Ein Vorstoß zur „Entlastung“ der Arbeitgeber beim Mindestlohn – ein Vorgeschmack auf das, was von einer Jamaika-Koalition sozialpolitisch zu erwarten ist?

Es sind bereits drei Wochen vergangen seit der Bundestagswahl 2017 – und nach dem Ergebnis war und ist klar, dass es wenn, dann eine „Jamaika“-Koalition aus Union, FDP und Grünen geben muss. Aber die Sondierungsgespräche, also die Phase vor der Aufnahme offizieller Koalitionsverhandlungen, haben immer noch nicht begonnen. Zum einen musste sich die Union sammeln und interne Streitigkeiten um die unnennbare Obergrenze für Flüchtlinge semantisch befrieden, zum anderen wollte die Bundeskanzlerin offensichtlich erst einmal in aller Ruhe die Landtagswahlen in Niedersachsen abwarten, die nun am 15. Oktober stattgefunden und der Union ein weitere Problem verschafft haben, da die für klinisch tot erklärte SPD dort überraschend hat gewinnen können. Vor diesem Hintergrund muss der aufmerksame Beobachter weiter warten, was denn nun sozialpolitisch auf uns zu kommen könnte, wenn die mal richtig anfangen zu verhandeln.
In der Not gibt man sich auch mit Brosamen zufrieden und sammelt alles auf, was als Hinweis gewertet werden könnte, wohin die Reise einer „Jamaika“-Koalition gehen wird. Und da erweist es sich als hilfreich, dass es diese Koalitionsformation bereits gibt, in Schleswig-Holstein. Und von dort werden „interessante“ Aktivitäten vermeldet. Die vielleicht einen Vorgeschmack liefern können.

Dabei geht es um den gesetzlichen Mindestlohn. Was war das für eine Schlacht vor und bei seiner Einführung. Mit harten Bandagen wurde gekämpft. Und neben dem Spiel mit den angeblichen, mittlerweile bekanntlich widerlegten Jobkiller-Ängsten wurde auch heftig auf die Tränendrüse des „Bürokratiemonsters“ gedrückt. Und eigentlich müsste man im Oktober 2017 zu dem Ergebnis kommen, dass der „Schock“ des Mindestlohns und die mit ihm verbundenen Auflagen irgendwie Geschichte ist, hört man doch von „normalen“ Unternehmen diesbezüglich keine massive Kritik mehr, außer vielleicht, dass man generell beklagt, dass Löhne immer Kosten sind und stören. Also könnte man sich anderen Themen widmen, aber nein – offensichtlich wird die Kritik an bestimmten Bestandteilen des Mindestlohns bzw. seiner Umsetzung weiter vorangetrieben und sie stößt bei dem einen oder anderen Politiker auf einen entsprechenden Resonanzboden.

Dabei stand und steht nicht etwa die Lohnauszahlung an sich unter Beschuss, selbst die Höhe des Mindestlohns nicht (mehr), sondern neben den Kontrollen seitens des Zolls war und ist es die Arbeitszeitdokumentation, die von einigen als schmerzender Stachel im betrieblichen Fleisch empfunden wird. Und die seit Anbeginn des Mindestlohns Sturm laufen, um eine „Entlastung“ von diesem bürokratischen „Aufwand“ zu erreichen. Und das hat bei den meisten gar nichts mit dem Mindestlohn an sich zu tun, sondern mit der Arbeitszeit, die nun nachgehalten und für eventuelle Kontrollen vorgehalten werden muss.

Dazu bereits die Hinweise in dem Beitrag (Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt vom 22. April 2015, in den turbulenten Wochen nach dem Inkraftreten der gesetzlichen Lohnuntergrenze. In diesem Beitrag wurde von einer Demonstration „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands in München berichtet. Dort wurde beklagt, „das Gastgewerbe drohe unter der Last der Bürokratie zu zerbrechen“. „Gastfreundschaft statt Doku-Wahn“ und „Wirtsstube statt Schreibstube“ lauteten die Parolen, oder auch „Ich will jeden Sonntag arbeiten“ und „Ich will kochen statt dokumentieren“. Dann wurde in dem Beitrag der Finger auf die echte Wunde gelegt, denn wenn man genau hinschaut, »dann öffnet sich eine ganz andere Sichtweise auf den eigentlichen Gegenstand des Protestes. Denn der ist weniger bis gar nicht das Mindestlohngesetz und die damit verbundene Auflage, mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte.« Und weiter: »Es geht den Hoteliers und Wirten … um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt.«

Wie das mit der Arbeitszeitdokumentation geregelt ist, verdeutlicht die Abbildung am Anfang dieses Beitrags. Eine Dokumentationspflicht gibt es branchenübergreifend, also für alle Arbeitgeber (außer den Privathaushalten) nur für die geringfügig Beschäftigten, den Minijobbern. Und dann für Arbeitnehmer/innen in zehn Branchen, die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz explizit genannt werden als Branchen, in denen man es überdurchschnittlich oft mit Schwarzarbeit zu tun habe, in denen also ein Teil der Unternehmen anfällig ist für Missbrauch zuungunsten der Beschäftigten. Und für die hat man auch eine Dokumentation der Arbeitszeit vorgeschrieben.

Also eigentlich, denn zugleich hat man dem zuständigen Bundesarbeitsministerium (BMAS) gesetzlich die Möglichkeit eröffnet, durch eine Rechtsverordnung ohne Zustimmungspflicht des Bundesrates die Dokumentationspflicht zu erweitern – oder einzuschränken. Von der letzteren Variante hat das BMAS dann auch mit der Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung (MiLoDokV)vom 29. Juli 2015 Gebrauch gemacht – um die damaligen Kritiker etwas zu beruhigen. Das wurde damals in diesem Beitrag vom 30. Juni 2015 analysiert und kommentiert: Der Mindestlohn mal wieder. Er wirkt vor sich hin und Andrea Nahles korrigiert ein paar Stellschrauben im Getriebe. Das zentrale Entgegenkommen der Ministerin Andrea Nahles (SPD) damals an die Kritiker am Mindestlohn gerade auch in den Reihen der Großen Koalition: Sie hat die Dokumentationspflicht bei der Arbeitszeit bei bestimmten Personen verkleinert. Aufzeichnungspflichten bei der Beschäftigung von Ehepartnern, Kindern und Eltern des Arbeitgebers sind mit der neuen Verordnung entfallen. Sie ist aber noch einen Schritt weiter gegangen und man hat die Schwellenwerte von brutto 2.000 (wenn die kontinuierlich während der letzten zwölf Monate geflossen sind) bzw. 2.598 Euro pro Monat eingeführt, bei deren Überschreiten man die Arbeitszeit nicht mehr dokumentieren muss. Diese Beträge sind natürlich schon auf den ersten Blick etwas willkürlich gesetzt. Zur Kritik kann man in dem damaligen Beitrag finden:

»Da fragt sich auch der dem Mindestlohn sehr zugeneigte Leser vielleicht: Warum jetzt 2.000 Euro? Ist das empirisch ermittelt worden oder hat man gewürfelt? Oder hat man die Zahl genommen, weil sie so schön rund ist? Und wenn man das irgendwie erklärt bekommt, bleibt eine weitere Frage mit Ratlosigkeitspotenzial, denn die Absenkung gilt ja nur, »wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.« Ja wie? Was genau ist denn „schon länger besteht“? Geht’s noch präziser? Oder ist das dann aus dem zweiten Teil abzuleiten, wo von den vergangenen zwölf Monaten die Rede ist. Also zwölf Monate. Warum nicht 11 oder 10 oder 9? Hat man da gewürfelt?

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Karl Schiewerling (CDU), wird mit der kritischen Anmerkung zitiert, durch die Einführung einer weiteren Gehaltsschwelle werde das Gesetz für Arbeitgeber und Kontrollbehörden noch komplizierter. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt erscheint das nicht wirklich durchdacht, offensichtlich will Andrea Nahles den Mindestlohnkritikern in der Union und in den Wirtschaftsverbänden irgendwie entgegenkommen.«
Zwischenfazit: Bereits mit den Ausnahmeregelungen aus dem Juli 2015 wurde das Mindestlohnregime komplizierter ausgestaltet.

Aber offensichtlich ist der Phantasie hier keine Grenzen gesetzt. Denn  nun meldet sich die real existierende „Jamaika“-Koalition zu Wort, also die aus Schleswig-Holstein. Die hat den Bundesrat am 10. Oktober 2017 aufgefordert, mit einem Gesetzentwurf die Arbeitszeiterfassung beim Mindestlohn für Teilzeitkräfte „handhabbarer und praxisnäher“ zu gestalten.
Das hört sich erst einmal ganz unverdächtig an. Was genau wollen die Nordmänner und -frauen hier erreichen?

Dazu muss man einen Blick werfen in den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mindestlohngesetzes, ein Antrag des Landes Schleswig-Holstein an den Bundesrat. Der soll in der 961. Sitzung des Bundesrates am 3. November 2017 behandelt werden.
Dort wird erst einmal behauptet: »Die Dokumentationspflicht stellt insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen einen Mehraufwand dar.«

Und weiter: »Um den Bürokratieaufwand zu reduzieren, sollen mit dem Gesetzentwurf die Dokumentationspflichten nach dem MiLoG handhabbarer und praxisnäher gestaltet werden.«

Und wie will man das erreichen?

»Die Verordnungsermächtigung des § 17 Absatz 3 MiLoG wird um eine Verpflichtung zur Abgrenzung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten ergänzt.«

In der Begründung wird ausgeführt: »So treffen die festgelegten Entgeltgrenzen keine Unterscheidung zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten. Dabei haben Teilzeitbeschäftigte aufgrund ihrer stundenreduzierten Arbeitszeit ein niedrigeres Monatseinkommen. Dadurch erreichen sie selbst bei einem Stundenlohn, der deutlich über dem derzeitigen Mindestlohn von 8,84 Euro liegt, in der Regel nicht die Schwellenwerte.«

Das ist richtig erkannt. Aber wie soll dem Abhilfe geschaffen werden? »Bei der Festlegung der Schwellenwerte ist daher die stundenreduzierte Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten zu berücksichtigen, beispielsweise indem anstelle eines Monatseinkommens eine stundenbezogene Entgeltgrenze festgelegt wird.« Das war’s. Alles andere müsse das Ministerium erledigen.

Wir müssen uns das so vorstellen: Wenn die Teilzeitkräfte (angeblich) einen Stundenlohn von 10 Euro bekommen (oder – erneut angeblich – mehr), dann muss man die Arbeitszeiten in den eingangs genannten Branchen nicht mehr dokumentieren. Mit der logischen Folge, dass das dann auch nicht mehr vom Zoll geprüft werden kann, denn wo keine Stunden dokumentiert werden, da kann man auch nicht nachweisen, dass ein gesetzlich vorgeschriebener Stundenlohn vorenthalten wurde.

Dazu schreibt der DGB in der Pressemitteilung Kein Mindestlohn mehr für Teilzeitkräfte? DGB protestiert gegen Vorstoß der Jamaika-Koalition in Kiel:

»Die Jamaika-Koalition in Kiel will nichts anderes als den Mindestlohn aufweichen. Wer arbeitet, hat einen Rechtsanspruch auf einen anständigen Lohn – ob Vollzeit oder Teilzeit. Das heißt seit 2015: mindestens den Mindestlohn. Dafür muss die Arbeitszeit erfasst werden. Es gibt keinen Spielraum, wie das „handhabbarer und praxisnäher“ gemacht werden kann. Wer die Arbeitszeit nicht dokumentieren will, will nicht weniger Bürokratie, sondern mehr Ausbeutung. Diese Pläne würden Millionen Beschäftigten in Gastronomie, Handel, Logistik treffen – und vor allem Frauen, denn sie arbeiten öfter Teilzeit.«

Letztendlich geht es auch hier wieder um das ungeliebte Kind Arbeitszeitdokumentation und den darüber verstellbaren Beweis, dass ein Arbeitgeber möglicherweise gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen hat.

Aber ist das wirklich so ein bürokratisches Monstrum? Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schreibt in der hauseigenen Broschüre Der Mindestlohn. Fragen & Antworten:

»Wenn Arbeitgeber zur Dokumentation nach dem MiLoG verpflichtet sind …, müssen sie Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeits­zeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erfassen. Diese Dokumentation erfordert keine spezielle Form, sondern kann z. B. handschriftlich auf einem einfachen Stundenzettel vermerkt werden. Auch die konkrete Dauer und Lage der Arbeitspausen muss nicht gesondert ausgewiesen werden. Bei Beschäftigten, die ausschließlich mobil tätig sind und ihre Arbeitszeit flexibel und eigenverantwortlich einteilen können, genügt es, die Dauer der Arbeitszeit festzuhalten.«

Das hört sich nicht wirklich monströs an. Zudem kann man sich sogar kostenlose Apps zur Erfassung der Arbeitszeit seitens der Mitarbeiter herunterladen.

Nein, hier geht es um etwas ganz anderes. Gerade die Teilzeitbeschäftigten (zu denen natürlich auch die Minijobber gehören) sind bekanntlich diejenigen, die am ehesten ausgenutzt und überdurchschnittlich stark in Anspruch genommen werden können. Vor allem in den Branchen, die man nunmehr entlasten will.

Der ganze Vorgang verweist auf eine hoch konfliktäre Baustelle, die auf uns zukommen wird, wenn es eine „Jamaika“-Koalition geben wird. Denn Union und FDP wollen an das Arbeitszeitgesetz und die dort normierten Schutzvorschriften heran. Das mit dem Mindestlohn ist da nur ein ganz leichtes Lüftchen, das man platziert hat, um den Boden zu bereiten.

Der Trend geht zum Zweitjob. Für die einen aus der Not heraus, für einige andere hingegen ganz im Gegenteil

Immer mehr Beschäftigte in Deutschland gehen mehreren Jobs nach. In den vergangenen zehn Jahren nahm die Zahl der Mehrfachbeschäftigten nahezu kontinuierlich um rund eine Million zu. 3,2 Millionen Deutsche hatten im vergangenen März mehrere Jobs. Das berichtet beispielsweise dieser Artikel: „Arm trotz Arbeit“ – mehr als drei Millionen haben mehrere Jobs. Die Zahlen stammen von der Bundesagentur für Arbeit. Hintergrund ist eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag. „Mehrere Jobs“ zu haben kann nun in ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen stattfinden – beispielsweise hat jemand zwei sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen (das betrifft mehr als 310.000 Arbeitnehmer). Für die Variante der Ausübung einer ausschließlichen geringfügigen Beschäftigung und mindestens einer weiteren geringfügigen Beschäftigung (die aber insgesamt die 450 Euro-Schwelle nicht überschreiten dürfen), werden 260.000 Personen ausgewiesen. Die Gruppe der Mehrfachjobber wird dominiert von der Kombination einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer geringfügig entlohnten Beschäftigung, also einem Minijob. Das betrifft mehr als 2,6 Mio. Menschen. Ganz offensichtlich spielen die Minijobs hier eine ganz zentrale Rolle.Und bei den Minijobs muss man zwei große Lager unterscheiden – zum einen die Menschen, die ausschließlich geringfügig, also bis zur 450 Euro-Schwelle beschäftigt sind und zum anderen die, bei denen neben einer anderen, „normalen“ Beschäftigung zusätzlich ein Minijob ausgeübt wird.

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„Jamaika“ ante portas nach der Bundestagswahl – und was das für die Sozialpolitik bedeuten kann. Am Beispiel der Leiharbeit

Nun sind die Wählerwürfel gefallen und wir wissen, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für die kommenden Jahre zu einer „Jamaika“-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen kommen muss, denn die einzige rechnerische Alternative, also eine Fortführung der „Großen Koalition“ zwischen Union und SPD, ist nach dem sozialdemokratischen Schwur, man werde nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 den Gang in die Opposition antreten, nur dann noch möglich, wenn die Verhandlungen über eine „Jamaika“-Koalition scheitern sollten und die SPD von ihrer Aussage, nicht mehr mit Merkels Union koalieren zu wollen, im Fall des Scheiterns von „Jamaika“-Verhandlungen abweichen würde, was aber nicht wirklich plausibel erscheint, auch wenn im schlimmsten Fall Neuwahlen drohen – denn könnte es wirklich noch schlimmer kommen für die SPD?

Also kann man zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass wir nach längeren Verhandlungen, die sich sehr schwierig gestalten werden, eine Koalition von Union (die durch ein ebenfalls historisch schlechtes Wahlergebnis verunsichert ist), mit einer von Null auf Hundert katapultierten, aber inhaltlich und personell auf sehr wackeligen Füßen stehenden FDP und den angesichts mieser Umfragewerte davongekommenen, allerdings inhaltlich sehr heterogen aufgestellten Grünen bekommen werden.

Und da wird es eine Menge Stress geben, vor allem zwischen der FDP und den Grünen (oder einem Teil der Grünen), vor allem in dem hier relevanten Bereich der Sozialpolitik – und das vor dem Hintergrund, dass die Grünen der kleinste Koalitionspartner sein werden.

Nun kann man viel spekulieren auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene, was das für die anstehenden schwierigen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen bedeuten kann und wird.

Man kann aber auch – und das soll hier exemplarisch versucht werden am Beispiel der Leiharbeit – an einem konkreten Teilbereich der Sozialpolitik ansetzen und darüber nachdenken, was die neue Konstellation bedeuten könnte vor dem Hintergrund, dass es im Bereich der Leiharbeit und Werkverträge gerade am Ende der letzten Legislaturperiode durchaus kontroverse gesetzgeberische Veränderungen gegeben hat (vgl. hierzu kritisch den Beitrag Eine weichgespülte „Reform“ der Leiharbeit und Werkverträge in einer Welt der sich durch alle Qualifikationsebenen fressenden Auslagerungen vom 1. April 2017).

Dieses Thema ist auch deshalb interessant, weil die Grünen – neben den Linken – 2016 als Opposition im Deutschen Bundestag massiv gegen die aus ihrer Sicht halbgare Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Sturm gelaufen sind. Und in den ganzen vier zurückliegenden Jahren waren die Grünen immer mit kritischen Stimmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik präsent gewesen – was natürlich auch, man sollte das nicht unterschätzen, an einzelnen Abgeordneten lag. Grüne MdBs wie Brigitte Pothmer (die nicht mehr für den neuen Bundestag kandidiert hat), Beate Müller-Gemmeke und Wolfgang Strengmann-Kuhn haben sich hier deutlich positioniert und engagiert, um nur drei Beispiele zu nennen.

Und als die Reform der Leiharbeit im April dieses Jahres in Kraft trat, feierte die zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) das pflichtgemäß als eine große Verbesserung für die Leiharbeiter in unserem Land. »Leiharbeit und Werkverträge geben unserer Wirtschaft Flexibilität. Wir wollen verhindern, dass sie missbraucht werden, um Druck auf Beschäftigte, Löhne und Arbeitsbedingungen zu machen. Daher führen wir die Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurück und schieben dem Missbrauch von Werkverträgen einen Riegel vor.« So die Ministerin, die nun in Zukunft offensichtlich, folgt man den aktuellen Meldungen, das Amt der Fraktionsvorsitzenden der geschrumpften SPD-Fraktion übernehmen soll.

Das mit der angeblichen deutlichen Verbesserung der Situation der Leiharbeiter in unserem Land haben schon damals viele anders gesehen – und auch die Grünen waren in ihrer Ablehnung dessen, was die Große Koalition da vorgelegt hat, mehr als deutlich. Vgl. dazu beispielsweise den Antrag der Grünen vom 27.01.2016: Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen verhindern (BT-Drs. 18/7370). Dort wurde nicht nur die konsequente Anwendung des „equal pay“-Grundsatzes vom ersten Tag der Beschäftigung eines Leiharbeiters gefordert, sondern auch eine „Flexibilitätsprämie“ in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns als Ausgleich für höhere Flexibilitätsanforderungen in offensichtlicher Anlehnung an das französische Beispiel (vgl. dazu den Beitrag Leiharbeit in Frankreich: Mehr Lohn gegen weniger Sicherheit von Bernard Schmid). Das waren und sind erhebliche Abweichungen von dem, was die GroKo dann beschlossen hat.

Und die skeptischen Einschätzungen der Kritiker der Neuregelungen der Leiharbeit sind offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen. Dem Business des Menschenverleihs geht es nicht schlecht, wie solche Zahlen verdeutlichen: Zeitarbeit erreicht Eine-Million-Marke: »In diesen Tagen übersteigt die Belegschaft der etwa 11.000 Zeitarbeitsfirmen die Marke von einer Million Menschen, das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Eine genauere Analyse wurde hier bereits im Juli 2017 veröffentlicht: Sie wächst und gedeiht, die Leiharbeit. Die Probleme, die aus der Branche gemeldet werden, sind denn auch weniger Probleme mit der vielbeschworenen „Strangulierung“ durch den Gesetzgeber, sondern strukturelle Wachstumsbremsen, die sich aus dem Geschäftsmodell in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitsmarktentwicklung ergeben: »Die offensichtlich trotz der angeblich existenzbedrohenden Regulierung seitens der Politik florierende und expandierende Branche hat mittlerweile erhebliche Probleme, genügend Arbeitskräfte für die Aufträge zu rekrutieren. Da überrascht es nicht, dass sie Ausschau hält nach neuen Quellen für die Rekrutierung von Leiharbeitern. Dass man dabei ein Auge auf die Flüchtlinge geworfen hat, überrascht dann auch nicht mehr.«

Damit aber nicht genug – auch die Tarifparteien, also Arbeitgeber und Gewerkschaften – haben zwischenzeitlich reagiert, aber sicher nicht so, wie sich das viele zumindest hinsichtlich der Gewerkschaften so vorstellen würden.

Das schlägt sich dann in solchen Schlagzeilen nieder: Gesetz als Mogelpackung? Metallindustrie unterläuft Regeln zu Leiharbeit. Um gleich am Anfang eine mögliche Fehlinterpretation zu vermeiden, sei hier darauf hingewiesen, dass es nicht „die bösen“ Arbeitgeber sind, die sich hier gegen eine arbeitnehmerorientierte Schutzgesetzgebung stellen und diese zu unterlaufen versuchen – sondern das passiert ganz legal über – ja, das ist kein Druckfehler – Tarifverträge, die von den Arbeitgebern gemeinsam mit den Gewerkschaften abgeschlossen worden sind. Den Hinweis darauf findet man auch in den aufgerufenen Artikel:

»Schon 13 regional geltende Tarifverträge erlauben Abweichungen von der gesetzlichen Regelung, wonach Leiharbeiter höchstens 18 Monate lang in einer Firma eingesetzt werden dürfen … Das Bundesarbeitsministerium verwies darauf, dass die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranchen „noch bis Oktober 2018 Zeit haben, um abweichende Regelungen zu treffen.“ Experten gehen davon aus, dass noch zahlreiche weitere Branchentarifverträge hinzukommen, um die Höchsteinsatzdauer zu umgehen.«

Was passiert hier? Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird das nicht unbekannt sein, denn bereits am 19. April 2017 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird. Früher hat man noch lernen dürfen, das Tarifverträge dazu dienen, die Situation der Arbeitnehmer zu verbessern. Das reformierte AÜG hingegen produziert eine irritierende Rolle rückwärts. Das von Andrea Nahles immer wieder vorgetragene Ziel einer Stärkung der Tarifparteien wird im AÜG jetzt so umgesetzt, dass zum einen die Besserstellungsabsicht der Tarifebene konterkariert wird, da den nicht-tarifgebundenen Unternehmen ein weitgehend gleicher Vorteil ermöglicht wird. Aber noch schlimmer: Die Tarifvertragsparteien (wohlgemerkt der Entleihbetriebe) können schlechtere Bedingungen für die Leiharbeiter vereinbaren und das auch noch verlängern. Tarifpolitik absurd, mag der eine oder andere an dieser Stelle denken.

In dem bereits zitierten Artikel über die tarifvertragliche Umgehungsstrategie finden wir diese Hinweise: »Die neue Vorschrift war mit der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes am 1. April eingeführt worden. Sie soll Leiharbeiter – die zumeist schlechter bezahlt werden – davor schützen, dass sie immer wieder auf derselben Stelle eingesetzt werden, ohne eine Festanstellung zu bekommen. In der Praxis verlängern viele Unternehmen, etwa Autohersteller, die Einsatzzeit von Leiharbeitern einfach auf 48 Monate, um Lohnkosten zu sparen. Aber auch die Gewerkschaften haben durchaus ein Interesse daran, um die Stammbelegschaft zu schützen.«

Und dort werden auch die Grünen zitiert, in Gestalt der Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke:

„Die Höchstüberlassungsdauer ist eine Mogelpackung, denn sie begrenzt Leiharbeit in keiner Weise.“ Sie warf der Bundesregierung vor, es mit der Höchstüberlassungsdauer nicht ernst gemeint zu haben: „Sonst hätte sie keine Verlängerung ermöglicht, zumal die meisten Leiharbeitskräfte viel kürzere Einsatzzeiten haben.“

In ihrem Wahlprogramm fordern die Grünen, dass Leiharbeiter vom ersten Tag an mindestens den gleichen Lohn erhalten wie Stammbeschäftigte – und zusätzlich eine Flexibilitätsprämie. Müller-Gemmeke sagte: „Das wäre gerecht und davon würden die Leiharbeitskräfte tatsächlich profitieren. Leiharbeitskräfte bekämen einen höheren Lohn und für Unternehmen wäre eine Festanstellung betriebswirtschaftlich günstiger.“

Wie könnte sich das nun in einer „Jamaika“-Koalition mit Union und FDP ausgestalten? Die haben ganz andere Vorstellungen. Nehmen wir als Beispiel das Wahlprogramm der FDP: Dort findet man unter der Überschrift „Abbau überflüssiger Regulierung in der Zeitarbeit“ die Aussage:

»Wir Freie Demokraten wollen über üssige Regulierungen bei der Zeitarbeit abbauen … die Große Koalition (hat) hier bürokratisiert. Die unnötigen gesetzlichen Vorschriften zur Überlassungsdauer und Entlohnung führen zu Unsicherheiten und Aufwand. Dies wollen wir ändern.«

Keine vielversprechende Basis für eine Zusammenarbeit mit den Grünen an dieser Stelle – sollten denn die Grünen an ihrer bisherigen Positionierung festhalten. Die Union hat dem Regulierungsansatz der GroKo-Partners SPD nur unter Bauchgrimmen zugestimmt und im parlamentarischen Prozess dem Gesetzentwurf einige Zähne gezogen. Sie wird kein besonderes Interesse haben an der Eingrenzung der Leiharbeit, geschweige denn an ihrer Verschärfung. Ganz im Gegenteil, die Union trifft sich mit der FDP in der Zielsetzung, auf dem Arbeitsmarkt weitere Deregulierungen durchzusetzen. Zu Zeit- oder Leiharbeit findet man im „Regierungsprogramm 2017-2021“ nichts, aber sehr wohl zum Mindestlohn, der ja auch von den Grünen begrüßt wird:

»Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hat sich grundsätzlich bewährt. Jeder soll von seiner Arbeit leben können. Deshalb halten wir daran fest. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass viele Regelungen zu bürokratisch und wenig alltagstauglich sind. Dies trifft insbesondere unsere Landwirtschaft und die Gastronomie sowie weitere Be- triebe. Unser erklärtes Ziel ist daher der Abbau unnötiger Bürokratie gleich zu Beginn der neuen Wahlperiode.«

Jeder, der sich in dieser Materie etwas auskennt, weiß, dass das als Drohung zu verstehen ist: Bei den angedeuteten „bürokratischen Regelungen“ geht es weniger bis gar nicht um die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, sondern um die Arbeitszeitregelungen, wie wir sie bislang (noch) im Arbeitszeitgesetz haben, sowie um die Dokumentationspflichten für die Arbeitgeber. Und auch die sind nicht wirklich das Problem (man kann das heute in Zeiten der Digitalisierung über eine kostenlose App-Lösung realisieren, wenn man denn will), sondern die damit verbundene Transparenz über mögliche Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz. Vor diesem Hintergrund – an dem sich die Union klassisch mit der FDP treffen kann – wird eine der großen Baustellen der Koalitionsverhandlungen und des Regierungshandelns die angestrebte und arbeitgeberorientierte „Flexibilisierung“ der Arbeitsbedingungen, vor allem, was die Arbeitszeit angeht, werden.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, gut, dass dann wenigstens die Grünen die arbeitnehmerorientierten Positionen in der neuen Regierung verteidigen und hochhalten kann. Wenn, dann wäre das sicher gut. Aber die abschließende Frage bleibt doch – werden die Grünen (selbst wenn sie das wollten, was man auch noch mal detaillierter diskutieren müsste) das auch können bzw. dürfen?

Vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet spricht vieles dafür, dass sie das und auch andere progressiv angelegte sozialpolitische Inhalte, nicht werden können und dürfen. Denn die Grünen wären der kleinste Koalitionspartner unter der Jamaika-Flagge, sie haben in zentralen Politikfeldern teilweise konträre Positionierungen vorgenommen im Vergleich zur Union und FDP und sie werden versuchen müssen, wenigstens einige „ihrer“ Inhalte in der neuen Regierung zu verankern. Und da muss man dann Prioritäten setzen, denn die Grünen haben sicher – und sei es semantisch – progressive Positionen in der Sozialpolitik vertreten, aber wenn sie sich entscheiden müssten zwischen Hartz IV, Mindestlohn und Leiharbeit auf der einen und Umwelt- und Klimapolitik auf der anderen Seite, dann gibt es plausible Prognosen, dass das Pendel zu den Umweltthemen schwingen wird.

Das wird sich dann sicher auch in der Ressortverteilung einer „Jamaika“-Koalition niederschlagen. Man wird den Grünen das Umweltministerium geben und das Bundesfamilienministerium, das vielleicht noch aufgepeppt um Integration (von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern). Man schaue sich beispielsweise die Ressortverteilung einer anderen Dreier-Koalition mit einem etwas anderen Vorzeichen an, auch als „Ampel“-Koalition bezeichnet: In Rheinland-Pfalz, wo die SPD und die FDP mit den Grünen als kleinstem Partner zusammen regieren, ist genau das passiert.

Bleibt wenigstens noch die Opposition, wird der eine oder andere denken. Die werden dann die sozialpolitische Flanke der neuen Bundesregierung massiv angreifen. Aber auch hier sollte man prophylaktisch Wasser in den Wein kippen. Denn die Linken haben sich zwar leicht verbessern können, sind aber weiterhin relativ isoliert im Bundestag, selbst die punktuellen Bündnisse mit den bislang ebenfalls oppositionellen Grünen werden wegfallen. Und die SPD, wenngleich auf der Oppositionsbank, wird wohl nach der Hinterzimmerentscheidung am Wahltag von der bisherigen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles geführt werden, die bei allen Angriffen immer berücksichtigen muss, dass sie selbst viele der kritisierten (Nicht-)Entscheidungen der vergangenen vier Jahre wie die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu verantworten hat und sich zugleich den großen Industriegewerkschaften verpflichtet fühlt, die – wie wir am Beispiel der Leiharbeit gesehen haben – ihre ganz eigenen Interessen im Spiel haben.

Was die Sozialpolitik angeht, muss man zum jetzigen Zeitpunkt hinsichtlich einer „Jamaika“-Koalition mehr als skeptisch sein, auch wenn man sich gerne überraschen lassen würde. Den Leiharbeitern und den Mindestlöhnern kann man hingegen schon relativ gesichert in Aussicht stellen, dass sich an ihrer Situation wenig bis gar nichts verbessern wird. Eher im Gegenteil werden sie als erste unter die Räder des großen politischen Basars, den wir zu erwarten haben, geraten.