Arbeitsmarktpolitik: Neue Förderprogramme fressen alte auf. Kannibalisierung in der Förderpolitik der Jobcenter für Langzeitarbeitslose und wieder die Grundsatzfrage: Was hilft wem wie?

»Die Arbeitsministerin hat neue Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt – und muss nun an anderer Stelle kürzen. Die Folge: Den Jobcentern fehlen Millionen Euro. Junge Arbeitslose gehen leer aus«, berichtet Stefan von Borstel in seinem Artikel Andrea Nahles stürzt Jobcenter ins Förderchaos.

Im November des vergangenen Jahres wurde wieder einmal ein neues Förderprogramm der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Lohnkostenzuschüssen will die Bundesarbeitsministerin 43.000 schwer vermittelbare Arbeitslose ohne Berufsabschluss wieder zu einem regulären Job verhelfen. Eine Milliarde Euro, so kündigte die Ministerin an, würden dafür ausgegeben. So weit, so schön, wenn … Ja, wenn das zusätzliche Mittel wären. Oder wenn Maßnahmen gestrichen werden, die nachweislich keine Wirkung haben und mit denen man bislang Geld verschwendet hat, denn dann würde ein Wegfall dieser Maßnahmen keine negativen Auswirkungen haben auf die betroffenen Langzeitarbeitslosen. Zugleich müssten die neuen Fördermaßnahmen effektiver sein als das, was man bislang angestellt hat mit den Hartz IV-Empfängern. Diese Punkte werden in dem zitierten Artikel von Borstel nicht direkt thematisiert, müssten aber für eine vollständige Bewertung berücksichtigt werden.

Dem Artikel kann man entnehmen: »Um die neuen Spezialmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu finanzieren, muss Nahles an anderer Stelle in ihrem Etat sparen. Mitte März bekamen die Jobcenter Post aus dem Arbeitsministerium: Sie wurden darüber informiert, dass sie in den nächsten Jahren weit weniger Fördermittel abrufen können als bislang zugesagt. Allein in den nächsten drei Jahren sind es rund 750 Millionen Euro weniger.«

„Beabsichtigte Maßnahmen wurden damit von heute auf morgen infrage gestellt, zum Teil mussten bereits veröffentlichte Ausschreibungen zurückgezogen werden.“ Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert. Sie hat die Zahlen über eine Anfrage an die Bundesregierung öffentlich gemacht. Die hatte sich schon im April zu Wort gemeldet mit einer Stellungnahme das neue Programm betreffend: Nahles-Programm für Langzeitarbeitslose bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Darin heißt es: »Statt mit angestrebten 33.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen die Jobcenter lediglich mit etwas mehr als 24.000 Plätzen … Angesichts von mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen werden von dem Programm nach dem jetzigen Stand gerade einmal 2,4 Prozent der Betroffenen erreicht.« Und bereits in dieser Stellungnahme aus dem April weist Pothmer darauf hin:

»Auf die Teilnahme am Nahles-Programm können viele Jobcenter trotz inhaltlicher Bedenken und trotz des hohen Aufwands nicht verzichten, da ihnen sonst noch weniger Fördermittel als ohnehin zur Verfügung stünden. Nicht nur die steigenden Verwaltungskosten zehren Jahr für Jahr am Topf für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch das Bundesprogramm wird teilweise aus diesen Mitteln finanziert. Dabei handelt es sich allein im Jahr 2015 um 117 Millionen Euro, für 2016 werden 204 Millionen Euro veranschlagt. Dieses Geld steht den Jobcentern nicht zur freien Verfügung, sondern ist an das Bundesprogramm gebunden.«

Es wurde am Anfang dieses Beitrags schon erwähnt, dass ein wichtiges Kriterium wäre, ob der Wegfall der alten Förderung unsinnige Maßnahmen betrifft. Denn dann müsste eine Bewertung anders ausfallen, als wenn durchaus sinnvolle Maßnahmen aus haushaltstechnischen Gründen zum Verdrängungsopfer werden. Einen Hinweis, dass der letzte Punkt nicht auszuschließen ist, kann man dem folgenden Beispiel aus Nordrhein-Westfalen entnehmen, mit dem konkretisiert wird, was denn gestrichen oder erschwert wird:

»Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Dort können Jobcenter keine mehrjährigen Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mehr finanzieren, weil Nahles die Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre zusammengestrichen hat. Für das kommende Jahr wurden die Mittel um zehn Prozent, für die Jahre danach um 40 bis 50 Prozent gekürzt. „Planung und Ausschreibung von Ausbildungsplätzen für die Zielgruppe der benachteiligten jungen Menschen im Rechtskreis SGB II (Hartz IV) wird hierdurch unmöglich gemacht“, heißt es in einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit an die Ministerin in Berlin.
Damit erhielten viele junge Menschen, die derzeit in Jugendwerkstätten, Produktionsschulen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen fit für eine Ausbildung gemacht würden, keinen Anschluss und Übergang in ein weiteres Förderangebot.«

Auf die Situation der jungen Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen wurde schon an anderer Stelle kritisch hingewiesen und das sollte man wissen, um die neuere Verengung der Fördermöglichkeiten richtig einordnen zu können:

»40 Prozent der Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren sind schon seit mehr als vier Jahren hilfebedürftig. Dennoch erhalten sie immer weniger arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen und stattdessen mehr Sanktionen und Leistungskürzungen. Das kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Ausgabe des Arbeitslosenreports«, so O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Jugendliche werden nicht ausreichend gefördert.

Den Finger auf eine grundsätzliche Wunde der deutschen Arbeitsmarktpolitik legt der Deutsche Landkreistag: „Die Handlungsmöglichkeiten der Jobcenter sollten nicht durch immer neue Bundesprogramme für kleine Personengruppen eingeschränkt werden“, fordern die Landkreise in ihrer Stellungnahme zu einer Anhörung zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 18. Mai 2015.

Bereits im Februar 2015 berichtete O-Ton Arbeitsmarkt über die ernüchternden Ergebnisse einer Befragung hessischer Jobcenter zu dem neuen Förderprogramm: Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose: Viel Aufwand, wenig Nutzen. »Nicht durchdacht, zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen. So denken hessische Jobcenter über das ESF-Förderprogramm für Langzeitarbeitslose von Arbeitsministerin Nahles. Dennoch werden zwei Drittel der Jobcenter am Programm teilnehmen.« Und der Vorwurf wird auch konkretisiert:

»Das Programm sei wenig durchdacht und mit hohem Aufwand verbunden. So könne die spezielle Zielgruppe nicht automatisch aus der Fachsoftware ermittelt werden, sondern müsse aufwändig im Einzelfall überprüft werden. Man gehe davon aus, dass für die geringe Teilnehmerzahl von 60 Personen in Hessen (nicht mal ein Prozent der dort grundsätzlich für die Förderung infrage kommenden Klientel) etwa 1.300 Gespräche zu führen seien.«

Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass das neue Förderprogramm aus dem Bundesarbeitsministerium ein Lohnkostenzuschuss-Programm für besonders beeinträchtige Langzeitarbeitslose ist. Dazu die hessischen Jobcenter aus der Befragung des Städtetags:

»Ohnehin mache es wenig Sinn, die besonders arbeitsmarktferne Zielgruppe direkt mit Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt müsse vor und nicht nach dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses stattfinden … Ansonsten seien die geförderten Verhältnisse nicht nachhaltig und auf den Zeitraum der Förderung beschränkt.
Die Erfahrungen mit anderen Lohnkostenzuschüssen (nach § 16e SGB II) zeigten zudem, dass die Zielgruppe so kaum zu integrieren sei. Arbeitgeber hätten grundsätzlich ein geringes Interesse an Lohnkostenzuschüssen und suchten nach direkt einsetzbaren, motivierten und qualifizierten Fachkräften.«

Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Einordnung des Sachverhalts muss hier aufgerufen werden. Die haushaltstechnischen Kapriolen, die jetzt wieder einmal geschlagen werden müssen, weil man ansonsten das neue Förderprogramm nicht auf die Bühne heben kann, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern ganz im Gegenteil in einem Umfeld, in dem immer weniger Fördermittel für Langzeitarbeitslose um Grundsicherungssystem zur Verfügung stehen, auch deshalb, weil die Jobcenter selbst erheblich unterfinanziert sind und eine gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen den Fördermittel und den Verwaltungsausgaben besteht (vgl. beispielsweise den Beitrag Jobcenter: Weniger Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mehr für die Verwaltung), was dann auch praktisch genutzt wird. Zu dieser Problematik der Beitrag Unterfinanzierte Jobcenter: Von flexibler Nutzung zur Plünderung der Fördergelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vom 10. April 2015:

»Mehr als 520 Millionen Euro nutzten die Jobcenter 2014 nicht wie vorgesehen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern stopften damit Löcher in ihrem Verwaltungshaushalt. Einzelne Jobcenter zweckentfremdeten sogar zwei Drittel der Fördergelder. 2014 wanderten so mehr als 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat der Jobcenter, ganze 15 Prozent der insgesamt 3,5 Milliarden Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Und die Einzelfälle sind häufig deutlich dramatischer. Manche Jobcenter bedienen sich bei bis zu zwei Dritteln der Fördergelder, darunter das Jobcenter Ansbach (Landkreis) mit einer 66-prozentigen Umschichtung aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat, das Jobcenter Memmingen mit einer 63-prozentigen Umschichtung und das Jobcenter Lichtenfels, das 61 Prozent der Eingliederungsmittel nutzte, um seine Verwaltungskosten zu decken.«

Abschließend muss an dieser Stelle erneut die nicht nur grundsätzlich ungelöste, sondern durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren deutlich verschärfte Grundsatzfrage aufgeworfen werden: Was hilft wem wie?

Das Förderrecht im SGB III und im SGB II, vor allem mit Blick auf die besonderen Probleme der überaus heterogenen Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen, ist in den vergangenen Jahren zahlreichen Veränderungen unterworfen worden,  die sich summa summarum dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Fördermöglichkeiten – man denke hier insbesondere an den Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung – immer restriktiver ausgestaltet worden sind. Das hat dann zum Beispiel dazu geführt, dass die förderrrechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich der im wesentlichen auf die Billigvariante der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) eingegrenzten öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten es mit sich bringen, dass man im Grunde nur noch völlig arbeitsmarktferne Maßnahmen durchführen kann, die dann aber gemessen werden an der (Nicht-) Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Den meisten Praktikern und Experten, die vorurteilsfrei auf die Arbeitsmarktpolitik schauen, ist eines seit langem klar: Wir brauchen nicht noch mehr einzelne Förderprogramme, die dann auch noch hoch selektiv ausgestaltet werden, so dass ihr Scheitern in der Lebensrealität vorprogrammiert ist, Sondern unabdingbar ist eine grundsätzliche Flexibilisierung und Erweiterung des Förderrechts  innerhalb des SGB II, die es überhaupt erst möglich machen würde, das vor Ort mit Blick auf den einzelnen Langzeitarbeitslosen individuelle Maßnahmen gestaltet werden könnten, die unterm Strich wesentlich effektiver sein würden. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit, bestimmten Menschen, die mittelfristig bis langfristig keine wirklich realistischen Perspektiven auf eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, dennoch eine Teilhabe an einer dann öffentlich organisierten Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Unabhängig von der dann zu konkretisierenden Frage, wer das sie finanziert, muss man gegenwärtig schlichtweg zu dem Ergebnis kommen, dass auch wenn man wollte, dieser Ansatz einer Kombination ganz unterschiedlicher Fördermaßnahmen schlichtweg vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Ausgestaltung des SGB II gar nicht realisierbar wäre. Insofern – aber das wäre ein eigenes, sehr umfängliches Thema – hätte der Bundestag die zentrale Aufgabe, eine umfassende Reform im Sinne einer erheblichen Entschlackung des bestehenden Förderrechts vorzunehmen. Vorschläge aus den Reihen der Praktiker und der Experten, die sich mit diesem Thema seit langem beschäftigen, gibt es viele. Wie so oft fehlt derzeit der politische Wille, diesen an sich notwendigen Weg auch zu gehen. Stattdessen fokussiert man erneut auf die scheinbar öffentlichkeitswirksame Installierung neuer Förderprogramme nach dem Motto: Seht ihr, wir tun doch was für Langzeitarbeitslose. Auch wenn das wieder einmal ein großes Chaos und zahlreiche Verwüstungen vor Ort anrichtet. Aber das müssen ja andere ausbaden.

Aus der Hauptstadt. Der Hauptstadt der Wohnungsnot. Von Jobcentern, die Gentrifizierung fördern und von einer „Ökonomisierung des Hilfesystems“

Es geht um Berlin und um eine Fallstudie aus der Hauptstadt der Wohnungsnot. Mit fast 10.000 Räumungsklagen pro Jahr sei Berlin die Hauptstadt der Wohnungsnotlagen, kann man einer neuen Untersuchung entnehmen. Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems, so ist die Studie von Andrej Holm, Laura Berner und Inga Jensen betitelt worden. Die Arbeit untersucht die wohnungswirtschaftlichen Kontexte von Zwangsräumungen und die Funktionsweise des institutionellen Hilfesystems in Berlin. Sie eröffnet einen umfassenden Einblick in die Berliner Situation von Zwangsräumungen und erzwungenen Umzügen. Eine bedeutsame Rolle bei der Arbeit der Stadtsoziologen spielt der Begriff der „Gentrifizierung“. »Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht … Im Zusammenhang mit dem Aufwertungsprozess erfolgt oft die Verdrängung sowohl der alteingesessenen, gering verdienenden Bevölkerung als auch von langansässigen Geschäften, die dem Zuzug der neuen kaufkräftigeren Bevölkerung und deren entsprechend veränderten Nachfrage weichen müssen«, so das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) in dem Beitrag Was ist eigentlich Gentrifizierung?

In diesem Zusammenhang wird es dann auch verständlich, warum in der Berichterstattung von „schweren Vorwürfen“ gesprochen wird, die von den Wissenschaftlern erhoben werden: »Es sind schwere Vorwürfe, die ein Team von Berliner Soziologen gegen die Jobcenter erhebt: Nach ihren Forschungen gehören die Jobcenter zu den „Motoren von Verdrängung und Zwangsräumung“. Und die Wissenschaftler haben noch einen zweiten Aktivisten der Gentrifizierung ausgemacht«, kann man dem Beitrag Studie: Jobcenter beschleunigen Gentrifizierung entnehmen. Was nun haben die Jobcenter damit zu tun?

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Sozialstaat von unten: Was hat das Jobcenter mit einem U-Boot im Kalten Krieg gemeinsam? Das „Vier-Augen-Prinzip“. Und wie Krankenkassen vor Gericht gezwungen werden müssen, auch für Obdachlose zu zahlen

»Sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA galt im Kalten Krieg das Zwei-Mann-Prinzip für den Einsatz von Atomwaffen auf U-Booten. In den USA mussten sowohl der Commanding Officer als auch der Executive Officer den Befehl zum Einsatz von Atomwaffen authentifizieren, auf sowjetischen U-Booten übernahmen diese Aufgabe der Kommandant und der Politoffizier.« So kann man es zumindestens einem Artikel über das Vier-Augen-Prinzip entnehmen. Dabei geht es hier im ersten Teil um Jobcenter. Was haben die denn mit dem Kalten Krieg zu tun? Eben, das Vier-Augen-Prinzip. Bereits Anfang Februar dieses Jahres berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Vier Augen sehen mehr als zwei: Seit Jahresbeginn gilt bei den Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen ein neues Vier-Augen-Prinzip: Wird zum Beispiel Geld an einen Hartz-IV-Empfänger überwiesen, muss dies ein zweiter Mitarbeiter überprüfen. 2014 zahlte die Bundesagentur für Arbeit für die mehr als 300 Jobcenter, die sie gemeinsam mit den Kommunen führt, knapp 15 Milliarden Euro an Hartz-IV-Empfänger aus. Gut 20 Millionen Hartz-IV-Bescheide verschickt die Behörde im Jahr. Das ist eine Menge Steuergeld und da kann man erwarten, dass es Missbrauchsversuche hinter dem Schalter geben wird, denen man mit Kontrolle versuchen kann und sollte, zu begegnen. Und vier Augen sehen tendenziell besser als nur zwei. Und es ist nicht überraschend, dass das auch bisher schon zur Anwendung kam, dieses Prinzip. »Bei bestimmten Auszahlungen, zum Beispiel bei einer Überweisung von einmalig mehr als 2500 Euro, soll stets ein Mitarbeiter prüfen, ob der Kollege die Leistung zuvor richtig berechnet hat, bevor das Geld transferiert wird«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel. Und was ist jetzt neu? Seit dem 1. Januar muss in jedem Fall – und sei er noch so geringfügig – ein Zweiter über die Arbeit seines Kollegen schauen. Bei allen zahlungsrelevanten Fällen. Schon damals hatten die Personalräte davor gewarnt, dass das zu erheblichen Problemen führen wird, was jetzt offensichtlich der Fall ist.

Bereits Anfang Februar hatten die Personalräte der Jobcenter in einem offenen Brief an zahlreiche Bundestagsabgeordnete darüber geklagt, dass durch das erweiterte Vier-Augen-Prinzip die Belastung „in einigen Bereichen über den Rand des Zumutbaren“ steige, wie Öchsner berichtete. Und die Mitarbeitervertreter stellten in ihrem offenen Brief eine wichtige Frage: „Gibt es Hinweise auf flächendeckenden Betrug durch die Mitarbeiter, die die Erschwerung der Arbeitsbedingungen rechtfertigen würde?“ Aber davon hat man sich nicht beeindrucken lassen, sondern das Vier-Augen-Prinzip umgesetzt. Mit den angekündigten Folgen, die jetzt ans Tageslicht kommen.

Da wird beispielsweise aus Bayern gemeldet: Jobcenter Augsburg überlastet: Existenzen in der Warteschleife. Da erfahren wir, welche existenziellen Konsequenzen das haben kann:

»17.000 Augsburger sind von den Leistungen abhängig. Zwei Mal im Jahr müssen die Empfänger vor Ort eine Weiterbewilligung beantragen. Diese haben Vorrang und sind ohnehin kaum mehr zu bewältigen. Für den Rest? Keine Zeit. „Es bleiben Hunderte von Sachen liegen. Die Leute kommen nicht mehr an ihr Geld“, sagt ein Angestellter, dessen Name nicht genannt werden soll. Eigentlich haben die Mitarbeiter einen Maulkorb verpasst bekommen, dürfen sich öffentlich nicht mehr äußern … „Manche Kunden stehen mit dem Rücken zur Wand“ … Diejenigen etwa, denen Inkassounternehmen oder Haft drohen, wenn sie ihre Rechnungen nicht bezahlen … Das Jobcenter sei ohnehin seit Jahren chronisch unterbesetzt. Der jetzige Mehraufwand sei nicht mehr zu schultern. In der Regel sollte es zwei Wochen dauern, bis die Sozialleistung auf dem Konto ankommt. Momentan sind in Augsburg von sechs Wochen die Rede, „aber nicht mal das ist realistisch“ … Und an dem Geld hängen Existenzen. Miete, Rechnungen, Nahrung. „Es kommen Menschen, die aus Asylheimen raus müssen und nicht mal eine Matratze haben“ … Kurzfristige Hilfe: undenkbar. „Wir sind nicht mehr reaktionsfähig.“«

Oder wie wäre es mit Hamburg? Die 16 Jobcenter stehen vor dem Kollaps. Personalräte fordern Stopp des Verfahrens oder 128 Stellen, kann man dem Artikel Vier-Augen-Prinzip sorgt für Mehrbelastung entnehmen.  Eine Personalrätin kritisiert, dass Post liegen bleibt, Geldanweisungen später rausgehen, sich Überstunden anhäufen und Kollegen sogar samstags arbeiten. »Schon wenn sie einen Hartz-IV-Bescheid für kleine Mieterhöhungen von 55 Cent ändere, müsse sie schauen, welcher Kollege den Vorgang prüfen könne. Vorher könne das Geld nicht raus«, wird eine Sachbearbeiterin zitiert. Und der neue bürokratische Aufwand muss gesehen werden vor dem Hintergrund, dass derzeit ein neues EDV-System – Allegro – eingeführt wird: »… dafür müssen die Daten der rund 100.000 Bedarfsgemeinschaften größtenteils neu eingepflegt werden. Dafür ist bis Ende Juni Zeit.«

Kein Wunder angesichts dieser Bedingungen: Mit einem Brandbrief wenden sich Jobcenter-Mitarbeiter aus Hamburg an die Bundesregierung, die Hamburger Parteien und die eigene Geschäftsführung, so der Artikel Jobcenter-Mitarbeiter beklagen Überlastung. Und als wenn das nicht schon alles genug ist, schlägt eine Verbesserung an der Front ein: Durch eine Gesetzesänderung stehen Flüchtlingen künftig zumindest ab dem 18 Monat mehr Geld zur Verfügung. Das ist gut für die Menschen – für die Jobcenter-Miatrbeiter in Hamburg bedeutet das: 2.000 Bedarfsgemeinschaften mehr.

In der Praxis müssen sich die Betroffenen offensichtlich mit allerlei herumschlagen bzw. ausbaden. Das geht auf Kosten der Mitarbeiter in den Verwaltungen und erst recht leider auf dem Rücken der Betroffenen.

Und wenn man Glück hat, dann korrigiert die Rechtsprechung das, was manche Kostenträger wegdrücken möchten. Dazu ein weiteres Beispiel aus dem Sozialstaat ganz unten: Kasse kann sich nicht drücken, berichtet die Ärzte Zeitung aus dem filigranen Reich der Krankenkassen. Trocken wie immer hat das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel seine Pressemitteilung dazu so überschrieben: Anspruch auf Versorgung mit häuslicher Krankenpflege durch die Krankenkasse auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Hier der Sachverhalt, zusammengefasst in dem Artikel aus der Ärzte Zeitung:

»In zwei Fällen ging es um die Kostenübernahme der häuslichen Krankenpflege für Obdachlose, die in einem Heim für Wohnungslose in Hamburg untergebracht waren.
Ihr Arzt hatte eine medizinische Behandlungspflege verschrieben. Danach sollte bei einem drogenabhängigen HIV-infizierten Bewohner die Medikamenteneinnahme kontrolliert werden. Bei dem anderen Wohnsitzlosen sollten zusätzlich noch Verbände gewechselt, Blutdruckmessungen sowie Injektionen durchgeführt werden.
Die AOK Rheinland/Hamburg wollte dafür nicht aufkommen.«

Und mit welcher Begründung? Wieder ein lehrreiches Stück aus dem Argumentationskasten der Sozialverwalter – man lese und staune ob der Phantasie: Häusliche Krankenpflege müsse die Krankenkasse nur im „Haushalt“ des Versicherten leisten. Ein solcher liege bei Wohnsitzlosen aber nicht vor. Ah ja.

Die höchsten Sozialrichter – es ist ja bezeichnend, dass das bis zum BSG hoch getrieben wurde – haben das anders gesehen und sind zu der folgenden Entscheidung gekommen:

»Das BSG urteilte, dass Krankenkassen grundsätzlich auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, wie hier dem Obdachlosenheim, häusliche Krankenpflege gewähren müssen. Einfachste, von Laien vorzunehmende Pflege, müsse die Einrichtung selbst anbieten.
Dazu zählten etwa die Kontrolle der Arznei-Einnahme oder das Anziehen von Kompressionsstrümpfen. Dies gehöre „zu Hilfen bei der Führung eines gesunden Lebens“ im Aufgabenbereich der Sozialhilfe.
Für medizinische Behandlungspflege, die Fachpersonal benötige, wie die Wundversorgung oder Injektionen, müsse auf ärztliche Verordnung dagegen die Kasse aufkommen. Das soziale Fachpersonal solcher Einrichtungen könne und müsse dies nicht leisten.«

Die Richter haben mit ihrer Entscheidung also die Zuständigkeit für die betroffenen Menschen pragmatisch zu teilen versucht. Sie haben die Einrichtungen für die Obdachlosen in die Pflicht genommen und sie haben die Kassen nicht aus der Verantwortung entlassen. Und sie haben das begründet mit einer Logik, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. »Der Wechsel von Wundverbänden und die Verabreichung von Injektionen wird hingegen von einer Einrichtung der Eingliederungshilfe, die ausschließlich mit Fachpersonal aus den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Pädagogik arbeitet, nicht geschuldet. Für die Versorgung mit diesen Leistungen ist daher von der Krankenkasse häusliche Krankenpflege zu gewähren«, schreibt das BSG. Irgendwie logisch, sollte man denken. Aber darüber wird gestritten und dagegen wird geklagt – und das war nur ein kleines Beispiel von dem, was tagtäglich ganz unten auf- und vor die Füße geworfen wird.