Ein Kleinkind wird seinem Schicksal überlassen. Zugleich die Frage, ob auch ein Afrikaner ein guter Vater sein kann. Dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem einen eine Stimme gibt und gleichzeitig die Arbeit auf der anderen Seite erschweren wird. Ein Ausflug in die Untiefen des Kinder- und Jugendhilfesystems

Warum nur? Warum nur wird in einem Fall russisches Roulette gespielt mit dem Wohl eines Kleinkindes, das sich nicht äußern kann, das nicht in der Lage ist, sich zu wehren, wegzulaufen, Hilfe zu suchen? Das lässt sich anhand eines neuen erschütternden Falls aus Berlin wieder einmal studieren. Und warum wird in einem anderen Fall die schlichte Ablehnung eines Menschen aufgrund seiner Herkunft und seiner Hautfarbe als ausreichend erachtet, um ihm sein Sorgerecht zu entziehen? Bis das Bundesverfassungsgericht dem ein Ende setzt? Warum?

Beginnen wir auf der einen Seite:

Wieder werden wir mit einem dieser furchtbaren Berichte konfrontiert: Ein Kleinkind wird misshandelt und offensichtlich konnte die zuständige Behörde, in diesem Fall das Jugendamt, den Fall nicht verhindern, obgleich die Familie sich in ihrer Betreuung befand. Und sofort wird verständlicherweise wieder die Frage aufgeworfen, ob die Jugendämter „richtig“ vorgegangen sind, ob sie zu spät eingegriffen haben, ob das Kind nicht viel früher aus den Familien hätte herausgenommen werden müssen. Es muss an dieser Stelle aber auch daran erinnert werden, das gleichzeitig immer wieder Diskussionen geführt werden über Jugendämter als „Kinderklau-Behörden“, also der Vorwurf geäußert wird, dass die Jugendämter zu schnell und viel zu weitreichend in die Familien intervenieren. Viele Jugendämter sind hier mit einem scheinbar unauflösbaren Dilemma konfrontiert.

Ein neuer, schrecklicher Fall wird jetzt aus Berlin berichtet: »Ein Vater verletzt ein Neugeborenes lebensgefährlich. Dennoch darf die Familie weiter zusammenwohnen. Nun liegt Emilia erneut im Krankenhaus. Das Jugendamt Pankow sagt, es gebe keine absolute Sicherheit.« Schon wieder sind wir also offensichtlich mit einem Misshandlungsfall konfrontiert, bei dem Sozialarbeiter und Therapeuten die Situation einer Familie und die drohende Gefahr für das Kind offensichtlich falsch eingeschätzt haben. Der fünfundzwanzigjährige Vater wurde mittlerweile festgenommen und sitzt in Untersuchungshaft. Bei dem betroffenen Kind ist es nicht die erste bekannt gewordene Misshandlung. Schon im vergangenen Juli wurde dem damals fünf Wochen alten Baby massive Gewalt angetan, damals schwebte es in Lebensgefahr. Und schon zu diesem Zeitpunkt stand sein Vater als mutmaßlicher Täter vor dem Haftrichter, der ihn jedoch gegen Auflagen auf freien Fuß gesetzt hat. Seit September wohnt der Mann wieder mit seiner Freundin und dem Kind zusammen. Sozialdienste betreuten die Familie und beurteilten deren Entwicklung „positiv“. Bis zur jetzt eingetretenen erneuten Katastrophe. In dem Artikel Säugling misshandelt, gerettet, wieder misshandelt von Christoph Stollowsky wird darauf hingewiesen, dass das Jugendamt Pankow nicht zum ersten Mal mit einer derart gravierenden Fehleinschätzung von sich reden macht. Im Jahr 2012 war es der Tod der zweieinhalb Jahre alten Zoe, der für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Eltern dieses Kindes wurden ebenfalls von Helfern der Jugendbehörde des Bezirks unterstützt und als „liebevoll zugewandt“ eingeschätzt – bis zur tödlichen Misshandlung durch den Vater.

Aber warum wurde im neuen Fall der Vater vom zuständigen Richter nicht in Untersuchungshaft genommen? Der Richter ließ den Vater bis zum Beginn des Strafprozesses in Freiheit, weil etliche mildernde Umstände zutrafen, die laut Gesetz für eine Haftverschonung sprechen: Er hatte stabile Wohnverhältnisse und war zuvor noch nicht strafrechtlich auffällig geworden. Also gab es keine Hinweise für eine Fluchtgefahr. Und eine Wiederholungstat war nach dieser Logik auch nicht zu befürchten. Warum aber ließ das Jugendamt zu, dass der unter Anklage stehende Vater wieder zu seiner Familie ziehen konnte? „Wir hatten den Eindruck, dass die Eltern fähig sind, ihr Kind zu erziehen“, so wird die Leiterin des Jugendamtes, Judith Pfennig, zitiert. Und dann kommt ein Satz von ihr, der zu denken geben sollte: „Vielleicht sind wir hier an unsere professionellen Grenzen gestoßen. Es gibt wohl keine hundertprozentige Sicherheit, es sei denn, wir nehmen misshandelte Kinder konsequent aus den Familien.“ Das ist der Punkt. Aber sie weist darauf hin, dass das juristisch schwer durchsetzbar sei da es genau begründet werden müsse.

Eine grundsätzlich, aber gerade in Berlin naheliegende Frage: Ob auch die Personalnot der Jugendämter zu Fehlern geführt hat? Dieser Missstand sei zwar berlinweit zu beklagen, sagt die Leiterin des Jugendamtes. Emilias Leid möchte sie darauf aber nicht zurückführen. „Das würde dem Fall nicht gerecht.“

Irgendwie hat man erneut das Gefühl, dass die wirklich Betroffenen, also die Kinder, wieder zwischen den einzelnen Systeme durchfallen, vielleicht auch deshalb, weil nicht wirklich sie ausschließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Handelns stehen, was sie aber sollten. Und ja, vielleicht ist es so, dass man einen Preis zu zahlen hat, wenn man die Kinder und ihr Wohl als den entscheidenden Bezugspunkt der Arbeit definiert: Wenn das bedeutet, dass man auch schneller zum Schutz der Kinder diese aus einer bestimmten familiären Situation und sei es vorübergehend herausnehmen muss, dann sollte man das tun, auch wenn es sicher in dem einen oder anderen Fall bedeuten kann, dass – hinterher betrachtet, wenn man immer schlauer ist – die Entscheidung vielleicht zu hart war bzw. sich als letztendlich nicht notwendig erwiesen hat. Es ist eine Frage der Prioritäten: Jedes misshandelte oder gar zu Tode gekommene Kind ist eines zu viel. Und die größte Schutzbedürftigkeit haben die Kinder. Das muss Leitlinie des Handelns sein. Alles andere ist sekundär.

Das war die eine Seite. Nun die zweite.

Sollte die Welt doch voller Stereotype sein – und zwar auf beiden Seiten des Weltenspektrums, also bei denen, die sich für fachlich besonders kompetent halten und der Ideologie der 70er Jahre nachhängen, dass die Entfernung eines Kindes aus seiner Familie grundsätzlich die schlechteste Lösung sei und auf der anderen Seite diejenigen, die sich von ihrer aus welchen Quellen auch immer gespeisten Abneigung gegen das Andere, das Abweichende leiten lassen, Urteile zu fällen über den Menschen, der dahinter steht?

Das Problem, so bitter es klingen mag, besteht darin, dass ein neues Urteil dem einen Gerechtigkeit widerfahren lässt und zugleich aber die Hürden für ein notwendiges Handeln im anderen Fall nach oben ziehen wird. Bitter, wenn es so sein sollte.

Zum besseren Verständnis hier aber erst einmal der Sachverhalt, über den das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte. Das Gericht hat seine Verlautbarung dazu unter die Überschrift Sorgerechtsentziehung setzt eingehende Feststellungen 
zur Kindeswohlgefährdung voraus gestellt:

»Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für seine im Februar 2013 geborene Tochter. Er stammt aus Ghana und lebt seit Anfang 2012 in Deutschland. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr.
Der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft vorgeburtlich an, die Eltern gaben Sorgeerklärungen ab. Sie haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt. Nach einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts wurde die Tochter des Beschwerdeführers kurz nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie bis heute lebt; mit dem Beschwerdeführer finden begleitete Umgangskontakte statt. Im Ausgangsverfahren entzog das Amtsgericht beiden Eltern mit Beschluss vom 17. September 2013 die elterliche Sorge. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2014 zurück.«

Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt aufgehoben. Warum?

»Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt«, so das BVerfG.
Dies wird vom BVerfG weiter erläutert (und der folgende Passus erklärt zugleich meine Einschätzung, warum sich die Jugendämter in Zukunft auch bei den Fällen schwer tun werden, sich so zu verhalten, wie sie es müssten, wenn wir an die vielen Fälle des unterlassenen Tuns denken – aus der Perspektive der rückblickenden Beurteilung): »Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Dies setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.«

Im hier verhandelten Fall rügt das BVerfG, dass die bislang mit dem Fall befassten Gerichte sich ausschließlich auf ein Sachverständigengutachten gestützt haben – und das hat es in sich (das BVerfG formuliert das so: „Die Verwertbarkeit des Gutachtens unterliegt erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln“).

Wie das? Man lese den folgenden Passus der Verfassungsrichter, dann wird einem klar, was für eine fragwürdige „Begutachtung“ hier stattgefunden hat:

»Im Sachverständigengutachten wird die verfassungsrechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindeswohlgefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären. Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“. Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des  Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern verfehlt. Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.«

Klare Worte des Verfassungsgerichts.

Und das Gericht muss „beeindruckt“ gewesen sein von den Vorurteilen der Gutachterin gegenüber dem aus Afrika stammenden Vater des Kindes:

»Zudem hat die Sachverständige Äußerungen und Verhaltensweisen des Beschwerdeführers ebenso wie seine von der Gutachterin wiederholt in den Vordergrund gerückte Herkunft aus einem afrikanischen Land in sachlich nicht nachvollziehbarem Maße negativ bewertet. So geht sie davon aus, dass der Beschwerdeführer umfassend alle nahen zwischenmenschlichen Beziehungen – zur Mutter, Tochter und auch zur neuen Partnerin – dazu instrumentalisiere, seinen Aufenthaltsstatus zu sichern, und hält Äußerungen des Beschwerdeführers vor diesem Hintergrund tendenziell für  unglaubwürdig. Darüber hinaus bezeichnet die Sachverständige eine autoritäre, gewaltsame und von Unterwerfung der Kinder geprägte Erziehung als „afrikanische Erziehungsmethode“, stellt fest, die „afrikanischen Verhaltensweisen“ deckten sich nicht mit dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung und hält „Nachschulungen“ des Beschwerdeführers im Hinblick auf „die Einsichtsfähigkeit in die europäischen Erziehungsmethoden“ für erforderlich.«

Das ist schon wirklich starker Tobak.

Back to the 90’s? Auf der Insel können sie es einfach nicht lassen: Privatisierung um jeden Preis. Jetzt soll es die Kinderschutzdienste in Großbritannien treffen. Dagegen regt sich massiver Widerstand

Die 1990er Jahre waren geprägt von Schlagworten wie Deregulierung, Privatisierung oder Public Private Partnership. In diesen Jahren blühte der neoliberale Zeitgeist und diffundierte in die Köpfe fast aller politischer Entscheidungsträger. Besonders markant und zugleich tief einschneidend war die Übernahme von großen Teil dieses Gedankengutes auf der bisher als „links“ titulierten politischen Seite. Als Lordsiegelbewahrer dieser Neuausrichtung der Sozialdemokratie galt Tony Blair, von 1994-2007 Vorsitzender der Labour-Party und von 1997-2007 Premierminister von Großbritannien. Er vertrat eine Politik des freien Marktes und operierte mit Schlagworten wie „New Labour“ und „Dritter Weg“. Seine Amtszeit war geprägt durch eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in einzelnen bildungs- und sozialpolitischen Feldern bei gleichzeitiger Einführung marktorientierter Reformen. Dazu gehörte auch die Übertragung von bislang staatlich organisierten Dienstleistungen an privat-gewerbliche Unternehmen, von denen man sich offensichtlich mehr Effektivität und vor allem Effizienz erhoffte.  Die damit verbunden der Privatisierung des Sozialstaates war schon damals heftig umstritten. Die mit ihr verbundene Ideologie und auch einige Versatzstücke dessen, was in Großbritannien von Blair auf den Weg gebracht wurde, haben auf die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder beeinflusst. Man schaue sich beispielhaft nur die zahlreichen Anleihen aus Großbritannien an, die sich im Abschlussbericht der so genannten „Hartz-Kommission“ finden lassen.
Nun sollte mittlerweile bekannt sein, dass auch die Privaten nur mit Wasser kochen und zuweilen auch erhebliche Kollerlateralschäden verursacht wurden durch die Beauftragung von auf Gewinn gerichteten Unternehmen im Sozialbereich. Trotz der vielen mehr als ernüchternden Erfahrungen, die wir hatten sammeln dürfen bzw. müssen, setzt die jetzige konservativ-liberale Regierung in Großbritannien auf eine konsequente Fortsetzung des damals unter Blair eingeschlagenen Weges. Nun haben sich die Privatisierungsbefürworter ein neues und überaus sensibles Feld für ihre Expansionsgelüste ausgesucht: den Kinderschutz.

»Experts sound alarm over proposal … to outsource children’s services to private firms«, so Patrick Butler in seinem Artikel Privatise child protection services, Department for Education proposes. Nach Plänen des zuständigen Bildungsministeriums (DfE) könnte die Zuständigkeit, Kinder aus ihren Familien zu nehmen, zusammen mit weiteren Kinderschutzdienstleistungen privatisiert werden. Grundlage ist ein Papier aus dem Ministerium mit dem Titel „Powers to delegate children’s social care functions“ vom 17. April 2014. Damit würde ein „outsourcing of children’s social services in England to companies such as G4S and Serco“ möglich werden, was auf massive Bedenken und Proteste von Experten stößt, denn hier soll ein neues Geschäftsfeld aufgemacht werden in einem überaus sensiblen Bereich für Großkonzerne – denn darum handelt es sich bei den beiden beispielhaft genannten Unternehmen, die von einem solchen Schritt profitieren könnten. Die Begründung für eine solche Öffnung hin zu gewinnorientierten Anbietern in dem Papier aus dem Ministerium kommt daher wie ein Textbaustein aus den späten 1990er Jahren: „encourage innovation and improve outcomes for at-risk youngsters“.

»Private providers will allow authorities to „harness third-party expertise“ and „stimulate new approaches to securing improvements“ for safeguarding services outside „traditional hierarchies“, the document says.«

„Das ist eine schlechte Idee“ – mit dieser Bewertung wird nicht irgendein Oppositionspolitiker zitiert, sondern die Professorin Eileen Munro, die vom derzeitigen Minister Michael Gove selbst beauftragt wurde, eine unabhängige Studie über den Kinderschutz in Großbritannien zu erstellen. Ihr umfassender Bericht wurde 2011 veröffentlicht (vgl. Munro, E.: The Munro Review of Child Protection. Final Report. A child-centred system, London, 2011 sowie weitere Reports aus dem Umfeld dieser Studie auf der DfE-Seite „Munro review reports„). Munro wird in dem Artikel von Patrick Butler zitiert mit den Worten »establishing a market in child protection would create perverse incentives for private companies to either take more children into care or leave too many languishing with dangerous families.« Perverse Anreize also, die durch die Etablierung eines Marktes im Bereich des Kindesschutzes ausgelöst werden können. Munro hat eine klare Position: „It’s the state’s responsibility to protect people from maltreatment. It should not be delegated to a profit-making organisation.“

Unabhängig von Munro’s Positionierung wurde ein öffentlicher Brief von 37 ausgewiesenen akademischen Kinderschutzexperten im Guardian veröffentlicht: Child protection services too important to be privatised, so haben sie ihr Protestschreiben genannt. Sie warnen vor allem vor der angestrebten Option, Unternehmen wie  G4S, Serco oder auch Atos mit Kinderschutzdiensten zu beauftragen und verweisen hierbei auf die offensichtliche Mängelliste, die den genannten Unternehmen heute schon anhaftet:

»Their track record elsewhere has hardly been unblemished in providing Olympics security, over-claiming payments for tagging offenders, misreporting on GP out-of hours contracts, and delaying and denying disability benefits … Child protection is much too important to be exposed to their fickleness and failings.«

Kathy Evans von Children England, die 100 Organisationen repräsentiert, wird ebenfalls mit einer ablehnenden Stellungnahme zitiert, denn »although there was a need to explore new ways of improving child safeguarding services, profit-making firms were not the answer«. Auch bei ihr kommt eine grundsätzliche Kritik an der Übertragung derart sensibler sozialpolitischer Aufgaben an private, auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen zum Ausdruck: Der Minister »must ensure that no commercial company and its shareholders should ever be able to make profit from public spending on child protection. Such an important public function must never be open to the real, or even perceived, risk of being done in the pursuit of profit.« Children England hat mittlerweile sogar eine Petition aufgelegt zu diesem Thema

Interessant ist die Rolle von Michael Glove, dem zuständigen Minister, die man an einem scheinbaren Nebenaspekt verdeutlichen kann: Alle Kinderschutzdienste sollen seiner Meinung nach für private, gewinnorientierte Anbieter geöffnet werden – bis auf einen Bereich: die Adoptionsdienste.  Diese haben eine besondere Priorität für den Minister, der selbst adoptiert worden ist.

Nicht ganz so eindeutig ist die Positionierung der NSPCC, der größten Kinderschutzorganisation in Großbritannien. Es wird berichtet, dass diese Organisation relativ neutral sei bei der Frage, wer Schutzdienste anbietet. Entscheidend sie die Frage »how good a service is at turning children’s lives around«. Lisa Harker, für Strategie-Fragen bei der NSPCC zuständig, wird mit den Worten zitiert, die Organisation »still looking at the detail to see if there are sufficient checks and balances around service quality.«

Man wird sehen, wie dieser Vorstoß des Ministeriums in Großbritannien ausgehen wird und ob sich die zahlreichen Kritiker am Ende werden durchsetzen können. Von einer auch für Deutschland grundsätzlichen Bedeutung ist das Fallbeispiel, das in diesem Beitrag skizziert wurde, deshalb, weil hier entscheidende Grundsatzfragen der Organisation sozialer Arbeit mit besonders verletzlichen Menschen aufgeworfen werden:

Sind die nicht auf Gewinn ausgerichteten Wohlfahrtsorganisationen ein notwendiger und darüber hinaus ein hinreichender Schutz in diesem Fall für die Kinder und ihre Familien? Muss man aus grundsätzlichen Erwägungen, wie das in den Stellungnahmen immer wieder durchscheint, die Verquickung mit geschäftlichen Interessen von Unternehmen ausschließen? An solchen Stellen muss man natürlich unangenehme Fragen stellen, beispielsweise diejenige, die danach fragt, ob nicht auch die so genannten Non-Profit-Unternehmen ein fundamentales Interesse an der Aufrechterhaltung ihres „Geschäfts“ haben? Ist die Kontrolle der möglichen Anreize, die daraus entstehen können, sichergestellt seitens des Staates? Und auch wenn man äußerst skeptisch ist, was die den privaten Anbietern immer wieder zugeschriebene Wirkung in Richtung auf mehr Effektivität und vor allem mehr Effizienz angeht, müsste ein vor dieser Konkurrenz geschütztes System sich durchaus die Frage gefallen lassen, wie denn dann Innovationen, also neue Wege und auch neue Akteure, in das System gelangen können.

Und müsste man nicht mit Blick auf andere höchst sensible Felder der Sozialpolitik zu der grundsätzlichen Schlussfolgerung kommen, dass private, auf Gewinn gerichtete Unternehmen hier nichts zu suchen haben? Um diesen Gedankengang einmal auf die Situation in Deutschland zu übertragen, könnte man an den Bereich der Pflegeheime denken, von denen einige betrieben werden von privatgewerblichen Pflegeheimbetreibern wie der Curanum AG, die sogar an der Börse notiert sind. Müsste man, wenn man die Argumente, die seitens der Kritiker gegen eine Öffnung des Bereichs des Kinderschutzes vorgebracht wurden, logisch zu Ende denkt, nicht auch darüber diskutieren, ob man auf Gewinn gerichtete Unternehmen bei der Pflege alter Menschen überhaupt zulassen dürfte/sollte? Viel Stoff zum Nachdenken.