Jetzt die Dienstleistungen als – ambivalente – Speerspitze der Arbeiterbewegung? Von der Tertiarisierung der Streiks, Häuserkämpfen und „Organizing“ als Hoffnungsträger

»Der Schwerpunkt der Arbeitskämpfe in Deutschland verschiebt sich immer mehr vom produzierenden Gewerbe auf den Dienstleistungsbereich. Dabei sind zunehmend Dritte – etwa Flugreisende, Bank- und Einzelhandelskunden, Brief- oder Paketempfänger – von Streiks betroffen.« Die Gewerkschaft Verdi würde auf Mitgliederverluste, eine rückläufige Tarifbindung und Konkurrenzgewerkschaften „mit einer expansiven Tarifpolitik“ antworten, so der Artikel Streiks treffen immer mehr Privatpersonen. Dieser bezieht sich auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Verdi im Kampfmodus, so kann man es beim Institut selbst lesen. »Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) verfolgt … eine zunehmend harte Tarifpolitik. So genehmigte Verdi zwischen 2004 und 2007 durchschnittlich 70 Arbeitskämpfe pro Jahr. Zwischen 2008 und 2014 stieg die Zahl dann auf durchschnittlich 151 … Während es zwischen 1990 und 2005 deutlich mehr Streiks im Produzierenden Gewerbe gab, entfielen zwischen 2005 und 2015 rund 80 Prozent aller Streiktage auf Dienstleistungsbranchen.«

Zu diesen Entwicklungen hat das Institut eine Studie veröffentlicht, die das genauer analysiert:

Hagen Lesch (2016): Die Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di – Tarifpolitische Entwicklungen und Herausforderungen, in: IW-Trends, Heft 4/2016

Im Jahr 2001 haben sich fünf Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleis­tungsgewerkschaft  (ver.di) zusammengeschlossen.  In den Jahren nach Gründung 2001 habe die Gewerkschaft rund 600.000 Mitglieder verloren, ein Minus von 27 Prozent. Die Jahre nach dem Zusammenschluss waren mehr als mager: Die Tarifabschlüsse waren damals niedrig und ver.di bekam Konkurrenz durch Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften wie in der Luftfahrtbranche (Ufo für die Flugbegleiter, die Vereinigung Cockpit für die Piloten) oder im Gesundheitswesen durch den Marburger Bund (für die Krankenhausärzte). Die Tarifbindung ging in einzelnen Tarifbereichen spürbar zurück. So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel von 69 Prozent im Jahr 2000 auf zuletzt 42 Prozent.

Mittlerweile »hat sich der Mitgliederrückgang in den letzten Jahren verlangsamt und es gelang in vielen Tarifbereichen, wieder Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung zu finden«, so Lesch in seiner Studie. Mit heute gut 2 Millionen Mitgliedern ist sie nach der IG Metall die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft.

Schaut man sich das Jahr 2015 hinsichtlich der Streikaktivitäten in Deutschland an, dann liegt die Diagnose einer deutlichen Zunahme der Arbeitskämpfe nahe. Zu den Werten für 2015 erläutert das WSI: Die erhebliche Steigerung gegenüber 2014 (2,02 Millionen gegenüber 392.000 Streiktage) beruht im Wesentlichen auf zwei großen Auseinandersetzungen. Allein 1,5 der zwei Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie den Streik bei der Post (was die These einer Tertiarisierung der Arbeitskämpfe zu bestätigen scheint). Hinzu kam zu Beginn des letzten Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie. Im internationalen Vergleich wird in Deutschland gleichwohl weiterhin relativ wenig gestreikt (vgl. dazu genauer WSI: Ein außergewöhnliches Streikjahr – Zwei Millionen Streiktage, ganz unterschiedliche Arbeitskämpfe fielen zusammen. WSI-Arbeitskampfbilanz 2015, Düsseldorf, 03.03.0216).

Und 2016? Die Zahl der Streiktage im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Also war 2015 doch nur ein „Ausrutscher“? Das nun auch wieder nicht. In den ersten sechs Monaten 2016 fanden nach WSI-Angaben 405.000 Arbeitstage wegen Streiks nicht statt – und damit mehr als im ganzen Jahr 2014.

»Es waren nicht die großen Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge, die das Bild 2016 prägten. Vielmehr zeigen die vielen Arbeitskämpfe auf Unternehmens- und Betriebsebene eine Tendenz zur Fragmentierung. Das liegt zum einen daran, dass die Branchentarifverträge an Reichweite und Prägekraft verloren haben. Unternehmen entziehen sich der Tarifbindung oder gehen diese gar nicht erst ein. Zum anderen hat sich insbesondere in ehemals staatlich gelenkten Bereichen ein Wettbewerb der Gewerkschaften entwickelt: Bei Bahn und Lufthansa konkurrieren die DGB-Gewerkschaften mit Spartenorganisationen, was auf allen Seiten die Konfliktbereitschaft schürt«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Konflikte, die bleiben und damit den Finger auf den entscheidenden Punkt der qualitativen Veränderungen legend, die auch quantitative Auswirkungen haben.

Und die qualitativen Verschiebungen sind wesentlich bedeutsamer als die nur nackten Zahlen, die oftmals verzerrt sind hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit, behandeln sich doch jeden Streikenden und jeden ausgefallenen Arbeitstag gleich, was dazu führt, dass völlig unterschiedliche Streikaktionen nivelliert werden zu einem standardisierten Streikenden/Streiktag.

Behruzi formuliert das so: »Rein quantitativ sind die Tarifkonflikte in der Fläche freilich weiterhin entscheidend. Allein die IG Metall zählte bei ihren Warnstreiks im Frühjahr 2016 rund 800.000 Beteiligte in mehreren tausend Betrieben. Damit hat Europas größte Industriegewerkschaft zwar eine Tarifstrategie etabliert, in der flächendeckende Warnstreiks die Regel sind. Eine wirkliche Streikbewegung ist das allerdings nicht. Die Metaller gehen zu Tausenden diszipliniert einige Stunden vors Tor. Und dann ebenso diszipliniert wieder an die Arbeit. Das reicht, um die immer noch gut verdienenden Konzerne dazu zu bewegen, ein paar Zugeständnisse zu machen … Die Metaller-Warnstreiks bleiben Teil eines Rituals, keines Machtkampfs. Sie zeigen den Unternehmern den Ausstand als »Schwert an der Wand«, das dort hängen bleiben soll.«

Diese eher „symbolische“ Form des Arbeitskampfes richtet sich zum einen an die kollektive Seele der Organisation und soll eine Binnenwirkung entfalten, zugleich wird die korporatistische Verflechtung mit den (zumeist größeren) Unternehmen nicht wirklich gestört bzw. durch eine Konfliktstrategie zerstört. Man könnte anmerken, wenigstens übt die IG Metall hin und wieder den Streik an sich und wenn auch nur stundenweise. Bei der IG BCE wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gestreikt, wahrscheinlich bräuchten deren Funktionäre Unterstützung aus kampferfahrenen Organisationen, wie man das eigentlich macht.
»Anders sind die Verhältnisse in den Dienstleistungsbranchen, wo von kooperativer Einbindung der Gewerkschaften zumeist keine Rede sein kann. Hier müssen die Beschäftigtenorganisationen zum Teil darum kämpfen, überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden«, schreibt Behruzi und nennt das Beispiel Amazon, wo sich die ver.di-Aktivisten seit Jahren durch immer wiederkehrende Streikaktionen bislang aber die Zähne ausbeißen. Seit Frühjahr 2013 zieht sich diese wegen ihrer Signalwirkung bedeutende Auseinandersetzung hin, in der sich der Konzern bisher hartnäckig weigert, überhaupt mit ver.di in Tarifverhandlungen einzutreten.
Interessanterweise sieht Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) genau diesen Bereich äußerst kritisch hinsichtlich möglicher negativer Folgen für die Gewerkschaft selbst:

»Als Multibranchengewerkschaft mit den meisten Tarifbereichen steht ver.di vor großen Herausforderungen. Das Hauptproblem dürfte sein, sich nicht in endlosen Kleinkonflikten wie beim Versandhändler Amazon zu verlieren. Angesichts der organisatorischen Breite führen Häuserkämpfe zu einem enormen personellen wie finanziellen Ressourcenverbrauch. Da einzelne Fachbereiche hiervon unterschiedlich betroffen sind, könnte dies langfristig den Zusammenhalt der Multibranchengewerkschaft gefährden.« (Lesch 2016: 36).

Wobei man darauf hinweisen muss, dass eine Strategie des „Häuserkampfs“ nicht per se eine ist, die man als Gewerkschaft vermeiden sollte, ganz im Gegenteil, wenn die Bedingungen stimmen. Man schaue sich nur die durchaus erkennbaren Erfolge an, die von der IG Metall vermeldet werden, wenn es um die „Eroberung“ von Unternehmen geht, die bislang aufgrund der Nicht-Zuständigkeit der IG Metall deutlich schlechtere, nicht selten gar keine Tarifstandards aufzuweisen hatten und dann als Werkvertragsunternehmen enormen Druck auf die hohen tariflichen Standards der Kernbelegschaften ausgeübt haben und das immer noch tun. Aber seit einiger Zeit investiert die IG Metall eine Menge in den Häuserkampf im Sinne einer „Eroberung“ der Kontraktlogistik-Unternehmen über betriebliche Mitbestimmungssstrukturen und die anschließende Tarifbindung der Betriebe (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Wenn der starke Arm immer kürzer wird. Theorie und Praxis eines tarifpolitischen Umgangs mit der problematischen Instrumentalisierung von Werkverträgen am Beispiel der IG Metall vom 10. Mai 2016). Für die IG Metall macht das Sinn, es gibt eben nicht wie bei der Multibranchengewerkschaft ver.di das Ungleichverteilungsproblem der dann auch noch sehr knappen Ressourcen auf einige wenige Bereiche, wo die Häuserkampf-Strategie gemacht wird, während die anderen dafür zahlen müssen. Und die IG Metall hat natürlich auch a) andere Ressourcen zur Verfügung als ver.di und b) ist die Organisation immer noch wesentlich zentralistischer geführt und führbar, was bei den vielfältigen Dienstleistungen schlichtweg nicht vorstellbar wäre.
Und ein neues Konfliktfeld beginnt sich zu strukturieren: In »Einrichtungen des Gesundheitswesens wächst durch die Ökonomisierung das Konfliktpotential. So in den Krankenhäusern, wo die Rationalisierung in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat. Nach dem Erfolg am Berliner Uniklinikum Charité – wo im April 2016 erstmals personelle Mindestbesetzungen per Tarifvertrag festgeschrieben wurden – begeben sich auch andere Krankenhausbelegschaften auf diesen Weg.« Allerdings ist das hier ein richtig vermintes Gelände. Unbestritten ein wichtiger Etappensieg war der kurze unbefristete Streik in der Charité, der erfolgreich beendet werden konnte (vgl. dazu Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 1. Juli 2015). Auf der anderen Seite muss man durchaus mehr als skeptisch sein, was die Chance eines auch nur mittelfristig erreichbaren Durchbruchs im Gesundheitswesen angeht (vgl. dazu Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus? vom 1. Januar 2017).

Man muss schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass die Voraussetzungen beispielsweise für einen großen Pflegestreik, der im Grunde unbedingt erforderlich wäre, um einen Durchbruch erzielen zu können, hundsmiserabel schlecht sind. Und das meint nicht nur den immer noch niedrigen Organisationsgrad der in den Krankenhäusern und Pflegeheimen bzw. -diensten Beschäftigten, so dass der Gewerkschaft oftmals die Masse fehlen würde für einen Arbeitskampf. Hinzu kommt, dass gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich viele Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft sind, so dass hier gar keine rechtliche Möglichkeiten für einen Arbeitskampf bestehen. Selbst wenn das Personal dort streiken wollte – es dürfte nicht. Was wiederum der Gewerkschaft ein wichtiges Druckmittel, aber auch eine Rekrutierungsmöglichkeit nimmt.
Und auch das sollte nicht verschwiegen werden: Selbst wenn ver.di in einen harten Arbeitskampf geht, waren die Erfolge bei den beiden bereits erwähnten Großkonflikten im Jahr 2015, also der Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst (oft arg verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert) sowie der Streik bei der Post, mehr als überschaubar, wenn nicht deprimierend (vgl. zu dieser explizit kritischen Sichtweise am Beispiel des „Kita-Streiks“ den Beitrag Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen vom 7. Oktober 2015 sowie zum letztendlich gescheiterten Streik bei der Deutschen Post den Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).
Wobei man fairerweise auch darauf hinweisen muss, dass der Gewerkschaft ver.di nicht selten die Hände gebunden sind, weil die Beschäftigten in vielen Dienstleistungsbranchen nicht wirklich bereit und willens sind, sich zu organisieren, damit man einen entsprechenden Organisationsgrad erreicht, mit dem man auch von den Arbeitgebern auf Augenhöhe wahrgenommen wird. Wenn im Einzelhandel von zehn Verkäuferinnen eine gewerkschaftlich organisiert ist, dann werden sich die Arbeitgeber nicht wirklich fürchten (müssen) vor Arbeitskampfmaßnahmen.
Wie immer stellen sich dann abschließend zwei Fragen: Gibt es Hoffnung und was tun?
Vielleicht hilft das hier: Die neue Kampfkultur der Gewerkschaften, so der Titel eines Beitrags, den Deutschlandradio Kultur am 10.10.2017 ausgestrahlt hat. „Organizing“ heißt der neue Schlüsselbegriff der deutschen Gewerkschaftsarbeit. „Organizing beinhaltet eine bestimmte Grundhaltung und orientiert sich am Leitgedanken einer Offensivstrategie“, so heißt es selbstbewusst im „Handbuch Organizing“ der IG Metall. Das Grundprinzip des Organizing baut auf dem Dreischritt „Wut-Hoffnung-Aktion“ auf. Ein Gewerkschafter erläutert das so:

»Weniger Stellvertreterpolitik. Und mehr direkte Beteiligung der Beschäftigten. Dafür ist es notwendig, die Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren und konsequent in Handlungen und Entscheidungen einzubeziehen. Diese Beteiligung ist die Voraussetzung von Demokratie und Emanzipation. Ein solches Vorgehen braucht Zeit und Geduld, ist aber dafür nachhaltig. Es gilt der Grundsatz: Tue nie etwas, was die Kolleginnen und Kollegen selbst tun können.«

Es geht darum, bisher passive und duldsame Menschen zu aktivieren. Ein Modell jenseits der klassischen deutschen Sozialpartnerschaft: Organizing will Wut und Konflikte. Das Konzept kommt aus den USA:

»Mitte der 90er begann die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU mit Organizing und verdoppelte innerhalb von einem Dutzend Jahren ihre Mitgliederzahl, von 900.000 auf 1,8 Millionen. Daran wollen jetzt auch die deutschen Gewerkschaften anknüpfen: Mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie.«

Und – gibt es Hoffnung? Durchaus, wenn man den Beispielen im Beitrag folgt: Ein Organizing-Pilotprojekt für das Prekariat in den modernsten Autofabriken Deutschlands in der Region Leipzig oder die Aktivitäten in und um die Charité herum.

Es wird ein langer und steiniger Weg, aber die Zeiten des alten Gewerkschaftsverständnisses sind in den Dienstleistungen definitiv vorbei. Insofern bleibt Hoffnung angesichts der vielfältigen neuen Aktivitäten, zugleich aber sollte man sich der Ambivalenz bewusst sein, die darin liegt, dass nunmehr die Dienstleistungen die Speerspitze der deutschen Arbeiterbewegung bilden sollen. Bis dahin ist es noch ein ordentliches Stück Weg.

Und nebenbei wird in diesem Jahr auch noch eine ganz grundsätzliche Frage höchstrichterlich unter die Lupe genommen und entschieden werden – das Tarifeinheitsgesetz. Dieses umstrittene Gesetz schränkt die Verhandlungsmacht kleiner Gewerkschaften deutlich ein. Es sieht vor, dass bei »Tarifkollisionen« nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in dem betreffenden Betrieb die meisten Mitglieder hat. Seit Juli 2015 ist es in Kraft und dagegen haben mehrere (potenziell) betroffene Sparten- und Berufsgewerkschaften Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Aber nicht nur die, sondern auch ver.di hat in Karlsruhe gegen das Gesetz Klage erhoben.

»Befürworter sehen darin eine Stärkung der Solidargemeinschaft im Betrieb: Einzelne Berufsgruppen sollen sich nicht besser stellen können, ohne dass die anderen Beschäftigten daran teilhaben. Kritiker rügen eine massive Einschränkung von Grundrechten: Wer zur Minderheit gehört, brauche nicht zu hoffen, dass seine Gewerkschaft noch einen attraktiven Tarifvertrag aushandele. Er müsse sich mit der Standardware begnügen, welche die Mehrheit ausgehandelt habe. Das wird auch für die kleinen Gewerkschaften (also GDL etc.) zum Problem: Warum sollte dort jemand Mitglied bleiben und Beiträge zahlen, wenn die Minderheit ohnehin keine Handlungsmacht hat?«, so Gerrit Forst in seinem Beitrag Das Tarifeinheitsgesetz und seine Folgen.

Das Bundesverfassungsgericht hat es im Oktober 2015 zwar abgelehnt, die Anwendung des neuen Rechts bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage auszusetzen. Gestützt hat es dies aber allein auf verfahrensrechtliche Erwägungen, die über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nichts aussagen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Das höchst umstrittene Tarifeinheitsgesetz scheitert nicht am Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls nicht auf die Schnelle vom 11. Oktober 2015). Grundsätzlich kann man tatsächlich eine Menge Einwände gegen dieses Gesetz vortragen, vgl. dazu die Beiträge Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“ vom 22. Mai 2015 sowie Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Wie dem auch sei, in diesem Jahr wird Karlsruhe entscheiden müssen. »Auf zwei Verhandlungstage hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seine öffentliche Beratung über das umstrittene Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition angesetzt. Prozesstermin ist am 24. und 25. Januar«, kann man diesem Artikel entnehmen: Tarifeinheit vor Verfassungsgericht (es geht um diese Verfahren: Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16). Offensichtlich wollen sich die Verfassungsrichter ausreichend Zeit nehmen, um ihre Fragen zu klären. Das sieht nicht so aus, als sein schon klar, dass sie das Gesetz einfach durchwinken werden.

Wenn der starke Arm immer kürzer wird. Theorie und Praxis eines tarifpolitischen Umgangs mit der problematischen Instrumentalisierung von Werkverträgen am Beispiel der IG Metall

Schon seit längerem wird immer wieder darüber berichtet, dass zahlreiche Unternehmen Werkverträge nutzen, um weit mehr oder anderes zu tun, als was normalerweise der Sinn der Inanspruchnahme von Werkverträgen ist. Also nicht nur die Nutzung von externen Unternehmen mit deren Beschäftigten, um in einem abgrenzbaren „Betrieb im Betrieb“ bestimmte Aufgaben zu erledigen, die nichts mit den Kernprozessen des Unternehmens zu tun haben. Klassische Beispiele wäre der Betrieb der Betriebskantine durch ein Catering-Unternehmen oder die Beauftragung eines Handwerksunternehmens mit der Durchführung bestimmter Reparaturen. Das ist gängig und ein ganz normales Geschäftsgebaren in der heutigen hoch arbeitsteiligen Welt. Und insofern kein Problem.

Problematisch wird die Sache mit den Werk- und Dienstverträgen dann, wenn sie instrumentalisiert werden für ganz andere Zwecke, beispielsweise für Bypass-Strategien der Arbeitgeber, die in den vergangenen Jahren beispielsweise mit einer Re-Regulierung der Leiharbeit konfrontiert wurden, die diese verteuert hat, was bei denen, die Leiharbeit für Lohndumping verwendet haben, zur Suche nach Alternativen geführt hat. Und die wurden dann oftmals bei Werkvertragsunternehmen fündig. Gegen die offensichtlich missbräuchlichen Ausgestaltungen hier und da hat sich in den vergangenen Jahren ein enormer Druck aufgebaut, verstärkt durch zahlreiche Medienberichte, mit der Folge, dass die große Koalition – eigentlich – vereinbart hatte, auch den Bereich der Werkverträge, vor allem die Schnittstelle zur unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung, gesetzgeberisch zu regeln. Das Bundesarbeitsministerium hat zwischenzeitlich auch geliefert, erst einen Entwurf, der auf heftigsten Widerstand gestoßen ist, dann einen weichgespülten Entwurf, der – eigentlich – von Arbeitgebern und Gewerkschaften mitgetragen wurde (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen zähneknirschend), um dann an der CSU in der Koalition abzuprallen, die aus welchen niederen taktischen Motiven auch immer die Reißleine gezogen hat, so dass das alles derzeit auf Eis liegt in Berlin.

Die Gewerkschaften müssen erkennen, dass es ihnen wahrscheinlich nicht gelingen wird, analog zum Prozess der Re-Regulierung der Leiharbeit eine vergleichbare politische Einhegung der zudem wesentlich komplexer ausgestalteten Werkverträge zu erreichen. Das liegt nicht nur an den Widerständen im politischen Raum, sondern auch und gerade an der Vielgestaltigkeit von Werkverträgen und vor allem an den hier relevanten Schnittstellen zur Definition von Arbeitnehmern und Selbständigen – und gerade dieser Definitionsversuch hat ja massive Widerstände mobilisiert, man schaue sich beispielsweise die Kampagne des Verbandes der Gründer und Selbständigen Deutschland (VGSD) gegen die Scheinselbständigkeitsdefinition. Aus gewerkschaftlicher Perspektive relevant für eine eher frustrierte Bewertung des gesetzgeberischen Prozesses, selbst wenn er aus der derzeitigen Blockade befreit werden ist die Tatsache, dass die von ihnen geforderten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte beim Einsatz von Werkverträgen nicht kommen werden.

Mittlerweile werden in der betrieblichen Praxis immer weitere Fakten geschaffen – die Werkvertragsfirmen dringen von den Rändern immer stärker in die Kernprozesse der Industrieunternehmen vor und setzen damit natürlich die Stammbelegschaften auch immer stärker unter Druck. Gerade für die in diesem Bereich gut organisierte IG Metall wird das zu einer existenziellen Herausforderung, denn entweder sind die Beschäftigten der Werkvertragsunternehmen gar nicht gewerkschaftlich organisiert und haben noch nicht einmal betriebliche Mitbestimmungsstrukturen, oder sie arbeiten zu deutlich schlechteren Tarifbedingungen, da sie formal als „Kontraktlogistiker“ geführt werden , für die dann die Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di zuständig ist.

Wobei der Begriff „Kontraktlogistik“ aus Sicht der Metall-Gewerkschaft zunehmend problematisch bis irreführend wird: Vor allem dann, wenn es bei einem „Logistikunternehmen“ eben nicht nur darum geht, Ware an die Pforten irgendeines Lagers zu fahren, sondern Tätigkeiten innerhalb des beauftragenden Unternehmens auszuüben. Und genau so sieht es in der Automobilindustrie mittlerweile aus, wenn man der Argumentation der Gewerkschaften folgt:

»Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Auf diese grundsätzliche Herausforderung durch das sukzessive Vordringen der Fremdfirmen in Kernprozesse der Unternehmen hat die IG Metall strategisch geantwortet, was sich abbilden lässt in der Beschreibung einer „doppelten Tariffrage“ (vgl. dazu bereits meinen Beitrag Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24. September 2015):

Wenn der Druck auf die Stammbelegschaften durch die immer stärkere Ausbreitung der Werkverträge in den Kernbereich hinein steigt, dann muss man eben die eigene Tarifpolitik auf diese vor- und nachgelagerten Bereiche ausdehnen, um das tarifpolitisch wieder in Griff zu bekommen.
Genau hier aber tut sich eine zweite Tariffrage auf. Gemeint ist die Tatsache, dass viele der Werkvertragsunternehmen der Logistik-Branche zugeordnet sind und hier gilt die Zuständigkeit einer anderen Gewerkschaft – von Verdi. Und da gibt es zunehmend Konflikte, denn die IG Metall muss immer stärker diese Zuständigkeitsgrenze überschreiten, um die ganze Wertschöpfungskette wieder unter ihr Dach zu bekommen. Das führt zu handfesten Konflikten – vgl. dazu schon den Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014.

Erschwerend und vor allem mit Blick auf die Zukunft kommt eine Art „dritte Tariffrage“ hinzu, denn man kann durchaus plausibel annehmen, dass auch die Gewerkschaften einen Preis werden zahlen müssen, wenn es ihnen gelingt, immer stärker in die der eigentlichen Kernproduktion vor- und nachgelagerten und an Drittfirmen ausgelagerten Bereiche vorzustoßen und die dort tätigen Arbeitnehmer zu organisieren. Man wird sie unter das Tarifdach der IG Metall bekommen, aber es muss damit gerechnet werden, dass es zugleich eine Tarifauffächerung unter dem großen Dach der Gewerkschaft geben wird, dass also die „Neuen“ nicht die gleichen „alten“ Tarife bekommen werden wie beispielsweise die Stammbelegschaften in den Autowerken.

Diese Aspekt wurde auch angesprochen in einer neuen Studie, die sich mit den Werkverträgen im Bereich der IG Metall beschäftigt:

Tim Obermeier und Stefan Sell: Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung, 2016

Dort findet man den folgenden Passus:

»Hinsichtlich der tarifpolitischen Konsequenzen kann man heute schon beobachten, dass die Bemühungen seitens der Gewerkschaften in Richtung eines Drei-Stufen-Modells gehen, mit dem man versucht, der Fragmentierung der Belegschaften (und der Prozesse) Paroli bieten zu können. Auf einer ersten Ebene geht es um strategische Organizing-Prozesse in den betroffenen Werkvertragsunternehmen in Verbindung mit der Installierung von Betriebsräten. Auf einer zweiten Ebene steht dann die tarifvertragliche Landnahme, wobei aber bisher in aller Regel Tarifwerke zur Anwendung kommen, die nach unten abweichen von dem, was für die Insider gilt, die dem „klassischen“ Tarif im engeren Sinne unterliegen. Die dritte Ebene wird derzeit, wenn überhaupt, als Zielgröße ausgewiesen: Die Angleichung der Tarifbedingungen an die des Flächentarifvertrags. Ob dieser Schritt gelingen kann, ist aus systemischen Gründen mit einem Fragezeichen zu versehen. Möglicherweise wird die tarifliche „Rückgewinnung“ der ausgelagerten Bereiche einen Preis haben, der so aussieht, dass man mit unterschiedlich dimensionierten Tarifen unter einem Dach operieren muss, um das von der Arbeitgeberseite geforderte Kostendifferenzial teilweise realisieren zu können, aber auch, um als Gewerkschaft seine Handlungsfähigkeit in der gesamten Wertschöpfungskette zu erhalten bzw. zu festigen … Mit dem Abschluss von Tarifverträgen hätten die Gewerkschaften dann die Hand im Spiel und könnten dafür sorgen, Korridore nach oben zu ermöglichen, stehen jedoch vor der Herausforderung, diese neue Pluralität im Sinne der Beschäftigten zu managen.« (Obermeier/Sell 2016: 46)

Und derzeit sind wir in mittendrin in der Phase, die man ohne Übertreibung als „Häuserkampf“ der IG Metall um die Belegschaften in den Werkvertragsfirmen bezeichnen kann und muss. Das ist weitaus mehr Arbeit und Kampf, als es trocken geschriebene Zeilen auch nur andeuten können. Aber es kommt ganz praktisch dabei was raus, vor allem für Beschäftigten. Dazu ein aktuelles Beispiel, über das die IG Metall unter der Überschrift Kontraktlogistiker setzen Tarifvertrag durch berichtet. Die Kurzfassung geht so:

»Die Beschäftigten von Rhenus Contract Logistics in Stuttgart traten in die IG Metall ein, drohten mit Warnstreik – und gewannen. Jetzt haben sie rund 400 Euro mehr im Geldbeutel und ein Recht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld.«

Das Unternehmen ist eine Werkvertragsfirma bei Daimler in Stuttgart. Die Rhenus-Beschäftigten versorgen die Montagebänder im Daimler-Getriebewerk Stuttgart-Hedelfingen mit Teilen, Seite an Seite mit Daimler-Beschäftigten.  Alles fing damit an, dass Betriebsräte von Daimler mit dem Betriebsrat der Werkvertragsfirma ins Gespräch kamen und sie an einen Tisch mit der IG Metall brachten. Innerhalb weniger Monate sind 270 der 430 Rhenus-Beschäftigten und viele der 160 Leiharbeiter in die IG Metall eingetreten – das war die Voraussetzung, eine neue tarifvertragliche Regulierung unter dem Dach der IG Metall durchzusetzen.

Man hat dann im vergangenen Jahr mit dem Unternehmen verhandelt. »Den Tarifabschluss erzielte die Verhandlungskommission Mitte Dezember. Die Vorbereitung für einen Warnstreik lief schon. Der Warnstreik hätte die Bänder bei Daimler nach einer halben Stunde zum Stehen gebracht.« Geholfen haben neben der Verbindung zu den Stammbeschäftigten bei Daimler über deren Betriebsrat auch die Tatsache: „… dass es in der Vergangenheit bereits kritische Medienberichte über schlecht bezahlte Werkvertragsarbeit bei Daimler gab“, wird Uwe Meinhardt, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Stuttgart, zitiert.

»Unter dem Druck lenkte die Arbeitgeberseite schließlich ein. Die Rhenus-Beschäftigten haben nun tariflich gesichert 400 bis 500 Euro mehr als früher, als sie noch als „Logistiker“ bezahlt wurden. Und ihr Beispiel macht Schule: Die Belegschaften weiterer Kontraktlogistiker bei Daimler wenden sich nun ebenfalls an die IG Metall Stuttgart.«

Wenn Theorie und Praxis Hand in Hand gehen, dann kommt für die Beschäftigten auch was raus. Und für die IG Metall wird sich diese Strategie mittel- und langfristig mehr auszahlen als das (vergebliche) Hoffen auf die Berliner Politik- und Gesetzgebungsmaschinerie.

Ein betriebliches Integrationsjahr für Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose. Endlich ein großer Wurf?

Endlich mal nicht einer dieser kleinteiligen Vorstöße in der Debatte über die Frage, wie man die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge hinbekommen kann – und dann auch noch ohne Ausblenden der anderen, die schon hier sind und ebenfalls erhebliche Probleme haben, (wieder) auf dem Arbeitsmarkt landen zu können, also den Langzeitarbeitslosen. Und gleichsam als Sahnehäubchen oben drauf auch noch die Perspektive, dass der Ansatz – kommt er doch von einer Gewerkschaft – selbstverständlich nicht die eigenen Tarife unterlaufen soll.

Darum geht es: »Die IG Metall schlägt ein betriebliches Integrationsjahr für anerkannte Flüchtlinge und für Langzeitarbeitslose vor, um durch Arbeit ein selbständiges Leben zu ermöglichen.« so die Ankündigung in einer Pressemitteilung, die überschrieben ist mit IG Metall fordert betriebliches Integrationsjahr für Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose. Und weiter erfahren wir: »Das von der IG Metall geforderte Integrationsjahr soll neben einem Arbeitsplatz auch Integrations- und Sprachkurse für die Flüchtlinge umfassen. Qualifizierung und Arbeit sollen betriebsnah kombiniert werden. Finanziell gefördert würde das Integrationsjahr von der Bundesagentur für Arbeit. Dafür sollen bereits vorhandene Programme genutzt werden.«

Auf den ersten Blick kommt der Ansatz wie die lange gesuchte eierlegende Wollmilchsau daher, denn hier werden bekannte, für eine gelingende Arbeitsmarktintegration erfolgsträchtige Elemente vereint: Eine Förderung für die Arbeitgeber im Sinne einer Lohnkostenbezuschussung, um bestimmte Defizite des zu integrierenden Arbeitnehmers auszugleichen, eine Platzierung in der realen betrieblichen Welt über ein echtes Arbeitsverhältnis, die Verbindung von echter Arbeit und Qualifizierung, bei den Flüchtlingen besonders relevant die Sprachförderung und das alles unter dem konzeptionellen Dach des Gedankens, dass wenn die Betroffenen erst einmal schon den einen Fuß in der betrieblichen Tür haben, einige von ihnen auch den zweiten reinbekommen, wenn man mit ihnen positive Erfahrungen gesammelt und die positiven Potenziale zur Kenntnis genommen hat.

Und besonders wichtig vor dem Hintergrund der aktuell ich immer stärker Konfrontation aufladenden Debatte über eine angebliche Bevorzugung der Flüchtlinge der eben nicht nur lapidare Hinweis der Gewerkschaft: »Die von der IG Metall vorgeschlagenen Maßnahmen sollen nicht nur Flüchtlingen, sondern auch allen anderen am Arbeitsmarkt Benachteiligten offen stehen.«

Wie kann man sich das genauer vorstellen? Die Umsetzung solle auf Basis der tariflichen Entgelte erfolgen und der Arbeitgeber wird durch das heute schon vorhandene Instrument des Eingliederungszuschusses für seine Integrationsleistung entlastet, so die IG Metall. Es wären auch Teilzeitmodelle denkbar, die zusätzliche sprachliche Qualifikationen für Flüchtlinge, durchaus teilweise außerhalb der Arbeitszeit, ermöglichen. Denkbar sei eine Vier-Tage-Woche mit reduziertem Entgeltanspruch: vier Tage bezahlte Arbeit und ein Tag Sprachkurs. Und wenn das Integrationsjahr die Tür für eine Anschlussbeschäftigung eröffnet, dann könne die berufliche Qualifizierung beispielsweise durch den in der Metall- und Elektroindustrie bestehenden Tarifvertrag Bildungsteilzeit oder das Wegebauprogramm der BA fortgesetzt werden.

Aber die großen Zahlen, werden die einen oder anderen Kritiker einwerfen. Das mag vielleicht für einige wenige klappen – aber für so viele, die gekommen sind? Zusätzlich zu den vielen Langzeitarbeitslosen, die bekanntlich schon seit langem da sind und die ja auch profitieren sollen von dem neuen Ansatz.

Die IG Metall negiert die großen Zahlen keineswegs, sondern greift diese auf (allerdings in der Pressemitteilung leider dann doch wieder „nur“ reduziert auf die Flüchtlinge, die es in den Arbeitsmarkt zu integrieren gilt: »Nach aktueller Auskunft der Bundesagentur für Arbeit werden dem Arbeitsmarkt durch die Geflüchteten rund 380.000 Menschen zusätzlich zur Verfügung stehen können. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr wurden rund 700.000 neue, zusätzliche  sozialversicherungspflichtige Stellen in Deutschland aufgebaut und 2,1 Millionen offene Stellen bei der Arbeitsagentur gemeldet.«
Also eigentlich kein Problem?

Über die allgemein gehaltenen Informationen aus der zitierten Pressemitteilung hinaus hat es weitere konkretisierende Informationen gegeben, die man der Presseberichterstattung entnehmen kann, beispielsweise IG Metall will Flüchtlinge mit kräftigen Lohnzuschüssen integrieren oder der von Stefan von Borstel unter diese Überschrift gesetzte Artikel: IG Metall fordert Integrationsjahr für Flüchtlinge.

Auch hier wieder erst einmal die großen Zahlen mit der relativierenden Botschaft dessen, was da auf uns zukommt, wenn man es aus der Vogelperspektive betrachtet. Borstel zitiert dazu Jörg Hofmann, den Vorsitzenden der IG Metall:

»Deutschland habe 420.000 Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten, rechnete Hofmann vor. Wenn jeder dieser Betriebe nur einen zusätzlichen Integrationsplatz zur Verfügung stellen würde, wäre die Arbeitsmarktintegration der Hartz-IV-Bezieher keine Frage fehlender Arbeitsplätze. Das größte Potenzial gebe es im deutschen Handwerk mit seinen 584.000 Betrieben.«

Bleibt die Frage nach dem Instrumentarium für die Förderung, da wurde seitens der IG Metall darauf hingewiesen, dass man kein neues Programm schaffen wolle, sondern ein vorhandenes Instrument nutzen möchte, das es schon seit langem gibt – den Lohnkostenzuschuss.  Der Arbeitsplatz soll mit einem Einstellungszuschuss von bis zu 50 Prozent gefördert werden. Diese Zuschüsse gibt es heute schon.

Ganz offensichtlich ist der „Eingliederungszuschuss“ nach § 88 SGB III gemeint: »Arbeitgeber können zur Eingliederung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, deren Vermittlung wegen in ihrer Person liegender Gründe erschwert ist, einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt zum Ausgleich einer Minderleistung erhalten (Eingliederungszuschuss).« Im § 89 SGB III finden wir Hinweise auf die mögliche Höhe und Dauer dieser Förderung: »Der Eingliederungszuschuss kann bis zu 50 Prozent des zu berücksichtigenden Arbeitsentgelts und die Förderdauer bis zu zwölf Monate betragen. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, kann die Förderdauer bis zu 36 Monate betragen.« Nur der Vollständigkeit halber: Im § 90 SGB III ist als Sonderform noch der „Eingliederungszuschuss für behinderte und schwerbehinderte Menschen“ geregelt, bis zu 70% Lohnkostenzuschuss für 24 Monate, wobei die Laufzeit in besonders schweren Fällen und bei einem Alter ab 55 auf bis zu 96 Monate ausgedehnt werden kann.

Wie sieht die bisherige Nutzung dieses Instruments aus? Wenn man einen Blick in die Eingliederungsbilanzen der BA wirft, dann erfährt man beispielsweise für das Jahr 2014, dass es 77.032 Zugänge in eine Förderung über den Eingliederungszuschuss gegeben hat, davon 48.783 bei den besonders förderungsbedürftigen Personengruppen. Hinsichtlich der finanziellen Dimension: 2014 wurden insgesamt 5,56 Mrd. Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben (davon 2,7 Mrd. Euro im SGB III und 2,86 Mrd. Euro im SGB II). Auf den Eingliederungszuschuss entfielen davon 433 Mio. Euro, also (nur) fast 8%. Eine Vorstellung von den der Förderung zugrundeliegenden berücksichtigungsfähigen Löhnen vermittelt die durchschnittlichen Förderaufwendungen für dieses Instrument in Höhe von 666 Euro pro Monat.

Auf der einen Seite eine Bestätigung des grundsätzlichen Ansatzpunktes des IG Metall-Vorschlags wie aber auch zugleich Anlass für ein großes Fragezeichen kann man den Daten zum Erfolg des Instruments entnehmen. Beim Eingliederungszuschuss für die besondere Gruppe der Langzeitarbeitslosen wird eine Eingliederungsquote von 72,8% ausgewiesen (76,3% für alle Geförderten) – ein sehr hoher Wert. Der wiederum angesichts der Besonderheiten auch nicht überrascht, denn die Förderung gibt es nur, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht (und wir wissen schon seit langem – auch nicht wirklich überraschend: Je betriebsnäher die Förderung, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Geförderten „hängen bleiben“ im Unternehmen, vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass wir es in der Praxis mit einer „positiven Selektion“ dergestalt zu tun haben, dass man nicht gerade die Arbeitslosen, die mit mehreren Vermittlungshemmnissen belastet sind, sondern eher die „guten Risiken“ mit dieser Förderung versorgt).

Mit Blick auf das, was es bisher in diesem Bereich gibt, müssen wir also zum einen festhalten, dass es rein quantitativ gesehen um ein sehr überschaubares Fördervolumen geht – wir also mithin über eine gewaltige Aufstockung der Förderung sprechen, wenn der Vorschlag der IG Metall Wirklichkeit werden soll. Denn dann geht es nicht mehr wie 2014 um 77.000 Förderfälle mit dem Eingliederungszuschuss, sondern um mehrere Hunderttausend, vor allem, wenn nicht nur die Flüchtlinge, sondern grundsätzlich völlig richtig, auch die Langzeitarbeitslosen berücksichtigt werden sollen. Da beißt die Maus keinen Faden ab – wenn man diesen Weg gehen möchte, dann müssen wir die Mittel dafür erheblich aufstocken. Zur Finanzierung findet man in den vorliegenden Berichten keine wirklich verwertbaren Hinweise, außer Allgemeinplätze. So in dem Artikel von Borstel: »Zu den Kosten des Modells machte der IG-Metall-Chef keine Angaben. Es sei aber günstiger, als den Betroffenen Hartz-IV zu zahlen.«

Jeder wünscht sich endlich einen großen Wurf, aber angesichts der bisherigen Erfahrungen wie auch der Besonderheiten „des“ Arbeitsmarktes (den es als solchen gar nicht gibt), bleibt eine gehörige Portion Skepsis. Dies kann man auch an einem parallel vorgelegten konkreten Programm verdeutlichen: Aus Flüchtlingen werden Auszubildende, vermeldet das Bundesbildungsministerium.

»Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) haben dazu eine gemeinsame Qualifizierungsinitiative für junge Flüchtlinge gestartet. Ihr Ziel: Durch ein umfassendes Qualifizierungs- und Betreuungssystem sowie eine intensive fachliche Berufsorientierung und Berufsvorbereitung sollen Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sowie Asylbewerber oder Geduldete mit Arbeitsmarktzugang an eine Ausbildung im Handwerk herangeführt werden.«

Angesichts der Tatsache, dass etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten zu uns gekommen sind, unter 25 Jahre alt sind, überzeugt dieser Ansatzpunkt erst einmal. Es geht also auch hier um eine Personengruppe im Umfang von mehreren hunderttausend Personen. Vor diesem Hintergrund werfen wir dann aber mal ein Blick auf die angestrebten (das heißt bekanntlich noch lange nicht: realisierten) Zahlen, die man mit dem neuen Programm erreichen will:

»Das Programm wendet sich an Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sowie an Asylbewerber oder Geduldete mit Arbeitsmarktzugang. Voraussetzung für die Teilnahme an dem Programm ist, dass die jungen Flüchtlinge nicht mehr schulpflichtig und unter 25 Jahre sind, über gute Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen und sich im deutschen Ausbildungs- und Beschäftigungsmarkt orientieren können. Sie sollten deshalb einen Integrationskurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie das Programm „Perspektiven für junge Flüchtlinge“ der Bundesagentur für Arbeit durchlaufen haben, das auf eine Feststellung ihrer Kompetenzen und eine allgemeine Berufsorientierung ausgerichtet ist.
In der anschließenden „Berufsorientierung für Flüchtlinge“ bereitet das BMBF die jungen Flüchtlinge auf eine Ausbildung im Handwerk vor und setzt dabei auf eine vertiefte fachliche und praktische Berufsorientierung in den Bildungszentren des Handwerks … Das Handwerk unterstützt den Praxisbezug durch betriebliche Praktika für die Teilnehmer der speziellen Berufsorientierung und stellt die Infrastruktur der Bildungsstätten zur Verfügung.«

Soweit die Beschreibung des geplanten Programms. Und wie viele sollen daran partizipieren?

»Das Programm ist zunächst auf 24 Monate angelegt. Ziel ist die Integration von bis zu 10.000 Flüchtlingen in eine Handwerks-Ausbildung.«

„Bis zu 10.000“? Das haut einen jetzt nicht wirklich vom Hocker. Vielleicht kommt diese Bescheidenheit daher, dass wir es mit einer dieser klassischen „Litfaßsäulen“-Modellprogramme zu tun haben (mit denen wir gerade in der Arbeitsmarktpolitik immer wieder konfrontiert und vertröstet werden), nach dem Motto: Wir tun doch was. Oder aber dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Arbeitsmarkt- und Ausbildungsintegration eine überaus sperrige Angelegenheit darstellt, die es aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität und zugleich Individualität des konkreten Handelns aufgrund des damit verbundenen Aufwands unmöglich macht, das Rad an der ganz großen Zahl zu drehen.