Der gesetzliche Mindestlohn wird in die Mangel genommen – jetzt gibt es sogar angeblich eine „Ohrfeige“ für die Bundesregierung. Zur Kritik des „Normenkontrollrats“ an dem Gesetzentwurf zum Mindestlohn

Er war schon immer ein Aufregerthema und heftig umstritten, nun aber wird es – zumindest semantisch – richtig gewalttätig rund um den geplanten gesetzlichen Mindestlohn: „Eine Ohrfeige für die Bundesregierung„, so ist ein Artikel in der FAZ überschrieben. Es wird darüber berichtet, dass der beim Bundeskanzleramt angesiedelte Normenkontrollrat – ein zehnköpfiges Expertengremium, das 2006 von der damaligen großen Koalition eingesetzt wurde, um „für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ zu sorgen – den Gesetzentwurf zum Mindestlohn geprüft hat. Das Urteil des Gremiums fällt angeblich vernichtend aus: Die Kosten und Folgen seien mangelhaft kalkuliert. Um welche Kritikpunkte geht es genau und wie sind diese zu bewerten?

Es sind vor allem drei Kritikpunkte, die seitens des Normenkontrollrats vorgetragen werden, folgt man der Berichterstattung von Dietrich Creutzburg und Heike Göbel:

1.) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht nur auf Bürokratiekosten im engen Sinne ein, die „für die Wirtschaft nur in geringem Maße“ anfallen würde. Der Normenkontrollrat weist darauf hin, dass der geplante Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde die Unternehmen nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte.

2.) Das Gremium kritisiert außerdem die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Der Normenkontrollrat moniert, »dass die Regierung den Verwaltungsaufwand durch die geplanten Mindestlohn-Kontrollen nicht beziffert habe, sondern nur allgemein auf „höhere Personal- und Sachkosten“ bei der Zollverwaltung hinweist. Das zuständige Ressort – das Finanzministerium – sei aber verpflichtet, den damit einhergehenden Erfüllungsaufwand darzustellen.«

3.) Schlussendlich bemängelt der Rat eine „unvollständige“ Darstellung möglicher Alternativen zum vorliegenden Mindestlohngesetz. »So hätte die Bundesregierung zumindest erläutern müssen, warum das Anfangsniveau des Mindestlohns mit 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 gesetzlich festgelegt werden solle.« Der Rat vermisst den Hinweis auf die aus ihrer Sicht „relevante Alternative“, einen (zunächst geringeren) Mindestlohn auf Vorschlag einer unabhängigen Kommission festzulegen.

Zur Bewertung der drei Kritikpunkte:

Hinsichtlich der im Punkt 3.) genannten darzustellenden „relevanten Alternative“: Das ist grundsätzlich richtig ist und praktisch selbst von einigen Mindestlohnbefürwortern im Vorfeld der Debatte, die nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geführt hat, ausdrücklich gefordert worden – vor allem von denjenigen, die der Bundesregierung ein Vorgehen nach dem Modell der in Großbritannien agierenden „Low Pay Commission“ empfohlen haben. Allerdings erscheint doch die Art und Weise der Präsentation dieser Alternative seitens des Normenkontrollrats selbst mehr als einseitig, denn offensichtlich kann sich der Rat nur einen „zunächst geringeren“ Mindestlohn vorstellen – was jetzt irgendwie halbiert rüberkommt, denn möglicherweise wäre eine unabhängige Kommission ja auch zu einem anderen Ergebnis gekommen, was das Anfangsniveau angeht.

Zu 1.) lässt sich sagen, dass – wenn die Berichterstattung über die bislang öffentlich nicht zugängliche, aber der FAZ vorliegenden sechsseitigen Stellungnahme des Normenkontrollrats zum Mindestlohn-Gesetzentwurf die Position des Gremiums richtig wiedergibt – hier unterschiedliche Kosten vermengt werden. Zum einen ist von „Bürokratiekosten“ die Rede, die man – soweit vorhanden – auch für die Wirtschaft ausweisen müsste, zum anderen aber werden DIW-Zahlen zitiert, nach denen der Mindestlohn die Unternehmen »in der Anfangsphase mit etwa 16 Milliarden Euro belasten dürfte«. Das nun sind aber die Kosten durch die Lohnerhöhung, die da kalkuliert werden und auch nur – ohne das hier vertiefen zu wollen – die Bruttokosten, denen u.a. an anderer Stelle entsprechende Einsparungen gegenüberstehen können (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?„).

Relevant sind die Hinweise beim Punkt 2.), denn hier wird tatsächlich eine offensichtliche Leerstelle im bislang vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung adressiert – die unvollständige bzw. schlichtweg fehlende Kalkulation und Offenlegung der mit der Einführung des Mindestlohns anfallenden Kontrollkosten. Dies muss auch vor dem Hintergrund einer bereits seit längerem vorgetragenen Kritik an der fehlenden Konkretisierung des zusätzlich erforderlichen Personalbedarfs für die Kontrolle des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gesehen und bewertet werden. Vgl. hierzu stellvertretend den Anfang April veröffentlichten Artikel „Opposition fordert mehr Fahnder“ von Karl Doemens: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll soll die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns überprüfen. Doch dort sind schon gegenwärtig bis zu 500 der 6.700 Planstellen nicht besetzt. Also eine bestehende Unterbesetzung für die gegebenen Aufgaben, die nun ja noch angereichert werden um ein richtig großes Paragrafenwerk. Da ist es schon mehr als vorsätzlich, wenn man zu dem damit verbundenen Mehrbedarf an Personal im Gesetzentwurf außer heißer Luft – es wird einen „höheren Bedarf“ geben – nichts genaueres finden kann.
In dem Artikel von Doemens wird auch das mögliche Spektrum des mit der Mindestlohn-Kontrolle verbundenen personellen Mehrbedarfs skizziert:

»Die Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft hatte 2.000 bis 2.500 weitere Stellen gefordert. Die IG Bau hält 3.500 zusätzliche Kontrolleure für nötig. Linken-Parteichefin Katja Kipping fordert gar 5.000 neue Stellen.«

Dazu kommen dann natürlich noch Sachkosten usw. Das muss man schon a) überhaupt und b) genauer ausweisen. An dieser Stelle ist der Kritik des Normenkontrollrats uneingeschränkt zuzustimmen.

Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?

Das tut manchem sicher gut, eine solche Überschrift frei Haus geliefert zu bekommen: „Der Mindestlohn verfehlt sein Ziel„, so Sven Astheimer. Da muss man natürlich zuerst einmal klären, was denn bitte schön das Ziel des Mindestlohns ist. Dazu erfahren wir: »Manche Menschen arbeiten und müssen trotzdem mit Hartz IV aufstocken. Dagegen sollte der Mindestlohn helfen. Ausgerechnet Forscher der Bundesagentur für Arbeit sagen jetzt: Das funktioniert nicht.« Astheimer bezieht sich hier auf die Studie „Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig“ von Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Die Forscher des IAB haben berechnet, »dass lediglich zwischen 43.000 und 64.000 berufstätige Hartz-IV-Bezieher durch die staatliche verordnete Lohnerhöhung den Sprung aus der Grundsicherung schaffen können. Das sind nicht einmal 5 Prozent aller rund 1,3 Millionen „Aufstocker“, die neben einem Arbeitseinkommen auch noch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.« Das kommt doch mehr als ernüchternd rüber. Haben nicht wichtige Apologeten eines gesetzlichen Mindestlohns immer wieder versprochen, dass mit diesem Instrumentarium der anzustrebende Zustand (wieder)hergestellt werden kann, dass man von seiner Hände Arbeit auch leben können muss, ohne auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen zu sein? Und dann das?

Schauen wir also genauer hin, was uns die Wissenschaftler da präsentieren. Dass die Bilanz des vor der Einführung stehenden Mindestlohnes hinsichtlich der Erwartung, damit die Transferabhängigkeit im Grundsicherungssystems deutlich reduzieren zu können, so schlecht ausfällt, überrascht nicht wirklich vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der Gruppe der „Aufstocker“. Denn hier wirken zwei grundlegende Faktoren, die auch bei einem höheren Mindestlohn als den nunmehr vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde eine weiter fortbestehende Abhängigkeit von aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System bedingen würden: Zum einen eine nur teilzeitige Beschäftigung, häufig im Gehäuse der „Minijobs“ und zum anderen eine über das Einkommen mitzuversorgende Zahl von Haushaltsmitgliedern, die ein hohes Einkommen notwendig machen.
In den Worten von Bruckmeier und Wiemers:

»77 Prozent der abhängig beschäftigten Leistungsbezieher arbeiten weniger als 32 Stunden in der Woche, 60 Prozent weniger als 22 Stunden und ein Drittel weniger als 11 Stunden … Weitere Ursachen für Einkommen, die zur Existenzsicherung nicht reichen, sind niedrige Stundenlöhne und die Haushaltsgröße bei häufig nur einem Erwerbstätigen im Haushalt. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Aufstockern betragen etwa 6,20 Euro. Die niedrigsten Stundenlöhne von durchschnittlich unter 5 Euro erzielen Alleinstehende in Ostdeutschland. Aufstocker aus Paarhaushalten in Westdeutschland erreichen hingegen bereits jetzt zu über einem Fünftel Stundenlöhne von über 10 Euro. Hier reicht der Verdienst wegen der Haushaltsgröße nicht zur Existenzsicherung aller Haushaltsmitglieder.«

Auf der Basis einer Simulationsstudie kommen die Wissenschaftler mit Blick auf die Aufstocker zu dem Ergebnis, dass 57.000 bis 64.000 von ihnen nach Einführung des Mindestlohnes keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld II hätten. Ein Teil dieser Personen würde stattdessen Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten.

Interessant ist aber ein weiterer Befund, den uns Bruckmeier und Wiemers präsentieren. In ihrer Zusammenfassung schreiben sie:

»Unter der Annahme, dass kurzfristig Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage konstant bleiben, senkt der Mindestlohn die Ausgaben für Arbeitslosengeld II um jährlich 700 Mio. bis 900 Mio. Euro. Mehrausgaben bei Wohngeld und Kinderzuschlag reduzieren die Einsparungen, sodass die Transferausgaben im Saldo um 500 Mio. bis 650 Mio. Euro zurückgehen. Insgesamt ergibt sich eine Entlastung der öffentlichen Haushalte zwischen knapp 2,2 Mrd. und gut 3 Mrd. Euro jährlich.«

Das sind doch ganz erhebliche Summen. Während die unmittelbare Entlastung von im Saldo 500 bis 650 Mio. Euro noch überschaubar daherkommt, kommen die Autoren zu einer Gesamtentlastung der öffentlichen Haushalte in Höhe von 2,2 bis 3 Mrd. Euro pro Jahr. Dies wird durch zusätzliche Steuer- und Sozialversicherungsbeitragseinnahmen generiert:

»Schätzungen zeigen, dass im Falle der Einführung des Mindestlohnes kurzfristig mit einem Anstieg der Einkommenssteuereinnahmen von 1,16 Mrd. Euro … bis knapp 1,67 Mrd. Euro … zu rechnen wäre … Die entsprechenden Mehreinnahmen in der Sozialversicherung betragen ca. 2,9 Mrd. bis 4,5 Mrd. Euro.«

Der niedrigere Wert der Gesamtentlastung ergibt sich annahmegemäß bei den Autoren dadurch, dass parallel die Steuerzahlungen der Unternehmen sinken aufgrund der höheren Aufwendungen, die sie haben.

Und hier sind wir bei einem entscheidenden Punkt angekommen. Auch wenn wir akzeptieren, dass sich die individuelle Situation der Betroffenen kaum verändert, kann der Mindestlohn das Ausmaß der individuellen Transferabhängigkeit bei Sozialleistungsbeziehern reduzieren und damit unauflösbar verbunden natürlich auch die Kostenkompensation, die der Staat im bisherigen System leistet zugunsten der Arbeitgeber, die niedrige oder niedrigste Löhne zahlen.

Ist das eine Zielverfehlung? Kommt immer darauf an, was man als Ziel definiert.

Wenn man in der Reduktion der aufstockenden Leistungen, die ja aus Steuermitteln finanziert werden müssen, einen Wert an sich sieht, weil die bislang im Bereich de Aufstocker ablaufende „Sozialisierung eigentlich betrieblich zu tragender Kosten“ als problematisch angesehen wird, dann sind die Zahlen des IAB durchaus keine Misserfolgsmeldung. Ganz im Gegenteil. Zugleich wäre das eine Maßnahme, ein Stück weit die gegebene Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Unternehmen zu verringern, die ihre Leute ordentlich bezahlen, abzubauen.

An dieser Stelle kann man nur noch den Einwand vortragen, dass die auch vom IAB ausgewiesenen Entlastungseffekte dann nicht realisiert werden (können), wenn ein Teil der Beschäftigung aufgrund der Mindestlohneinführung und der damit verbundenen Erhöhung der Lohnkosten entlassen wird. Hierzu schreibt Sven Astheimer in seinem Artikel zutreffend:
»Einige Wissenschaftler haben Beschäftigungsrückgänge im sechsstelligen Bereich berechnet, andere erwarten kaum Änderungen.«

Einen Tod muss man sterben – oder aber eine Typologie guter versus schlechter Betriebspraktika entwickeln, normieren und kontrollieren. Beides ist unangenehm

Der Mindestlohn, der gesetzliche und flächendeckende mit einigen Ausnahmen, ist im Bundestag gelandet und kommt auch demnächst in das Gesetzblatt. Und in den vor uns liegenden Wochen werden wir mit immer mehr Geschichten über mögliche Auswirkungen in ganz vielen Einzelbereichen konfrontiert werden, die erwartbar alle für sich nachvollziehbar sind bzw. sein werden und die viel Potenzial haben, sich aufzuregen über (vermeintlich) problematische Konsequenzen des Mindestlohns. Das war und wird so sein bei Taxifahrern, (osteuropäischen) Erntehelfern und und und.

Dazu gehört auch die folgende Botschaft: „Mindestlohn bedroht Betriebspraktika„: »Die Bundesregierung feiert den Mindestlohn – doch für längere, freiwillige Betriebspraktika könnte er das Aus bedeuten. Denn auch Praktikanten, die länger als sechs Wochen im Unternehmen sind, müssen künftig im Regelfall 8,50 Euro pro Stunde erhalten.« Lediglich Schul- und Pflichtpraktika sind ausgenommen, ab 2015 gilt auch für freiwillige Betriebspraktika, die länger als sechs Wochen dauern, eine gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Einerseits schlussfolgert Yasmin El-Sharif: »Die Generation Praktikum ist Geschichte.« Andererseits »bedroht die Neuregelung längere, freiwillige Praktika, wie sie zum Beispiel viele Studierende in den Semesterferien absolvieren.«

In dem Artikel wird Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der privaten Hochschule Hertie School of Governance, zitiert: „Es gibt Unternehmen, die Praktika nur anbieten, weil sie nichts oder nur wenig kosten. Wir müssen damit rechnen, dass dort Plätze gestrichen werden.“ Und der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel behauptet: „Das Gesetz bedeutet das Aus der meisten sinnvollen Studentenpraktika“. Dass die Wirtschaftsverbände gegen eine Einschränkung kostenloser Praktika sind, das kann man sich denken. Aber selbst ein Wohlfahrtsverband wie die Caritas hat sich im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf kritisch zu Wort gemeldet:

»Kritisiert wird … die Regelung zu Praktika. Die im Referentenentwurf vorgeschlagenen Ausnahmen sind sinnvoll, gehen aber nicht weit genug. Ein Mindestlohn für Praktikanten kann dazu führen, dass Praktikumsplätze in bestimmten Bereichen wie z.B. Kunst und Kultur unter diesen Bedingungen nicht mehr angeboten werden. Der Deutsche Caritasverband schlägt deshalb vor, Praktika in den ersten drei Monaten vom Mindestlohn auszunehmen, da in dieser Phase davon ausgegangen werden kann, dass in dieser Zeit das Lernen und das „Schnuppern“ in ein Berufsfeld im Vordergrund steht. Für die Unternehmen, die Praktikumsplätze anbieten, entstehen in dieser Zeit Kosten, die nicht durch entsprechende Entlastungen durch den Einsatz von Praktikanten gedeckt sind.«

Wenn man solche Stimmen Revue passieren lässt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die vielen zarten Pflänzchen des intensiven Lernens im realen Leben der Arbeit mit dem neuen Mindestlohn erstickt werden. Wird die Welt jetzt weniger bunt sein?

Zuerst einmal muss eine Annäherung an die Größenordnung versucht werden, um die es geht, wenn man von Praktika spricht. Die Datenlage ist dürftig. Der Artikel zitiert das IAB mit der Zahl von etwa 600.000 Praktika, die jährlich angeboten werden. Im Jahr 2011 wurde eine – nicht repräsentative – Studie veröffentlicht (Boris Schmidt, Heidemarie Hecht: Generation Praktikum 2011. Praktika nach Studienabschluss: Zwischen Fairness und Ausbeutung, Berlin 2011), die der Frage nachgegangen ist, wie es mit Praktika nach dem Studienabschluss von Hochschulabsolventen aussieht. Zu einigen Ergebnissen der Studie, über die damals in einer Zusammenfassung berichtet wurde:

»Wer nach dem Abschluss als Praktikant arbeitet, tut das nach den Ergebnissen der Befragung im Durchschnitt über knapp fünf Monate. 55 Prozent der Praktika dauern bis zu drei Monate, weitere 32 Prozent drei bis sechs Monate. Immerhin neun Prozent der untersuchten Praktika dauern länger als neun Monate … 22 Prozent der befragten Praktikanten mit Abschluss erhielten nach ihrem Praktikum ein Angebot, in eine unbefristete oder befristete Tätigkeit übernommen zu werden – mehr als doppelt so viele hatten sich das bei Aufnahme des Praktikums erhofft.«

Und zur Bezahlung wurde berichtet:

»Rund 40 Prozent dieser Praktika sind nach der Studie unbezahlt. Bei den bezahlten betrug der durchschnittliche Bruttolohn lediglich 3,77 Euro pro Stunde oder rund 550 Euro pro Monat.«

Und ein letzter Punkt, der zugleich die Ambivalenz dessen anleuchtet, was unter dem Dach „Praktika“ subsumiert werden muss:

»68 Prozent der befragten Ex-Praktikanten erlebten die Praktika nach dem Abschluss als prekäre Beschäftigung, 56 Prozent bezeichnen sie gar als „moderne Form der Ausbeutung“. Doch auf der anderen Seite sind auch positive Einschätzungen verbreitet: 61 Prozent der befragten Ex-Praktikanten sprechen von einer „guten Möglichkeit, um den Berufseinstieg zu schaffen“. 80 Prozent heben „die Möglichkeit, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben“ hervor.«

Sollte die vorgesehene Regelung die Praktika im Mindestlohngesetz betreffend Realität werden und dann künftig die 8,50 Euro pro Stunde gelten, dann dürfte ein Praktikant je nach Wochenstunden bis zu 1.400 Euro im Monat kosten. Da ist es absehbar, dass viele Praktika nicht mehr angeboten werden, gerade im sozialen und künstlerischen Bereich, aber natürlich auch von denen Unternehmen nicht mehr, die aus der Beschäftigung von Praktikanten ein Geschäftsmodell gemacht haben, man denke hier beispielsweise nur an nicht kleine Teile der Werbeszene.

Apropos „Geschäftsmodell“: Man darf und muss an dieser Stelle gerade im Kontext der Mindestlohndebatte auf die an anderer Stelle immer wieder gerne herausgestellte „Kreativwirtschaft“ verweisen. Exemplarisch dazu der im November des vergangenen Jahres veröffentlichte Beitrag „Mindestlohn killt Kreativität“ von Moritz Malsch, der 2006 zusammen mit Tom Bresemann in Kreuzberg das freie Literaturhaus Lettrétage gegründet hat. Er ruft ganz bewusst bei der Frage der Praktika und den möglichen Auswirkungen einer Mindestlohnregelung die Kulturbranche als Teilbereich der „Kreativwirtschaft“ auf, »eine Branche, die bekanntlich besonders rücksichtslos mit ihren Praktikanten umspringt: Ganze Erwerbsbiografien setzen sich hier aus prekären Arbeitsverhältnissen zusammen, wobei sich Erwerb oft auf den Erwerb von Ruhm und Ehre, guten Kontakten und gelegentlichen Förderhäppchen beschränkt.« Und er konfrontiert uns mit einer holzschnittartigen, aber durchaus plausiblen Typisierung:

»Grob vereinfacht besteht die Kulturlandschaft aus zwei Teilen: den staatlich geförderten Institutionen (ein paar normal bezahlte Angestellte und viele unbezahlte Praktikanten) sowie der freien Szene (viele unterirdisch bezahlte Selbstständige und viele unbezahlte Praktikanten). Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass sie wohl auch in Zukunft ihre Praktikanten nicht bezahlen können – es sei denn, der Staat gibt Geld … In jedem Fall würde der Zugang zu Praktika im Kulturbereich so rationiert und gesteuert: Ein Praktikum wäre dann eine staatliche Wohltat.«

Wobei gerade für die vielen freien Träger kaum von einer staatlichen Subventionierung von mindestentlohnten Praktikantenstellen auszugehen ist – das bekommt der Staat bislang selbst in seinen eigenen Einrichtungen kaum hin.

Aber Malsch bietet in seiner Einrichtung selbst unbezahlte Praktikantenstellen an und kann anscheinend aus zahlreichen Bewerbungen auswählen. Das möchte er nicht missen und verklärt die Lage, in dem er a) den Tatbestand der vielen Bewerbungen auf unbezahlte Stellen als „freie Entscheidung“ der Betroffenen deutet (sie hätten ja auch was anderes machen können) und b) das dann zusätzlich relativiert mit dem mittelschichtigen Hintergrund: »Das Schicksal ist selbstgewählt, und oft können die Akademikereltern nach vielen Jahren Gymnasial- und Studienzeit auch noch zwei Monate Berlinaufenthalt ohne Probleme finanzieren.«

Ziehen wir eine vorläufige Bilanz: Die derzeit vorgesehene Regelung wird dazu führen, dass sich Praktikantenarbeit erheblich verteuert – und zwar in „guten“ wie in „schlechten“ Einrichtungen. Aber was ist hier „gut“ und was „schlecht“?

Eine sehr aktuelles Beispiel für die wirklich miesen Ausbeutungsverhältnisse wurde diese Tage bekannt: »Mit der Hoffnung auf eine Lehrstelle machte eine 19-Jährige ein unbezahltes Schnupperpraktikum im Rewe-Supermarkt. Und noch eines. Und noch eines. Nach Monaten des kostenlosen Jobbens verklagte sie ihren Arbeitgeber auf den entgangenen Lohn. Und bekam nun vor dem Arbeitsgericht Bochum 17.281,50 Euro zugesproche«, so Helene Endres in ihrem Artikel „Rewe-Markt muss Praktikantin 17.000 Euro nachzahlen„. Ein krasser Fall (und das Unternehmen Rewe hat zwischenzeitlich Konsequenzen gezogen: „Rewe trennt sich von Ausbeuter-Chef„), aber man könnte über diesen Einzelfall hinaus viele Stunden berichten über die Erfahrungen anderer Praktikanten mit ihrer Instrumentalisierung in der betrieblichen Wertschöpfungskette.

Das ist die eine Seite der Medaille. Viele werden mit Blick auf diese eine Seite schlussfolgern, dass ein Mindestlohn nach sechs Wochen Praktikum richtig und sinnvoll ist, um diesen Geschäftsmodellen das Fundament zu nehmen, denn hier wirkt der Mindestlohn wie ein Prohibitivpreis mit der Folge, dass die schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern das Interesse verlieren werden an diesem Weg der billigen Arbeitskraftbeschaffung.

Aber wie immer hat auch diese Medaille eine zweite Seite, die man auch nicht negieren kann und darf. Der Kollateralschaden der neuen Regelung wird sein, das viele soziale, kulturelle Organisationen und Unternehmen keine Praktika mehr anbieten werden, weil sie die damit verbundenen Kosten gar nicht refinanziert bekommen oder an anderer Stelle herausziehen könnten. In der Konsequenz bedeutet das dann natürlich auch, dass viele junge Leute keinen Zugang mehr finden in diese Einrichtungen und damit möglicherweise einen schwierigeren Start hinlegen werden.

Aber was wäre die Alternative, wenn man diesen erwartbar starken Rückzug auf der Seite des Angebots an Praktika-Stellen vermeiden will? Man müsste „gute“ und „schlechte“ Praktikumsstellen identifizieren, normieren und prüfungsfähig definieren, um sie dann auf dieser Basis auch kontrollieren und Verstöße dagegen verfolgen zu können. Wie soll das gehen? Ein schon mathematisch hoffnungsloses Unterfangen, geschweige denn auch noch rechtssicher.

Einen Tod muss man sterben: Ganz offensichtlich haben wir es mit einem schweren nicht-auflösbaren Dilemma zu tun, denn auf der anderen Seite kann der Mindestlohnbefürworter auch nicht auf die Deckelung der lohnfreien Praktika und die Einbeziehung darüber hinausgehender Praktikumszeiten in die Gültigkeit des gesetzlichen Mindestlohnes verzichten, würde man doch ansonsten über diesen Weg für einen Teil der Unternehmen die Option einer mindestlohnfreien Beschaffung von billigster Arbeitskraft stabilisieren. Dem gegenüber steht das Argument, dass ein Unternehmen, das dem Praktikanten auch noch nach sechs Wochen zahlreiche Dinge vermitteln will und soll, was mit erheblichen Aufwand verbunden ist bzw. sein kann – und bei vielen Arbeiten wird man nicht in die Nähe einer Produktivität des Praktikanten kommen können, die dem – aus dieser Perspektive hohen – Mindestlohn nahekommt. Also wird man das Angebot verringern oder gar ganz einstellen (müssen).