Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger

Man kann in diesen Tagen so gut wie kein anderes Thema aufrufen als die vielen Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind oder es derzeit versuchen, was angesichts der um sich greifenden Abschottungsversuche der Aufnahmeländer zunehmend schwieriger wird. Da werden Staatsgrenzen geöffnet und nachdem man feststellt, dass dies eine erhebliche Sogwirkung entfaltet, vollzieht man innerhalb weniger Tage eine veritable Rolle rückwärts und führt gar wieder Grenzkontrollen ein, wie das Deutschland gerade der staunenden Öffentlichkeit vorführt. Da errichten die Ungarn einen Zaun an der Grenzen nach Serbien und behandeln die Flüchtlinge, die trotzdem ihr Staatsterritorium betreten, als Straftäter. Und die Menschen, die noch auf dem Weg sind, müssen (und werden) andere Routen finden, um in die Nähe der von ihnen begehrten Länder zu gelangen.

Mit Blick auf die Flüchtlinge, die es geschafft haben – und wir sprechen hier von Hunderttausenden -, wird sich in der vor uns liegenden Zeit die Aufgabe stellen, sie unterzubringen und zu versorgen sowie die Kinder in das Bildungssystem und die Älteren in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Natürlich wird das viel Geld kosten und dann wird auch wieder sortiert werden zwischen denen, die man nicht abweisen kann, weil sie „berechtigt“ hier sind beispielsweise als Kriegsflüchtlinge oder aus anderen anerkannten Asylgründen, während der Blick auf die so genannten „Armuts-“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ ein ganz anderer sein wird und auch heute schon ist. Denen wird unterstellt, sie wollen „lediglich“ ein besseres Leben erreichen, nicht selten auch durch eine Zuwanderung in „unsere“ Sozialsysteme. Wobei die Abgrenzung wenn überhaupt dann nur auf dem Papier einfach daherkommt.

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Gut gemeint: Ein Vorstoß in den Kernbereich der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit über die unschuldigen Kinder. Aber auch gut gemacht?

Da muss man schon ein wenig um die Ecke denken: „Wer die Verhärtung von Armut bekämpfen will, muss möglichst früh ansetzen – also bei den Kindern“. Und um das zu schaffen will man bei den Eltern ansetzen, die als Voraussetzung mitbringen müssen, dass beide Elternteile im Hartz IV-Bezug (also im Regelfall seit längerem in dieser prekären Situation) sind und von denen keiner irgendeine ergänzende Beschäftigung, nicht einmal einen Minijob, ausübt und auch keiner an irgendeiner arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahme teilnimmt und deren Kind bzw. Kinder nicht jünger sein dürfen als sechs Jahre. Wir können begründet annehmen, dass man mit dieser Definition der – da kommt er, der deutsche Folterbegriff – „Zielgruppe“ wirklich auch die „harten Fälle“ erreichen wird, also Menschen, von denen wahrscheinlich sehr viele seit Jahren im Leistungsbezug sind.
Aber beginnen wir lieber mit der guten Absicht: Sozialpartner verbünden sich gegen Hartz-IV-Karrieren, meldet beispielsweise die FAZ unter der Rubrik „Kinderarmut“.

Dietrich Creutzburg beschreibt den Ausgangspunkt für den gemeinsamen Vorstoß von DGB und BDA: »Von den gut 6 Millionen Menschen im Hartz-IV-System leben allein 2,8 Millionen schon seit mindestens vier Jahren von der staatlichen Grundsicherung. Unter ihnen sind 640.000 Kinder. Vor allem eine Gruppe fällt dabei nach gemeinsamer Überzeugung von Arbeitgebern und Gewerkschaften bisher zu oft durch das Raster der Aufmerksamkeit und auch der Förderpolitik: Es gibt darunter 112.000 Familien, deren Kinder das schulpflichtige Alter erreicht haben und bei denen dennoch keiner der beiden Elternteile arbeiten geht. Die Kinder wachsen dann mit der Erfahrung auf, dass Hartz-IV-Bezug und Arbeitslosigkeit normal sind (…).« Die beiden Spitzenverbände der Gewerkschaften und Arbeitgeber haben vor diesem Hintergrund einen „Aktionsplan gegen Kinderarmut“ ausgearbeitet, der es den Jobcentern ermöglichen soll, solche Familien gezielter auf dem Weg in Arbeit voranzubringen und damit Kinder vor sogenannten Hartz-IV-Karrieren zu bewahren. Dieser Vorschlag für einen Aktionsplan trägt den Titel „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“. Die dazu gehörende Pressemitteilung ist überschrieben mit DGB und BDA stellen Aktionsplan gegen Kinderarmut vor. Das verdeutlicht sowohl den Handlungsauftrag wie auch das Problem des Ansatzes, denn „Kinderarmut“ als Singularität gibt es nun mal nicht, es handelt sich immer um eine abgeleitete Armut der Kinder von der ihrer Eltern. An denen kommt man partout nicht vorbei, wenn man die Situation der Kinder verbessern möchte, zugleich aber verdeutlicht das Herausstellen der Bekämpfung der Kinderarmut, dass sich dieses Anliegen irgendwie besser „verkaufen“ lässt als wenn man gleich offen diejenigen adressieren würde, um die es auch bei diesem Vorschlag wieder geht: eben die Eltern.

Den Erläuterungen von DGB und BDA kann man den folgenden Ansatz entnehmen:

»Qualifizierte Fallmanager würden gemeinsam mit den Hilfesuchenden eine individuelle Eingliederungsstrategie entwickeln und vereinbaren. Ergänzende Leistungen, wie Kinderbetreuung und psychosoziale Beratung, würden von den Kommunen bereitgestellt.
Sollte es nach etwa einem Jahr nicht gelungen sein, zumindest ein Elternteil in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und das hat stets Vorrang -, schlagen BDA und DGB eine zeitlich befristete, öffentlich geförderte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor. Als gezielte finanzielle Anreize für Jobcenter, die sich engagieren wollen, schlagen die Sozialpartner 280 Mio. Euro vor. Das Programm soll zunächst auf drei Jahre angelegt sein und wissenschaftlich begleitet werden.«

An dieser Stelle werden nicht wenige Insider der Arbeitsmarktpolitik unter Schmerzen aufstöhnen. Nicht schon wieder ein Sonderprogramm. Denn Programmitis und Modellprojektionitis sind bekanntlich zumindest aus Sicht der meisten Praktiker zwei der Grundübel (nicht nur) in der Arbeitsmarktpolitik, die oftmals, von einzelnen sinnvollen Ergebnissen abgesehen, enorme Ressourcen verschlingen, zu einer Anpassung der real existierenden Menschen an die Zielgruppenvorgaben der Programme zwingen und letztendlich – aufgrund der zeitlichen Befristung – kaum bis gar nicht „nachhaltig“ wirken (können). Außerdem sind wir hier konfrontiert mit einer systemischen Eigendynamik dergestalt, dass je genauer und abgrenzender die Zielgruppen der einzelnen Programme und Maßnahmen gestrickt werden, um so größer wird der Expansionsbedarf zur Abdeckung der anderen, davon nicht erfassten, aber weiter existenten Fälle, die man nun auch irgendwie bedienen müsste und sollte. Ein Teufelskreis.

Schauen wir einmal genauer in den „Aktionsplan“ hinein – und man muss konzedieren, dass man die angesprochene Problematik zwar nicht wirklich aufzulösen, sie aber zumindest etwas abzumildern versucht. Neben dem im Rechtskreis SGB II mit seinen vielen Sanktionstatbeständen wichtigen Hinweis, dass die Teilnahme seitens der Betroffenen freiwillig sein sollte, kommt mit Blick auf diejenigen, die das hauptsächlich und federführend machen müssen, also die Jobcenter, der folgende Passus:

»Jobcenter, die sich an dem vorgeschlagenen Aktionsplan beteiligen, sollen dies ebenfalls freiwillig tun. Es ist nicht unsere Absicht, deren Arbeit durch ein aufgezwungenes Sonderprogramm zu verkomplizieren.« (DGB/BDA 2015: 3)

Stattdessen soll es es Anreize geben, sich daran zu beteiligen – eben der Zugang zu zusätzlichen Mitteln: »Für zusätzliche Aktivitäten der Jobcenter im Rahmen des hier vorgeschlagenen Aktionsplans „Zukunft für Kinder – Perspektiven für Eltern im SGB II“ sollte der Bund mittels eines Sonderprogramms zusätzlich zum regulären Eingliederungsbudget (EGT) ein Finanzvolumen von ca. 280 Mio. Euro zur Verfügung stellen … Zusätzliche finanzielle Mittel aus dem Sonderprogramm erhalten nur jene Jobcenter, die zusätzliche Anstrengungen gegen Kinderarmut unternehmen.« (DGB/BDA 2015: 4). Was natürlich dazu führen muss, dass in den Jobcentern, die sich beteiligen, entsprechende Anstrengungen notwendig werden, den Vorgaben des zusätzlichen Programms zu folgen und diese in der täglichen Arbeit auch abzubilden. Dazu der „Aktionsplan“: »Das Jobcenter sollte in eigener Verantwortung überlegen, ob gesonderte Strukturen, z.B. spezielle Teams, sinnvoll sind. Eine gesonderte Organisationseinheit würde den Charakter des vorgeschlagenen Aktionsplans auch mit Blick auf das Zielsystem betonen. Es kann aber auch örtlich sinnvoll sein, vorhandene Strukturen und Aktivitäten „nur“ gezielt zu verstärken.«

Die Durchsicht der weiteren Elemente der inhaltlichen Ausgestaltung verdeutlicht, dass hier die als erfolgreich oder wenigstens als irgendwie wirksam erkannten Bausteine aus anderen Modellversuchen und praktischen Erfahrungen vor Ort zusammengestückelt werden:

»Die zuständigen Fallmanager/innen oder Vermittler/innen brauchen flexible Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines Budgets, um den Elternteilen sinnvolle Angebote machen zu können. Wir schlagen eine Ausweitung der Möglichkeiten vor, die § 44 f. SGB III (Vermittlungsbudget, Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen) den Vermittler/innen einräumt. So könnte Langzeitarbeitslosen ein Coach an die Seite gestellt werden, der die Jobsuche und den Beginn einer neuen Erwerbstätigkeit begleitend unterstützt. Die in einzelnen Arbeitsagenturen und Jobcentern durchgeführten Modellprojekte („INA“) zum Coaching waren erfolgreich. Dieser Ansatz sollte im vorgeschlagenen Aktionsprogramm genutzt werden können. Die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen könnte dort, wo dies sinnvoll und nötig erscheint, durch einen finanziellen Anreiz im Sinne einer Erfolgs- oder Durchhalteprämie stimuliert werden. Diese Hilfen und Anreize sollen gezielt mit Blick auf den Einzelfall eingesetzt werden, als Teil des zwischen Vermittler/in und Elternteil vereinbarten Vorgehens.« (DGB/BDA 2015: 5)

Im weiteren Gang der Beschreibung werden dann alle irgendwie relevanten Partner der Jobcenter bei der Integrationsarbeit aufgezählt und mitverhaftet – von den Kommunen mit ihren Angeboten natürlich bis hin zu den Krankenkassen, örtliche „Paten“ aus der „Zivilgesellschaft“ und in besonderen Fällen auch »eine familienbegleitende Betreuung durch eine/n Familiencoach/in«.
Nun sind Gewerkschaften und Arbeitgeber keine Traumtänzer und sie formulieren in ihrem Papier (S. 5) selbst das zentrale Problem: »Die Integration von arbeitslosen Eltern kann nur gelingen, wenn entsprechende geeignete Arbeitsplätze gefunden werden.«

Und was, wenn das trotz aller Netzwerke und Anstrengungen nicht gelingt? Dann taucht sie auf, die „öffentlich geförderte Beschäftigung“ – oder sagen wir an dieser Stelle schon: das, was von ihr überhaupt noch übrig geblieben ist, nach Jahren nicht nur der budgetären, sondern vor allem der förderrechtlichen Verstümmelung:

»Gelingt es innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. ein Jahr) nicht, zumindest ein Elternteil zu integrieren, wird – ultima ratio – eine zeitlich befristete öffentlich geförderte Beschäftigung in sozialversicherungspflichtiger Form im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Fördermöglichkeiten angestrebt … Den Sozialpartnern in den Beiräten der Jobcenter sollte die Aufgabe zukommen, die Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung vorab zu prüfen, ob eine Verdrängung regulärer Beschäftigung zu erwarten ist.«

Kein Wort dazu, dass man nun wirklich neue Wege der öffentlich geförderten Beschäftigung gehen müsste, um halbwegs vernünftig arbeiten zu können. Wenigstens ein Hinweis auf den desaströsen rechtlichen Zustand hätte man sich gewünscht. Alles wird irgendwie passungsfähig gemacht zu dem, was da ist. Egal, ob das, was da ist, von vielen Praktikern und Experten als untauglich und sogar in vielerlei Hinsicht als kontraproduktiv bewertet wird.

Damit das nicht missverstanden wird – den neuen Vorstoß der Gewerkschaften und der Arbeitgeber sollte man als eine wirklich gute Absicht bewerten, einer der vielen Teilgruppen im Hartz IV-System zu helfen, die bislang entweder durch den Rost gefallen oder die aus ganz unterschiedlichen Gründen mit den vorhandenen Instrumenten nicht zu erreichen sind.

Aber irgendwie erinnert das Vorgehen an den höchst problematischen „Windows-Effekt“. Damit ist gemeint, dass man das bestehende Betriebssystem mit immer neuen zusätzlichen und anderen Funktionen angereichert hat, in dem man diese „add-on“ gepackt hat, bis irgendwann zahlreiche Schnittstellen-Fehler auftreten mussten, weil sich unten immer mehr Müll angesammelt hat, der nicht beseitigt worden ist. Bildlich gesprochen stehen wir in der Arbeitsmarktpolitik vor einem ähnlichen Problem. Man packt oben immer mehr drauf und weigert sich aber, zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach mal einen Schnitt zu machen und eine Generalrevision vorzunehmen.

Für die Arbeitsmarktpolitik würde das bedeuten – was übrigens seit Jahren gefordert wird -, dass man das Förderrecht radikal entschlackt und den Profis vor Ort ein Instrumentarium an die Hand gibt, das sie flexibel einsetzen können. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass gerade eine sich verhärtende Langzeitarbeitslosigkeit auch bei einem wesentlich flexibleren Förderrecht nicht bekämpft werden kann, wenn man gleichzeitig die Fördermittel bei – wie gesagt – zunehmender Problemschwere zusammenstreicht, dann hätte man die beiden zentralen Ansatzpunkte für eine echte Reform, die ihren Namen verdienen würde.

Auf der Rutschbahn direkt in Hartz IV. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte ist davon bei Arbeitslosigkeit betroffen. Was ein wenig helfen würde und wo die (System-)Grenze ein Dilemma ist

Also „normalerweise“ sollte es so sein, dass das Risiko der Erwerbsarbeitslosigkeit durch „vorrangige“ Sicherungssysteme aufgefangen wird, also durch die Arbeitslosenversicherung und nicht durch eine bedürftigkeitsabhängiges Fürsorgesystem wie Hartz IV. Mittlerweile haben sich diese Verhältnisse umgekehrt und fast 70% der registrierten Arbeitslosen befinden sich im Grundsicherungssystem (SGB II), während etwas mehr als 30% im Versicherungssystem (SGB III) abgesichert sind. Das hängt auch damit zusammen, dass aufgrund der Veränderungen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem deren Ausbreitung und der für viele dauerhaften Exklusion von stabileren Formen der Beschäftigung – die Voraussetzungen für den Bezug von Versicherungsleistungen nicht oder immer seltener erfüllt werden (können), wie beispielsweise die notwendige Vorbeschäftigungszeit innerhalb einer vom Gesetzgeber festgelegten Rahmenfrist, um beim Eintritt des „Schadensfalls“ Arbeitslosigkeit Leistungen zu bekommen.
Das führt dann zu solchen Meldungen, die auf eine neue Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit beruhen, die vom DGB in regelmäßigen Abständen vorgenommen wird: Jeder fünfte Beschäftigte rutscht bei Arbeitslosigkeit sofort in Hartz IV: »Demnach waren in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 264.000 Beschäftigte schon zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit auf Hartz IV angewiesen. Das waren 21,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Jobverlust. Besonders angespannt ist die Lage in der Zeitarbeitsbranche. Dort wurden im ersten Halbjahr 183.000 Arbeitkräfte entlassen. Davon waren rund 68.000, also 37 Prozent, direkt im Anschluss auf staatliche Grundsicherung angewiesen.«

Wer das Original lesen möchte, kann die Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit und vor allem die sozialpolitischen Schlussfolgerungen des DGB hier als PDF-Datei abrufen:

Wilhelm Adamy: 12 Monate mehr: Wie die Arbeitslosenversicherung besser vor Verarmung schützen kann. Auswertung aktueller Arbeitsmarktzahlen (1. Halbjahr 2015), Berlin 2015.

»Der Weg vom Beschäftigten zum Hartz-IV-Empfänger kann sehr kurz sein«, so Wilhelm Adamy in seiner Analyse: »Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten, die sich neu arbeitslos melden müssen, haben eine berufliche Ausbildung oder waren als Spezialist oder Experte (z.B. Ingenieur) beschäftigt. Das Hartz IV-Risiko bei Eintritt der Arbeitslosigkeit nimmt zwar mit dem Qualifikationsniveau ab, liegt bei ehemaligen Fachkräften aber immer noch bei knapp einem Fünftel. Bei den arbeitslosen Helfern sind nach einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt sogar 42 Prozent auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen.«

Und jetzt kommt ein Problem, auf das die derzeitige Debatte zielt:

»Viele mit und ohne Berufsabschluss haben zwar gearbeitet und ein ganzes Jahr Beiträge zur Versicherung gezahlt. Sie haben es aber nicht innerhalb der letzten zwei Jahre (der gesetzlichen Rahmenfrist) schaffen können, weil sie befristet oder unstetig beschäftigt waren. Infolge der zu kurzen Beitragszahlungen oder einer länger zurück liegenden Beschäftigung führt dies zum sofortigen Sturz in das Hartz-IV-System. Insbesondere prekär Beschäftigte, kurzfristig Beschäftigte und Leiharbeitskräfte kommen oftmals gar nicht in den Schutz der Versicherung.«

„Beeindruckend“ im negativen Sinne sind hier die für die Leiharbeit präsentierten Daten:

»Im Verleihgewerbe sind im ersten Halbjahr 2015 bereits 183.000 Leiharbeitskräfte arbeitslos geworden, rund 68.000 davon sind direkt auf Hartz IV angewiesen. Diese Zugänge aus Leiharbeit in Arbeitslosigkeit entsprechen fast einem Viertel des Beschäftigungsbestandes dieser Branche. Heuern und Feuern ist hier immer noch an der Tagesordnung, wenn im Schnitt ein Viertel der Belegschaft im Verleihgewerbe innerhalb eines halben Jahres Erfahrung mit Arbeitslosigkeit machen muss. Rund 37 Prozent der vormaligen Leiharbeitskräfte sind bei Eintritt der Arbeitslosigkeit zugleich auf Hartz IV angewiesen.«

Hinsichtlich des diskutierten und vom DGB auch geforderten Veränderungsbedarfs muss man darauf hingewiesen, dass es sich um den Vorschlag handelt, eine alte, also früher schon mal bestehende Regelung in der Arbeitslosenversicherung wieder einzuführen, also nichts wirklich Neues oder gar Revolutionäres. Dem DGB-Papier können wir dazu entnehmen:

»Laut Koalitionsvertrag sollen Beschäftigte künftig wieder 36 Monate Zeit haben, um zwölf Monate Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Dieser Zeitraum ist die Voraussetzung, um Arbeitslosengeld I zu beziehen. Von dieser Reform würden insbesondere Menschen profitieren, die häufig nur für kurze Zeit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Die so genannte Rahmenfrist lag vor 2006 ebenfalls bei 36 Monaten und wurde dann auf 24 Monate verkürzt.«

Der DGB „erinnert“ nun die Bundesregierung lediglich an das eigene Vorhaben, das man im Koalitionsvertrag beschlossen hat:

»Der DGB fordert, die gesetzliche Rahmenfrist endlich zu verlängern (im Koalitionsvertrag war Anfang 2015 als Start genannt worden). Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen, die Ausgaben würden pro Jahr um rd. 300 Mio. Euro steigen. Gleichzeitig würde das Hartz-IV- System schrumpfen. Bund und Kommunen würden jährlich um fast 100 Mio. Euro entlastet.«

Man sollte aber vor dem Hintergrund der Gesamtzahl an Arbeitslosen und an Zugängen in Arbeitslosigkeit den Effekt einer solchen Veränderung nicht überbewerten – für die einzelnen Betroffenen wäre das sicher eine wichtige Verbesserung, aber das angesprochene Grundproblem einer seit vielen Jahren beobachtbaren Verschiebung der „Absicherung“ von Phasen der Erwerbslosigkeit aus der (eigentlich zuständigen) Arbeitslosenversicherung in die (eigentlich nur als letztes Auffangnetz vorgesehene) Fürsorge wird dadurch nur in einer überschaubaren Art und Weise etwas korrigiert.

Zu den Zahlen: Im 1. Halbjahr 2015 haben 1,238 Mio. Menschen ihren sozialversicherten Job verloren und sind arbeitslos geworden.  Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 2015 den Job verloren, sind schon zu Beginn der Arbeitslosigkeit in Hartz IV gerutscht. Absolut waren dies 264.000 bzw. 21,3 Prozent der sozialversichert Beschäftigten mit Jobverlust.
Was würde nun die eigentlich vereinbarte Verlängerung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre bringen? Hier werden zwei Zahlen genannt: Im DGB-Papier findet man dazu den Hinweis: »Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen.« In dem Artikel der Saarbrücker Zeitung wird eine etwas andere Zahl genannt: »Nach Angaben des DGB-Arbeitmarktexperten Wilhelm Adamy könnten dadurch im Jahresschnitt bis zu 35.000 Personen vor dem sofortigen Abdriften in Hartz IV bewahrt werden.«

35.000 bis 50.000 sind eine Menge. Aber nur ein Teil der Betroffenen:

Für die große Mehrheit der Arbeitslosen, die derzeit direkt „weitergereicht“ werden in das Hartz IV-System, bleibt das beschriebene Dilemma erheblicher Sicherungslücken in dem „eigentlich“ für ihr Problem zuständigen Versicherungssystem bestehen. Das Dilemma resultiert aus dem Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung, die zwar eine Sozialversicherung ist, aber eben auch Versicherungsprinzipien folgen muss. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitslosenversicherung ist ein geeignetes Aufgang- und (bei entsprechender Höhe der Leistungen) Absicherungssystem für die betroffenen Arbeitnehmer, wenn der Schadensfall der Arbeitslosigkeit nur als Ausnahmefall und dann temporär eintritt, also nach einer überschaubaren Zeit wieder beendet werden kann durch die Aufnahme einer neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Die Versicherung als solche stößt an ihre (System-)Grenze, wenn die Arbeitslosigkeitsphasen oft und dann auch noch lange anhaltend auftreten. Vor diesem strukturellen Problem stehen alle – grundsätzlich wichtigen und eigentlich notwendigen – Ansätze einer Weiterentwicklung der „tradierten“ Arbeitslosen- hin zu einer modernen „Beschäftigungsversicherung“, seit Jahren richtigerweise gefordert, aber bislang noch nicht wirklich überzeugend konzeptualisiert. Das ist keineswegs ein Plädoyer, darüber nicht weiter zu diskutieren. Aber derzeit bleibt hier ein großes Fragezeichen.

Eine „Beschäftigungsversicherung“ würde nicht nur vor dem Problem stehen, dass die Fälle besser abgesichert werden müssen, um die es bislang in diesem Beitrag ging, die also häufig und länger anhaltend arbeitslos werden aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die ganze „Aufstocker“-Thematik aus dem Grundsicherungssystem müsste hier berücksichtigt werden, also die Mischung aus Erwerbstätigkeit und einer aufstockenden Leistungsgewährung angesichts der nicht ausreichend hohen Einkommen aus der Erwerbstätigkeit, sei sie nun sozialversicherungspflichtig, als geringfügige Beschäftigung oder in Form der Selbständigkeit ausgeübt.