine Minutenpflege zerlegt und diese dann zur Grundlage der Abrechnungsfähigkeit macht, dann ist es realitätsfern anzunehmen, dass die damit immer auch einhergehenden „Spielräume“ bei der Dokumentation der (angeblich) erbrachten Leistungen nicht auch mehr oder weniger stark in Anspruch nimmt, so dass wir mit einem Kontinuum fließender Übergänge zwischen partiellen Mitnahmeeffekten bis hin zu einem betrügerische Geschäftsmodell konfrontiert sind.

Bleibt wie so oft die Frage: Was tun? Und wie so oft muss an dieser Stelle voran gestellt werden: Auch wenn man sich eine andere Antwort wünschen würde, es gibt hier keine wirklich befriedigende Auflösung der angesprochenen Probleme.

Natürlich muss der harte Kern der kriminellen Akteure auf dem dafür vorgesehenen Weg der Strafverfolgung und über eine Erhöhung des Kontrolldrucks auf „auffällige“ Pflegedienste bekämpft werden. Das kann gelingen, in dem man – wie jetzt auch wieder gefordert – Schwerpunktstaatsanwaltschaften einrichtet, die in der Lage sind, das „Haifischbecken“ Gesundheit und Pflege zu durchdringen und die über den erforderlichen Spezialisierungsgrad verfügen. Und man muss an dieser Stelle dann schon die Frage aufwerfen, warum es keine genaue Kontrolle bei der Gründung bzw. der Geschäftsaufnahme gibt, die eine genaue Prüfung – und wenn Zweifel vorhanden sind – auch konkrete Inaugenscheinnahme vor Ort mit sich bringt. Eine engmaschige Begleitung könnte hier sicher eine abschreckende Wirkung entfalten.

Weitaus schwieriger wird es, wenn wir uns von den kriminellen Ausformungen im engeren Sinne entfernen und in die Regelsysteme eintauchen. Auch die würden davon betroffen sein, wenn Vorschläge verwirklicht werden, wie man sie in diesem Artikel über Reaktionen auf die jüngsten Veröffentlichungen lesen kann: Elektronische Abrechnung im Kampf gegen Pflegemafia gefordert, so ist ein Artikel von lse Schlingensiepen und Matthias Wallenfels überschrieben.

»Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch fordert Konsequenzen aus dem am Dienstag bekannt gewordenen Pflegebetrugsskandal, bei dem mafiöse Strukturen eine zentrale Rolle spielen. „Es wird höchste Zeit, dass die Pflegeleistungen elektronisch abgerechnet werden“, sagt er. Die Zettelwirtschaft aus dem vergangenen Jahrhundert müsse ein Ende haben.

Brysch geht noch einen Schritt weiter: „Ebenso ist eine einheitliche lebenslange Patientennummer notwendig.“ Vergleichbar der Steuernummer sollte sie jeder bei der Geburt erhalten und wird damit eindeutig identifizierbar. Mit der Patientennummer könnten Schummeleien von Pflegediensten, aber auch von Ärzten, Apothekern und Patienten schneller zu Tage treten, so Brysch … Handlungsbedarf erkennt er auch beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). „Wenn Identitäten der Antragsteller nicht überprüft werden, ist es nicht verwunderlich, dass eine Person mehrfach unter wechselnden Namen Pflegeleistungen erhält“, kritisiert er.«

Der Vorsitzende des Pflegerats NRW, Ludger Risse, wird in dem Artikel mit diesen Worten zitiert: »Die MDK-Prüfungen bei ambulanten Pflegediensten sind bereits sehr umfangreich und binden eine Menge Kapazitäten … „Ich wundere mich, dass ein Betrug in solchem Ausmaß überhaupt möglich ist“ …  Seiner Meinung nach müssen die Kontrollen nicht grundsätzlich schärfer werden, sondern gezielter die Lücken im System ins Visier nehmen.«
Gerade weil private Anbieter sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich die Pflege vor allem als Instrument der Gewinnmaximierung sehen, müsse man genau hinschauen.

Aber die Bundesregierung wiegelt ab: »Keinen weiteren Gesetzgebungsbedarf zur Pflegebetrugsprävention sieht der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl Josef Laumann (CDU). Er verweist auf die Kontrollbefugnisse des MDK, die mit dem Pflegestärkungsgesetz III ausgeweitet wurden. Bei den Pflegebetrugsfällen, die jetzt ans Licht gekommen sind, handele es sich noch um Altlasten. Alles, was jetzt bekannt werde, sei auch dem geschuldet, dass die Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet wurden.«

Die Bundesregierung versucht, den Ball flach zu halten. Unabhängig davon plädiert Philipp Neumann in seinem Artikel Ambulante Pflege nicht unter Generalverdacht stellen: »Dass die Pflege ein attraktives Geschäftsfeld ist und damit auch für Kriminelle interessant, kann nicht überraschen. Der Markt für Gesundheitsleistungen wächst enorm. Wir leben länger und sind länger mobil. Es gibt auf diesem Markt also immer mehr Geld zu verdienen; auch ohne kriminelle Absichten ist das ein Milliardengeschäft.« Aber er weist auch auf ein Dilemma hin:

»Ambulante Pflegedienste lassen sich schwerer kontrollieren als Pflegeheime. Ein Heim ist ein halb öffentlicher Ort, amtliche Prüfungen sind dort eher und öfter möglich als in privaten Wohnungen. Die eigenen vier Wände aber sind unverletzlich. Kontrolleure können nicht unangemeldet vor der Tür stehen und sich Einlass verschaffen. Ambulante Pflege ist deshalb – trotz aller existierender Kontrollen – vor allem Vertrauenssache … Schwierig wird es, wenn alle Beteiligten unter einer Decke stecken. Nur weil im vorliegenden Fall auch wirklich alle mitgemacht haben, konnte der Betrug überhaupt funktionieren … Mehr Ermittler, Schwerpunktstaatsanwaltschaften und überhaupt Stellen, bei denen Betrug gemeldet werden kann, sind sicher hilfreich. Grundsätzlich aber besteht kein Anlass, das System der ambulanten Pflege unter Generalverdacht zu stellen. Ein Restrisiko, dass dabei etwas schiefgeht, müssen wir in Kauf nehmen.«

Das mag für den einen oder anderen resignativ daherkommen, aber eine wirklich eindeutige Alternative ist nicht zu erkennen. Man könnte natürlich an dieser Problematik andockend eine Grundsatzfrage aufwerfen wie die, ob es in der Pflege alter Menschen wirklich sinnvoll ist, gewinnorientierte Unternehmen zuzulassen oder ob gemeinnützige oder kommunale Anbieter möglicherweise besser wären, strukturell gegen die Anreize aus dem System zu wirken. So eine Debatte kann man führen, aber auch hier wird man nicht zu einfachen Antworten kommen können.

Die „Verkammerung“ der Profession Pflege stolpert vor sich hin und Bayern geht einen freistaatlichen Sonderweg – mit Folgen

Deutschland ist ein „verkammertes Land“. Also zumindest mit Blick auf bestimmte Berufe und Professionen. Überall stößt man auf berufsständische Kammern. Bei den Ärzten gibt es selbstverständlich und seit langem Ärztekammern. Wie auch bei anderen Professionen, man denke hier an die Rechtsanwälte mit den Rechtsanwaltskammern als berufsständische Organisation. Die Notare, die Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, die Architekten und die Ingenieure haben ihre Kammern. Das Institut für Kammerrecht (IFK) stellt eine Übersicht über das damit verbundene und aufgrund der Breite notwendigerweise weit gefächerte Berufskammerrecht zur Verfügung.
Ärztekammern sind die Träger der berufsständischen Selbstverwaltung der deutschen Ärzte. Es gibt 17 Landesärztekammern (im Bundesland Nordrhein-Westfalen sind es mit Nordrhein und Westfalen-Lippe zwei eigenständige Länderkammern). Und es gibt – natürlich – eine Bundesärztekammer.
Neben den Berufskammern kennen wir die Wirtschaftskammern, also die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Landwirtschaftskammern und in zwei Bundesländern, Bremen und Saarland, gibt es sogar eine Arbeitnehmerkammer. Dieses Kammerwesen ist der institutionelle Ausdruck einer letztendlich nur historisch zu verstehenden funktionalen Selbstverwaltung, wobei der Begriff bereits andeutet, dass dahinter eine eigenständige Philosophie der Steuerung steht, die sich bewusst abgrenzt von einer unmittelbaren Durchgriffssteuerung seitens des Staats, diesen zugleich durch Übernahme auch hoheitlicher bzw. originär staatlicher Funktionen entlasten soll.

Und die Pflege als Profession möchte auch gerne im Kammerkonzert mitspielen – das es übrigens nicht nur in Deutschland gibt, in vielen anderen Ländern kann man Pflegekammern vorfinden. Nicht erst seit kurzem. Seit Jahrzehnten fordern Pflegekräfte die Selbstverwaltung ihres Berufes. In den 1970er Jahren forderten Pflegekräfte auf dem 4. Nationalen Kongress für Krankenpflege 1981 in Hamburg die Errichtung einer Kammer für Pflegeberufe.

Dort formulierten Krankenschwestern und Krankenpfleger das Dilemma der Pflege durch die Überfremdung ihres Berufstands, die sie durch Tätigkeitsdelegation seitens der Ärzte, fehlende adäquate Stellenplan- oder Ausbildungsnovellierungen und mangelnde Klärung diffuser Rechtssituationen charakterisiert sahen (vgl. dazu den Vortrag von Robert Roßbruch (2014): Werdegang zur Pflegekammer in Rheinland-Pfalz – Perspektiven und Chancen einer Pflegekammer in NRW).

Mitte der 1980er Jahre, so kann man diesem Artikel entnehmen, »entsteht die Arbeitsgruppe Münchener Pflegekräfte (AMP). Sie setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung der Pflegenden ein. Zusammen mit Gewerkschaften und Pflegeverbänden demonstriert sie bundesweit für grundlegende inhaltliche Veränderungen und die Selbstverwaltung des Pflegeberufs. Auf der Delegiertentagung des Bundesausschusses der Arbeitsgemeinschaften der Unterrichtsschwestern und Unterrichtspfleger plädieren leitende Pflegekräfte 1989 ebenfalls für die Errichtung von Pflegekammern. Zu Beginn der 1990er Jahre teilt sich die Arbeitsgruppe Münchener Pflegekräfte in die Pflegegewerkschaft und in den Förderverein zur Gründung einer Pflegekammer in Bayern … In nahezu allen Bundesländern werden ebenfalls Fördervereine und Initiativgruppen gebildet.«

Wie man schon erkennt, müssen hier auf der Zeitachse ganz dicke Bretter gebohrt werden. Und so langsam geht der Prozess auch weiter: »Am 11. Februar 1995 konstituiert sich der Runde Tisch zur Errichtung von Pflegekammern. Er vernetzt alle bis zu dem Zeitpunkt gegründeten Fördervereine und die die Kammergründung mittragenden Pflegeverbände. Im Jahr 1997 geht dieser dann in der Nationalen Konferenz zur Errichtung von Pflegekammern in Deutschland auf, die mit der pflegepolitischen Dachorganisation, dem 1998 gegründeten Deutschen Pflegerat, kooperiert.«
Und jetzt schieben wir uns mal weitere 20 Jahre nach vorne, bis man diese Nachricht zur Kenntnis nehmen darf: Am 17. Dezember 2014 wird die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz als bundesweit erste Pflegekammer gegründet.

Und im Jahr 2017? Bislang gibt es lediglich in Rheinland-Pfalz eine arbeitsfähige Pflegekammer. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen sind Kammern in der Gründungsphase. Nordrhein-Westfalen prüft eine Initiative.

Auf dem Deutschen Pflegetag 2016 forderte Andreas Westerfellhaus, der Präsident des Deutschen Pflegerates, »die Verkammerung der Pflegeberufe durch die Bildung einer Bundespflegekammer zu forcieren. Spätestens 2017 solle eine Bundespflegekammer die Arbeit aufnehmen.« Eigentlich wäre dazu natürlich der Unterbau erforderlich, also die Existenz von Landespflegekammern wie in Rheinland-Pfalz. Aber da ist offensichtlich nicht nur noch ein weiter Weg zurückzulegen, wenn man in die einzelnen Bundesländer schaut (vgl. dazu die gute Übersicht Errichtung von Pflegekammern in den einzelnen Bundesländern vom 22.03.2017), sondern mit Bayern haben wir aktuell den Fall einer bewussten Abkoppelung von einer möglichen einheitlichen Verkammerung auf Bundesländer- und dann auch auf der Bundesebene.

Man kann den jahrelangen Auseinandersetzungen um die (Nicht-)Gründung von Landespflegekammern entnehmen, dass diese Institution nicht annähernd konsensual, sondern ganz im Gegenteil hoch konfliktär diskutiert wird. Auf der Seite der Widerständler gegen eine Verkammerung findet man „interessante“ Koalitionen, so die Anbieter privater Pflegeeinrichtungen, die vehement Front machen, aber auch die Gewerkschaft ver.di, die offensichtlich eine Konkurrenz zu ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten sieht. Aber auch unter den Pflegekräfte selbst, so die bislang vorliegenden Befragungsergebnisse, gibt es teilweise sehr hohe Ablehnungswerte, oftmals machen sich diese fest am Institut der Zwangsmitgliedschaft und der Zwangsbeiträge für alle Pflegekräfte. Das oll und kann hier nicht im Detail ausdifferenziert werden.

Schauen wir nach Bayern. Denn dort ist diese Tage eine ganz eigene Entwicklungsrichtung beschritten worden, die Folgen haben wird bis hinauf auf die Bundesebene, wenn das so durchgezogen wird. Denn die Bayern haben dem bisherigen Optionenraum – Landespflegekammer ja oder nein (bzw. vielleicht mal später) – eine dritte Variante hinzugefügt, die man durchaus so charakterisieren kann: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Statt einer Landespflegekammer soll es eine „Vereinigung der bayerischen Pflege“ geben.

Der bereits erwähnten Übersicht über den Stand der Errichtung von Pflegekammern in den Bundesländern kann man zu Bayern entnehmen:

»Am 18. Oktober (2016) befasste sich der bayerische Landtag erstmals mit dem Gesetzentwurf zur Errichtung einer Vereinigung der bayerischen Pflege. Mitte Juli 2016 hatte sich das bayerische Kabinett gegen die Einführung einer Pflegekammer und für eine „Vereinigung der bayerischen Pflege“ entschieden.  Die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung wäre im Gegensatz zu einer Mitgliedschaft in einer Pflegekammer freiwillig und beitragsfrei. Die bayerische Gesundheitsministerin betonte, dass die Vereinigung bei allen Gesetzgebungsverfahren, die die Pflege betreffen, eingebunden würden. Dieser bayerische Sonderweg ist umstritten. Der Landtag hat den Gesetzentwurf jetzt erst einmal zur weiteren Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und Pflege überwiesen.«

Und nun diese Meldung: Pflegekräfte bekommen freiwillige Interessenvertretung. »Der Landtag in München stimmte am Donnerstag für die Einrichtung einer „Vereinigung der Pflegenden in Bayern“. Das Gesetz tritt am 1. Mai in Kraft. Bis zum Herbst soll ein Gründungsausschuss berufen werden. Im Gegensatz zu einer Pflegekammer ist die Mitgliedschaft in der Vereinigung freiwillig und kostenlos.« Das ist nun wirklich ein Sonderweg. „Mit diesem Konzept nutzen wir die wesentlichen Vorteile einer klassischen Kammer, ohne gleichzeitig die Pflegekräfte mit Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträgen zu belasten“, wird die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) zitiert.
Die „Pflege-Vereinigung“ soll eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sein, ohne Pflichtmitgliedschaft oder Beitragszahlungen. Die Finanzierung soll staatlich erfolgen. Für die Vereinigung soll es kammerähnliche Befugnisse geben, wie die Berufsaufsicht und die Anerkennung von Weiterbildungen. Die Berufs- und Weiterbildungsordnung selbst soll aber der Staat erlassen, anders als etwa bei der Ärztekammer. Damit ist aber auch klar – sollte der Ansatz einer Bundespflegekammer wirklich den Forderungsraum verlassen, dann wären die Bayern nicht dabei. Mit diesem Sonderweg torpedieren die Bayern diesen Weg – und sie sehen ihr Modell als das an, was es ist: ein Spaltpilz für die anderen Bundesländer, die sich noch nicht entschieden haben.
Der „bayerische Weg“ könne auch Vorbild für andere Bundesländer in der bundesweit geführten Pflegekammer-Debatte sein, so wird folgerichtig die bayerische Gesundheitsministerin zitiert.

Fazit: Das Gewürge um eine Verkammerung der Pflege geht weiter und wird durch den bayerischen Sonderweg zusätzlich verkompliziert. Letztendlich, so muss man es wohl bilanzieren, sind wir erneut mit der strategischen Schwäche der Pflegeprofession in Deutschland konfrontiert, die sich auch bei dem ebenfalls mehr als „schwierigen“ Prozess einer Reform der Pflegeausbildung gezeigt hat (vgl. dazu den Beitrag Von allem etwas und später mal nachschauen, was passiert ist? Der Kompromiss zur Reform der Pflegeausbildung vom 8. April 2017). Schade, sehr schaden, wenn man bedenkt, dass wir genau das Gegenteil bräuchten, einen energischen Professionalisierungsschub der Pflege, der nicht nur inhaltlich fundiert und ausgestaltet sein muss, sondern sich auch institutionell ausdrücken sollte.