Auf das Basisjahr kommt’s an. Statistiker-Weisheit hilft bei der Einordnung der vielen Jubelmeldungen über den deutschen Jobwunder-Arbeitsmarkt

Da war sie wieder – eine dieser vielen Erfolgsmeldungen der Bundesregierung von der Arbeitsmarktfront: „Gute Jobaussichten für Langzeitarbeitslose„, so ist eine Pressemitteilung der Bundesregierung überschrieben. Darin findet sich gleich am Anfang die wohltuend daherkommende Botschaft: »Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist deutlich gesunken: zwischen 2007 und 2011 von 1,72 Millionen auf 1,05 Millionen.« 670.000 Langzeitarbeitslose weniger – das ist doch was!
Doch bevor man jetzt in Ehrfurcht erstarrt angesichts dieses doch offensichtlichen Erfolgs der Bundesregierung, kann es hilfreich sein, kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Und kritische Kommentierungen und Analysen findet man beispielsweise auf der Website „O-Ton Arbeitsmarkt„, die eine alternative Arbeitsmarktberichterstattung zu liefern verspricht. Dort wurde diese Jubelmeldung vom Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit unter die Lupe genommen – und das Fazit findet sich kompakt in der Überschrift: „Bundesregierung rechnet Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit schön“. Schauen wir uns die Argumentation genauer an.

Die Hauptkritik lautet: Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der herausgestellte Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit als ein rein statistischer Effekt, den sich die Bundesregierung zunutze macht. Um das zu verstehen, muss man zurückschauen in das Jahr 2005: »Mit den Hartz-Reformen wurden die Arbeitslosen- und Sozialhilfe 2005 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“) zusammengeführt. Zahlreiche ehemalige Sozialhilfeempfänger erhielten im Zuge dieser Umstellung irrtümlich den Status arbeitslos, obwohl sie dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht zur Verfügung standen. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahl 2005 und daher im Verlauf der Jahre 2006 und 2007 zu einem deutlichen Zuwachs bei den Langzeitarbeitslosen. Im Jahresdurchschnitt 2007 war die Zahl der Langzeitarbeitslosen allein deshalb auf den absoluten Höchstwert von 1,7 Millionen Menschen angestiegen.«

Dieser Höchstwert reduzierte sich in den Folgejahren durch Korrektur der Fehlzuweisungen. Daraus ergibt sich der überdurchschnittlich starke, aber hauptsächlich statistische, Abbau der Langzeitarbeitslosenzahl zwischen 2007 und 2009, so „O-Ton Arbeitsmarkt“.

Nun ist es so – um gleich möglichen Einwänden den Wind aus den Segeln zu nehmen -, dass die das nicht einfach behaupten, sondern das behauptet die Bundesagentur für Arbeit selbst. Hierzu ein Zitat aus dem 2011 von der BA veröffentlichten Bericht „Sockel- und Langzeitarbeitslosigkeit“:

»Allerdings können die hohen Werte in den Jahren 2005 und 2006 auch als Folge der anfänglich sehr weitreichenden Statuszuweisung „arbeitslos“ für erwerbsfähige Hilfebedürftige im Zuge der Einführung des SGB II gelten. Der deutliche Rückgang ist damit teilweise einer Bereinigung der übererfassten Fälle insbesondere in den ersten drei Jahren des SGB II geschuldet.«

„O-Ton Arbeitsmarkt“ arbeitet heraus, dass der Großteil des Rückgangs der Langzeitarbeitslosigkeit zwischen 2007 und 2011 in den Jahren 2008 und 2009 erfolgte, in denen die Korrekturen der Fehlzuweisungen vorgenommen wurden. In diesen beiden Jahren wurde die Langzeitarbeitslosenzahl statistisch um 590.000 Personen nach unten korrigiert.

Um tatsächlich von arbeitsmarktpolitischen Erfolgen sprechen zu können, sind erst die Zahlen ab 2010 aussagekräftig. Erst dann lässt sich wieder von einem statistisch unbeeinflussten Abbau der offiziell ausgewiesenen Langzeitarbeitslosigkeit sprechen – und für diesen Zeitraum sind die Rückgänge dann weitaus bescheidener.

Aber auch hier muss man genau auf die Wortwahl achten – denn „O-Ton Arbeitsmarkt“ spricht von der „offiziell ausgewiesenen Langzeitarbeitslosigkeit“ und will damit zum Ausdruck bringen, dass diese Zahl eine Unterschätzung des tatsächlichen Phänomens der Langzeitarbeitslosigkeit ist:

So müsse man berücksichtigen, »dass die offizielle Statistik die Zahl der Langzeitarbeitslosen massiv unterzeichnet.  So genannte „schädliche Unterbrechungen“ machen bisherige Langzeitarbeitslose zu „neuen“ Arbeitslosen – zumindest statistisch.
Denn was sich Unterbrechung nennt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Arbeitslosigkeit tatsächlich zeitweise beendet wurde. „Schädlich“ ist beispielsweise schon die Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder eine längere Krankheit. Nach dieser Unterbrechung wird die Dauer der Arbeitslosigkeit von vorne gezählt und ein neues Startdatum eingetragen. Dass die betreffenden Personen in der Zwischenzeit weder Arbeit gefunden noch den Arbeitslosengeldbezug beendet haben, ist irrelevant.«

Bereits im November 2012 hatte „O-Ton Arbeitsmarkt“ über diesen Tatbestand berichtet: „Statistik schönt Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit„, so ist der damalige Artikel überschrieben worden.

Fazit: Eine alternative, kritische Berichterstattung kann ein wichtiges Korrektiv sein, vor allem in Zeiten, in denen Politiker gerne so mit Zahlen jonglieren, dass dem Bürger schwindelig wird.

Die österreichische „Partei der Arbeit“ in der Realität der Leiharbeit sowie ein deutscher Wahlkampf ohne Arbeitslose

Bei ihrem Wahlkampfauftakt im Wiener Museumsquartier inszenierte sich die österreichische Sozialdemokratie, die SPÖ, als „Partei der Arbeit“. Das tut sie auch in Werbefilmen und im Internet. Jedes einzelne prekäre Arbeitsverhältnis sei eines zu viel in Österreich, die „sogenannte Flexibilisierung“ sei nichts anderes als ein Abbau der Arbeitnehmer-Rechte, so der Bundeskanzler Werner Faymann in seiner Eröffnungsrede. Hört sich gut an. Aber für den „Schutzpatron der Arbeitnehmer“ sind dann solche Schlagzeilen weniger schön: „Bei der „Partei der Arbeit“ bedienen Leiharbeiter„. Die meisten der 1.500 Genossinnen und Genossen wussten aber nicht, dass sie von Angestellten einer Personalvermittlung, also von Leiharbeitern, mit Essen und Trinken versorgt wurden. Wenn Anspruch und Wirklichkeit aufeinander treffen:

»Rund neun Euro verdienen die Beschäftigten der Leiharbeiterfirma laut eigenen Angaben pro Stunde – für den Geschmack vieler SPÖ-Mitglieder viel zu wenig. Man habe ihm „fast den Appetit“ verdorben, meinte ein Funktionär, der „15 Euro aufwärts“ für einen angemessenen Stundenlohn hält.«

Der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos verdeutlicht in seiner Stellungnahme ein Grundproblem, das hier viel interessanter ist, verweist es doch auf die allgemeinen Mechanismen, die auf dem Arbeitsmarkt ablaufen: „Es ist so, dass wir die Firmen, die hier Catering betreiben, als Firma anstellen“.

Und weiter erfahren wir, dass die SPÖ sich ganz korrekt wie ein stinknormaler Arbeitgeber verhalten hat, der sich in der Welt des Outsourcing bewegt – wir lernen aber auch etwas, was ich an dieser Stelle besonders hervorheben möchte, nämlich die Relationen von dem, was Auftraggeber zahlen und was unten ankommt:

»Die SPÖ beteuerte am Samstag in einer Stellungnahme, der beauftragten Firma Cateringdesign pro Stunde und Person 22 Euro ohne Steuern bezahlt zu haben, für die Dauer der Veranstaltung also 110 Euro netto pro Person. Die Cateringfirma habe für den Personalbereich wiederum das Unternehmen GVO beaufragt und die 22 Euro pro Person und Stunde „1:1 an GVO weitergegeben“. Es sei der SPÖ versichert worden, dass GVO laut Kollektivvertrag entlohnt, heißt es in der Stellungnahme weiter.«

Erneut zeigt dieses Beispiel einen Grundtatbestand, den wir aus der Debatte über Leiharbeit, aber auch dem zunehmend an Relevanz gewinnenden Thema Werkverträge schon kennen: Es ist eine Frage der Logik, dass es keine große Differenz geben muss zwischen dem, was unten ankommt und was oben gezahlt wird, wenn zwischen dem, der die Arbeit macht und dem, der die Arbeit in Anspruch nimmt ein oder mehrere Unternehmen zwischengeschaltet sind, die aus diesem Vorgang ihren Gewinn ziehen wollen. Das war schon beim Sklavenhandel so und ist in der modernen Welt des Mit-Arbeitskräften-Handelns nicht anders.

Wenn wir schon aus Österreich irgendwie wieder in Deutschland angekommen sind, dann fällt einem ergänzend der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienene Kommentar „Wahlkampf ohne Arbeitslose“ von Winand von Petersdorff ins Auge. Er zitiert in seinen Anmerkungen eine leider bittere Wahrheit und eine steile These, die allerdings derzeit immer öfter in den Medien verbreitet wird.

Der Kommentator bezieht sich auf vor kurzem vorgelegte Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach über Themen, die den Deutschen in Zeiten des Wahlkampfs wichtig seien: Auf dem vorletzten Platz lag das Thema Sicherheit des Arbeitsplatzes. Und das sei, so der Kommentator, absolut verständlich: »Deutschland hat so viele Erwerbstätige wie nie. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsplätze steigt stetig. Immer mehr Regionen in Deutschland nähern sich der Vollbeschäftigung.«

Grundsätzlich stimmt die Aussage, vor dem Hintergrund von mehreren Jahren positiver Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland im Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren wie demografischer Entwicklung usw. ist das auch kein Wunder, wobei man an dieser Stelle natürlich immer wieder Einwände vorbringen kann, wenn man – wie beispielsweise in der Abbildung der Gewerkschaft ver.di – versucht, einen differenzierteren Blick zu werfen auf die Arbeitsmarktentwicklung. Und hier ist noch gar nicht die Entwicklung der Qualität der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich der Löhne berücksichtigt. Weitaus bedrückender – zugleich aber auch weitaus realitätsnäher – wird es, wenn man dann auch noch in Rechnung stellt, dass es für einen bestimmten Teil der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren sogar noch schwieriger geworden ist, auf dem Markt für bezahlte Arbeit wieder Fuß zu fassen: Wir beobachten eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im „Hartz IV-System“, die aber auch so gut wie gar nicht mehr auftaucht im Wahlkampf und – was noch schlimmer ist – im Bewusstsein vieler politisch Verantwortlicher ebenfalls nicht mehr. Es sei an dieser Stelle nur auf die Veröffentlichungen auf der Seite „O-Ton Arbeitsmarkt“ hingewiesen, wo immer wieder auf die empirisch beobachtbare Verhärtung der Langzeitarbeitslslosigkeit hingewiesen wird. Hierzu nur zwei Beispiele: Die Dauer des Hilfebezugs ist nach „Hartz IV“ deutlich länger als in der alten Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“: Dauer des Hilfebezugs deutlich länger als vor den Reformen) sowie „Von Erfolgsmeldungen und der Wirklichkeit: Nur monatlich 0,3 Prozent der „Hartz IV“-Empfänger beenden ihre Hilfebedürftigkeit durch Arbeit„.

Doch für den Kommentator Winand von Petersdorff spielen diese Aspekte keine Rolle, er kaut statt dessen das wieder, was der Mainstream so perpetuiert: Gerhard Schröders »Arbeitsmarktreformen haben nicht nur die nötige Flexibilisierung gebracht, sie haben auch die Arbeitsmoral selbst gestärkt«. Stärkung der Arbeitsmoral, so kann man die Wirkungen der Hartz-Reformen auch titulieren. Diese immer wieder zu beobachtenden Verkürzung, wenn nicht gar Verdrehung des Auswirkungen des komplexen Gefüges „Hartz IV“ sind schade und unnötig, bringt der Kommentator doch vorher wesentlich relevantere Faktoren zur Erklärung des deutschen Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt, der doch immer – das darf hier aus einer alten volkswirtschaftlichen Position erwähnt werden – ein abgeleiteter Markt ist. So schreibt er:

»Die diversifizierte Struktur der Volkswirtschaft mildert die Wirkung von Schocks, die von einzelnen Branchen ausgehen wie zuletzt vom Bankensektor. Die deutsche Industrie profitiert mit ihrem Sortiment besonders stark vom Megatrend der letzten Jahre, von dem Aufstieg der Schwellenländer.
Sehr langsam entspannt zudem die demographische Entwicklung des Landes den Arbeitsmarkt. Firmen und Verwaltungen bekommen zunehmend Probleme, für ausscheidende Arbeitnehmer Ersatz zu finden.«

Aber der hier besonders interessierende Punkt in seiner Argumentation ist ein ebenfalls immer öfter auftauchendes Bild: »Die Jugendarbeitslosigkeit – in den meisten europäischen Ländern eine der größten sozialen und ökonomischen Herausforderungen überhaupt – verschwindet hierzulande gerade.« Damit reflektiert er eine Welle der Berichterstattung, die auch durch solche Artikel vorangetrieben wird: „Suche Azubi, biete Auto„: »Kurz vor Beginn des Lehrjahrs sind in Deutschland noch Zehntausende Ausbildungsplätze frei. Die Lehrbetriebe locken mit Begrüßungsgeld, Smartphone oder einem eigenen Wagen«, so die Frontberichterstattung auf Spiegel Online. Garniert wird der Bericht mit Beispielen aus ostdeutschen Handwerksunternehmen, was jungen Leuten heutzutage angeblich alles so nachgeschmissen wird, wenn sie sich den bequemen, eine Berufsausbildung anzufangen oder eine solche länger als einige wenige Monate durchzuhalten. Dabei findet man komplexere Hinweise auf die Realität in dem Artikel selbst:

»Vor allem in Ostdeutschland habe sich die Zahl der Schulabgänger in den vergangenen zehn Jahren auf rund 114.000 halbiert. Zudem gebe es einen anhaltenden Trend zum Studium. Und von den tatsächlichen Bewerbern erfülle eben ein Teil nicht die Anforderungen für die Berufsausbildung.«

So ist es. Eine komplexe Gemengelage, die im Ergebnis dazu führt, dass zwar immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, andererseits aber auch immer noch mehr als 270.000 junge Menschen pro Jahr in das überaus heterogene „Übergangssystem“ eingetreten sind, teilweise in mehrjährige Warteschleifen. Allerdings werden die dann alle nicht als „arbeitslos“ gezählt, weil sie ja irgendwie beschäftigt sind.

Zu der ganzen – wie gesagt komplexen – Problematik und den Notwendigkeiten wie auch die Möglichkeiten einer Unterstützung der dualen Berufsausbildung vgl. weiterführend die Beiträge in Christine Henry-Huthmacher und Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Duale Ausbildung 2020. 14 Fragen & 14 Antworten, St. Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2013.

Auch wenn es den vor sich hin plätschernden Nicht-Wahlkampf stört – mal wieder das deutsche „Jobwunder“. Denn das wurde teuer erkauft

Noch vor gut zehn Jahren, im Jahr 2002, galt Deutschland explizit wegen der hohen Arbeitslosigkeit als der „kranke Mann Europas“. Wie haben sich seitdem die Zeiten – und die Berichterstattung geändert. Bereits im vergangenen Jahr schlagzeilte der altehrwürdige „The Economist“ mit einer Headline auf Deutsch, was einen echten Tabu-Bruch dargestellt hat: „Modell Deutschland über alles. The lessons the rest of the world should—and should not—take from Germany„. Und das ist der Ausgangspunkt für Roland Kirbach: »Es ist dies der erste Bundestagswahlkampf seit Jahrzehnten, in dem das einstige deutsche Dauerleiden Arbeitslosigkeit keine Rolle spielt. Der Patient scheint geheilt. Er gilt jetzt als Vorbild.« Er hat eine kompakte und lesenswerte Dekonstruktion des deutschen „Jobwunders“in der ZEIT veröffentlicht: „… und raus bist du. Deutschland feiert sein Jobwunder. Doch der Erfolg ist teuer erkauft: Durch Leiharbeit, Niedriglöhne und die ständige Gefahr des sozialen Abstiegs.“ Bereits im vergangenen Jahr wurde anlässlich des zehnjährigen „Jubiläums“ der „Hartz-Reformen“ am deutschen Arbeitsmarkt das angebliche „Jobwunder“ verbunden mit dem, was die Kommission um den ehemaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz an wundersamen Reformen angestoßen habe.

Roland Kirbach lässt sich von der scheinbar offensichtlichen Erfolgsmeldung – »Im Jahr 2002, vor Inkrafttreten der Agenda 2010, lag die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bei 39,3 Millionen. Heute sind es 41,8 Millionen. Das ergibt einen Zuwachs von 2,5 Millionen neuen Jobs« – nicht blenden, sondern schaut genauer hin und identifiziert die zentralen und immer wieder auch kritisierten Problemstellen im Gewebe des deutschen „Jobwunders“, mit persönlichen Fallgeschichten illustrativ aufbereitet, so dass das abstrakte Arbeitsmarktgeschehen ein Gesicht bekommt:

  • Zum einen die seit der Deregulierung im Gefolge der „Hartz-Gesetze“ expandierende Leiharbeit.
  • Zum anderen an einem Beispiel aufgezeigt der sukzessive Abstieg aus einer Vollzeitbeschäftigung über eine befristete Teilzeitbeschäftigung in einen Minijob und von dem in einen Minijob im Rahmen der Selbständigkeit des Ehemannes.
  • Auch die sich ausbreitenden Solo-Selbständigen werden thematisiert.
  • Herausgearbeitet wird die Entwicklungsachse hin zum „Niedriglohnland Deutschland“.

Hier einige Zitate aus dem Artikel: »Im Jahr 2012 gab es in Deutschland 820.000 Leiharbeitsplätze. Zehn Jahre zuvor, vor Beginn des Jobwunders, waren es nur 310.000. Ein Zuwachs von mehr als 500.000 Leiharbeitsjobs … Aber nur 250.000 dieser Jobs, also die Hälfte, sind wirklich neue Arbeitsplätze. Die anderen 250.000 haben besser bezahlte, unbefristete Jobs vernichtet.«
Die Minijobs haben sich als Illusion erwiesen. Kirbach zitiert hier mit Blick auf die besonders von geringfügiger Beschäftigung betroffenen Frauen eine von Carsten Wippermann durchgeführte Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Für Menschen mit Minijob als Haupt- und nicht als Nebenbeschäftigung entfalteten die Jobs „eine schnell einsetzende und hohe Klebewirkung und keine Brückenfunktion“, so wird Wippermann in dem Artikel zitiert. »Nur jeder siebte Minijobber schafft den Sprung auf eine Vollzeitstelle, hat Wippermann herausgefunden. Nur jeder vierte erreicht wenigstens eine reguläre Teilzeitstelle mit mindestens 20 Stunden pro Woche.« Wippermann spricht zu Recht von einem „stigmatisierenden Label“ Minijobberin. Damit ist weitgehend das Gegenteil von dem eingetreten, was man damals erhofft hatte.

Aber den Statistikern ist es egal, ob es sich um Leiharbeiter oder Minijobber handelt – sie zählen genau so als „Beschäftigte“ wie der unbefristet vollzeitbeschäftigte, womöglich gar noch tariflich abgesicherte Arbeitnehmer mit Betriebsrat. Die Betroffenen sehen sich selbst eher als Verlierer des Arbeitsmarktes. »Offiziell aber zählen sie zu den Gewinnern, zu jenen, denen das Medikament Agenda 2010 geholfen hat.«

Die Förderung der Selbstständigkeit war neben der Erleichterung von Leih- und Teilzeitarbeit ein weiterer wichtiger Bestandteil der Agenda 2010. Scheinbar eine große Erfolgsgeschichte: »Zwischen 2002 und 2012 ist die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen in Deutschland von 1,7 Millionen auf 2,2 Millionen gestiegen.« Doch viele dieser solo-selbständigen prekären Existenzen verdienen so wenig, dass sie sich noch nicht einmal mehr eine halbwegs ordentliche Absicherung gegen Krankheitsrisiken leisten können. »Nach einer aktuellen Schätzung des Bundesverbandes der Privaten Krankenversicherungen haben inzwischen 140.000 Bundesbürger keine Krankenversicherung.«

Viele der bislang schon beschriebenen Fallkonstellationen bewegen sich im so genannten „Niedriglohnsektor“. Hierzu erläutert Kirbach:

»In Deutschland liegt die Grenze bei 9,54 Euro brutto in der Stunde, alles darunter wird als Niedriglohn bewertet. Das trifft auf die Löhne von rund 7,3 Millionen Menschen zu – 22 Prozent aller Berufstätigen. Einen höheren Anteil an Geringverdienern als Deutschland haben in Europa nur Lettland, Litauen, Rumänien und Polen. In manchen Branchen arbeiten in Deutschland fast nur noch Geringverdiener. 87 Prozent aller Taxifahrer bekommen einen Niedriglohn, ergab eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts. Ebenso 86 Prozent der Friseure, 77 Prozent der Bedienungen in Gaststätten, 69 Prozent der Verkäufer im Einzelhandel, 68 Prozent aller Leiharbeiter, 68 Prozent der Beschäftigten in Callcentern, 62 Prozent des Hotelpersonals, 60 Prozent der Wachleute bei privaten Sicherheitsdiensten.«

Traurig, aber wahr ist die folgende Beschreibung der Situation:

»Längst ist die Bundesrepublik in einigen Branchen zum Billiglohnland des Kontinents geworden. Empörten sich die Bürger vor wenigen Jahren noch darüber, dass Nordseekrabben in Marokko gepult wurden, werden mittlerweile Schweine aus europäischen Nachbarländern nach Deutschland gekarrt und hier geschlachtet.«

Es versteht sich fast schon von selbst, dass Kirbach dies verdeutlicht am Beispiel der mittlerweile viel diskutierten osteuropäischen Werkvertragsschlachter, die in der deutschen Fleischindustrie die alten, „normalen“ Arbeitsverhältnisse verdrängt haben.

Und dann noch ein wichtiger Aspekt, der oftmals untergeht, wenn über angeblich 2,3 Millionen „neue Jobs“ schwadroniert wird, ohne zu berücksichtigen, dass es sich oftmals um andere Jobs handelt als die, die der Normalbürger vor Augen hat: »(Die Agenda 2010) hat neue Arbeit erzeugt, aber vor allem viel alte Arbeit anders verteilt. Während die Gewerkschaften allerdings immer verlangten, dass dies ohne starke Lohneinbußen zu bewerkstelligen sei, haben die Hartz-Reformer die Neuverteilung der Arbeit erreicht, indem die Qualität und die Bezahlung vieler Arbeitsplätze in Deutschland sanken.«

Und der Vollständigkeit halber: »Inzwischen gibt der Staat jedes Jahr rund elf Milliarden Euro aus, um Jobs zu subventionieren, von deren Gehältern keiner leben kann: Die Zahl der Beschäftigten, deren Lohn unter dem Hartz-IV-Niveau liegt, pendelt seit Jahren um die 1,3 Millionen, davon sind 300.000 Vollzeitstellen.« Ein gigantisches Niedriglohnsubventionierungsprogramm hat sich hier ausdifferenziert, auch, weil es gerade in den überdurchschnittlich stark davon betroffenen Branchen kaum oder keine Lohnuntergrenzen mehr gibt, weil die Tarifparteien hier keine Rolle mehr spielen und weil der Staat es bislang vermeidet hat, einen gesetzlichen Mindestlohn als Sicherungsnetz nach unten einzuziehen.

Insofern endet der Beitrag von Kirbach mit einer zutreffenden Bilanzierung der viel gerühmten „Agenda 2010“: »Deutschland ist anders geworden. Das Medikament … hatte starke Nebenwirkungen.«