Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden

Ein gewichtiger Teil der Berichterstattung dreht sich überwiegend um „Arbeitslose“ und dann auch noch in Gestalt ihrer absoluten Untergrenze, also der offiziell registrierten Arbeitslosen, deren Größenordnung einmal monatlich von der Bundesarbeitslosenverwaltung in Nürnberg verkündet wird. Da erfährt man dann: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von September auf Oktober um 59.000 auf 2.649.000 gesunken.« Die meisten Journalisten brechen an dieser Stelle ab und tragen die tatsächlich quantitativ erfreulich rückläufige Zahl in die Öffentlichkeit. Wenn sie doch wenigstens die schon „richtigere“ Zahl nennen würden, die von der BA ebenfalls publiziert wird: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt … belief sich … im Oktober 2015 auf 3.476.000 Personen.«

Das sind immerhin 827.000 Menschen mehr als die Zahl, die dann über die Presse verbreitet wird – und arbeitslos sind die nun wirklich auch. Aber es geht in diesem Beitrag gar nicht um die Zahl der Arbeitslosen, sondern um eine andere, die 70% der ausgewiesenen „offiziellen“ Arbeitslosen beinhaltet: um die Zahl der Hartz IV-Empfänger. Und die liegt derzeit bei fast 6,1 Millionen Menschen. Das ist nun eine ganze andere „Gewichtsklasse“ und vielen – auch in den Medien – ist gar nicht bewusst, dass es so viele sind, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind. Immerhin zehn Prozent der Menschen in unserem Land sind auf Hartz IV-Leistungen existenziell angewiesen. Und die tragenden Säulen dieser Leistungen sind zum einen der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ – das sind die derzeit noch 399 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden – sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Für Wohnkosten bekommt ein Alleinstehender derzeit im Durchschnitt gut 300 Euro. Am 1. Januar 2016 wird der Regelsatz um 5 Euro auf 404 Euro erhöht. Die jährlich vorzunehmende Dynamisierung hängt zu 70 Prozent von der Preisentwicklung und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung ab.

Nun gibt es allerdings einen interessanten Passus im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“: »Liegen die Ergebnisse einer bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vor, wird die Höhe der Regelbedarfe in einem Bundesgesetz neu ermittelt.« Ganz offensichtlich geht es hier um die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Man muss wissen: Die EVS wird alle fünf Jahre durchgeführt. 60.000 Haushalte führen für das Statistische Bundesamt Haushaltsbücher. Drei Monate lang halten sie penibel fest, wofür sie Geld ausgeben. Etwa 200 Positionen sind in  der EVS vorgesehen, vom Waschmittel über die Telefongebühren bis zu Essen und Trinken.

Derzeit beruhen die Hartz-IV-Sätze noch auf der EVS von 2008. Wer rechnen kann, ist bekanntlich klar im Vorteil und wird sofort erkannt haben, dass bei fünfjährigen Abständen 2013 eine neue EVS-Erhebung stattgefunden haben muss. So ist es auch. dabei wurden umfangreiche Daten erhoben, die von den Bundesstatistikern natürlich erst ausgewertet werden mussten. Das aber ist nunmehr geschehen, die Ergebnisse liegen vor. Also könnte man jetzt entsprechende gesetzgeberische Schlussfolgerungen ziehen. Aber in der bereits zitierten Vorschrift des § 28 SGB XII steht nicht, wie schnell das zu passieren hat. Insofern überrascht dann diese Feststellung von Thomas Öchsner in seinem Artikel Hartz IV ist zu niedrig – Erhöhung bleibt trotzdem aus nicht wirklich:

»Hartz-IV-Bezieher sollten sich jedoch nicht zu früh freuen: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können sie erst Anfang 2017 rechnen.«

Natürlich liegt es angesichts der Haushaltswirksamkeit einer Erhöhung der Regelsätze im Interesse der Regierung, diese auf der Zeitachse zu schieben, das bedeutet Milliarden-Einsparungen. Von daher verwundert die Auskunft des Bundesarbeitsministeriums nicht, die Öchsner in seinem Artikel zitiert:

»Zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben, sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Erst danach könne die Arbeit am Gesetz beginnen, sodass die neuen Regelbedarfshöhen auf Grund der neuen Haushalts-Stichprobe „zum 1. Januar 2017 in Kraft treten und damit im derzeitigen Anpassungsturnus liegen“. Auf Grund der „zeitlichen Abläufe“ sei es nicht möglich, den Termin auf den 1. Juli 2016 vorzuziehen. Auch sei nicht daran gedacht, die neuen Regelsätze rückwirkend gelten zu lassen.«

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen wird in dem Artikel zitiert mit der Bewertung, dass das ein Skandal sei. So seien „die Leistungen nachweislich zu niedrig, um sich ausgewogen zu ernähren, die tatsächlichen Stromkosten zahlen oder sich eine Waschmaschine kaufen zu können“.

Offensichtlich setzt man hier auf Aussitzen. Dabei hatte sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem an sich regierungsfreundlichen Urteil  aus dem Juli 2014 – BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) – kritisch angemerkt:
»Komme es wie zum Beispiel beim Strom zu außergewöhnlichen Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition, müsse der Gesetzgeber dies zeitnah abbilden und den Stromkostenanteil in den Regelsätzen erhöhen.«

Auch die damalige Entscheidung nimmt sogar explizit Bezug auf die EVS 2013, denn in der Pressemitteilung Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß zu dem Urteil heißt es:

»Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.«

Der in diesem Beitrag bereits zitierte Martin Künkler hatte bereits im September nach der Ankündigung der Mini-Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar 2016 in einem Interview ausgeführt:

»Die Bundesregierung will den Hartz-IV-Satz der Preis- und Lohnentwicklung anpassen. Sie ist aber in der Pflicht, die Hartz-IV-Leistung grundsätzlich neu zu ermitteln und deutlich zu erhöhen …  Nahles kommt ihren gesetzlichen Pflichten nicht nach: Hartz-IV-Beträge sind alle fünf Jahre aufgrund des Ausgabeverhaltens unterer Einkommensgruppen festzusetzen, sobald die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorliegen.«

Der Handlungsbedarf sei offensichtlich, so Künkler:

»Die Stromkosten sind seit 2008 um 38 Prozent in die Höhe geschossen, viele können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen …  Anderes Beispiel: Für ein 13jähriges Kind sind pro Tag für Essen und Trinken 3,53 Euro vorgesehen. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund hat festgestellt: Wer das ansatzweise hinbekommen will, müsste täglich vier Discounter abklappern, um jeweils die günstigsten Angebote herauszupicken. Hartz-IV-Bezieher als Schnäppchenjäger – aber sollen sie nicht eigentlich Arbeit suchen? Daran ist nicht zu denken, zumal im ländlichen Raum, wenn man kein Auto hat! Die Mobilität ist dort ein Problem wie auch in Großstädten. Der Gesetzgeber hat bei der letzten Festsetzung die Kosten dafür auf üble Weise kleingerechnet; zum Maßstab hat er Personen in Stadtzentren erklärt, die ihre Wege meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen.«

Natürlich wurde er auch gefragt, in welcher Größenordnung sich ein „richtig“ bemessener Regelsatz bewegen müsste: Um die 500 Euro, so die Antwort angesichts der vielen bestehenden Mängel.

Aber bereits die embryonal daherkommende Erhöhung um fünf Euro hat auf der anderen Seite wütende Reaktionen hervorgerufen. Ein »Anreiz zur Nichtarbeit« sei die Erhöhung, wird Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, in einem Artikel zitiert. Und Christian Freiherr von Stetten, CDU-Bundestagsabgeordneter sowie Präsidiumsmitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, wittert gar ein »Geschäftsmodell Hartz IV«. Es sei »kein Wunder«, dass »angebotene Arbeit konsequent abgelehnt« werde, so Susan Bonnet in ihrem Artikel Neoliberale Legenden. Minierhöhung von Hartz IV.

Und sie verweist kontrastierend darauf, um welche Beträge es hier in der Realität geht:

»Laut Regelsatztabelle darf ein Alleinstehender derzeit für 142 Euro monatlich essen und trinken, ein Jugendlicher für 107 Euro, für ein Kleinkind müssen 83 Euro reichen. Für Strom und Wohnungsreparaturen sind nur 33,36 Euro vorgesehen, für die Pflege eines Babys stehen Eltern inklusive Windeln ganze zehn Euro zur Verfügung. Und genau 1,01 Euro monatlich sollen für häusliche Bildung eines Schulkindes reichen.«

Vor kurzem gab es einen Vorstoß der Linken im Bundestag für ein höhere Existenzminimum. Ihr Antrag »für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum« fand keine Resonanz bei den Regierungsfraktionen. In einem Artikel kann man dazu lesen:

»Kaum wurde der Tagesordnungspunkt aufgerufen, verließen Dutzende Abgeordnete der Koalition den Plenarsaal. Linke-Vorsitzende Katja Kipping forderte eine Kommission, die das Existenzminimum neu berechnen und dafür ein Verfahren entwickeln solle, das die Armutsrisikogrenze und das »Warenkorbmodell« berücksichtige.«

Das zumindest wäre mal zu diskutieren. Statt dessen wird man mit so was konfrontiert: »Stephan Stracke (CSU) befand, Kippings Forderung falle »aus der Zeit«. Dann spielte er Arme gegen Arme aus: Das Land sei voller Flüchtlinge, da sei an eine Erhöhung von Hartz IV nicht zu denken.«

Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in „Telefoninkasso“ schult. Und Normalbürger, die Sozialrichter spielen dürfen

Zugegeben – die Überschrift zu diesem Blog-Beitrag ist nicht twitter-fähig. Zu viele Zeichen. Aber kürzer geht’s eben nicht. Nicht bei den Themen, die hier angerissen werden müssen. Es geht um einen Blick in die unteren Etagen des Sozialstaats.

Beginnen wir mit den handfesten materiellen Sorgen eines größer werdenden Teils der Arbeitslosen: »Im vergangenen Jahr hatte nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes jeder dritte Erwerbslose – exakt waren es 34,6 Prozent – finanzielle Schwierigkeiten, mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit einzunehmen. Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Betroffenen um 48 000 auf 1,07 Millionen«, so der Artikel Viele Arbeitslose können sich kein Essen leisten. »Jeder fünfte Erwerbslose (19,1 Prozent) hat sogar Probleme, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu begleichen. Vom Jahr 2013 zum vergangenen Jahr erhöhte sich die Zahl dieser Menschen um 62 000 auf 590 000. Genau 18,4 Prozent der Arbeitslosen konnten aus finanziellen Gründen ihre Wohnung nicht ausreichend heizen.« 2014 haben 30,9 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland unter „erheblicher materieller Entbehrung“ gelitten, wie das die Statistiker ausdrücken. Datengrundlage für diese Informationen ist die Leben in Europa (EU-SILC)-Befragung, die in allen EU-Staaten durchgeführt wird.

Ganz offensichtlich reicht selbst die Gewährleistung des „Sozia-kulturellen Existenzminimums“ in Form der Hartz IV-Leistungen nicht aus, um diese „erheblichen materiellen Entbehrungen“ zu vermeiden. Über die Angemessenheit der Höhe der Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) tobt seit langem eine intensive Debatte, viele Kritiker bemängeln, dass der Regelsatz – derzeit 399 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person – zu niedrig bemessen sei.
Unabhängig von dieser Auseinandersetzung sollte man meinen, dass wenigstens der karge Regelsatz sicher ist für die Betroffenen. Dem ist aber nicht so – nicht nur im Fall der Sanktionierung des Leistungsempfängers, weil er irgendwelche Pflichten verletzt hat, die das Jobcenter ihm oder ihr auferlegt hat, sondern auch, weil die Jobcenter einen ganz eigenen Status haben als Gläubiger, der sie von anderen Gläubigern unterscheidet: Eigentlich „genießen“ Menschen, die so wenig haben, dass sie Hartz IV-Leistungen beziehen, in unserem Land Pfändungsschutz. »Das Minimum darf ihnen keiner nehmen. Doch es gibt einen Gläubiger in Deutschland, für den diese Regel nicht gilt: die Bundesagentur für Arbeit. Um Darlehen und überschüssige Aufstockungen wieder einzutreiben, darf sie bis zu 30 Prozent des Minimalbetrags abziehen – auch während der Betroffene noch arbeitslos ist«, schreibt Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Armut treiben.  Sie illustriert das an einem Fallbeispiel:

»(Julia) Meier, die eigentlich anders heißt, lebt seit ihrem 41. Lebensjahr immer wieder von Hartz-IV. Sie ist jetzt 52. In einer Kleinstadt in Süddeutschland, in der es Fachwerkhäuser gibt und eine Bimmelbahn, zog sie zwei Söhne alleine groß. Sie jobbt, wenn sie Jobs findet und wenn es die Rückenschmerzen zulassen. Dennoch erreicht sie schon seit Jahren das Existenzminimum nicht mehr. Meist lebt sie von 50 Euro weniger. Der Grund: Julia Meier hat Schulden … 100 Euro für die Stromnachzahlung, 1000 Euro für die Mietkaution oder 300 Euro für Möbel – Julia Meier muss bei jeder größeren Ausgabe ein Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Erspartes hat sie nicht. Wenn sie im Callcenter arbeitet, wo der Stundenlohn nicht zum Leben reicht, hilft das Amt aus. Doch auch dieses sogenannte Aufstocken hat häufig ein Nachspiel: Wenn Meier mehr verdient, als sie am Monatsanfang geschätzt hat, erhält sie nach einiger Zeit einen Brief: Das Jobcenter fordert sein Geld zurück. Mittlerweile hat sie viel Post von dieser Sorte bekommen. „Ich habe den Überblick verloren“, sagt sie. Das Amt dagegen addiert die Rechnungen auf. Pro Darlehen oder Rückzahlung behält es bisher zehn Prozent des Regelsatzes ein und begleicht dabei bis zu drei Forderungen gleichzeitig. Ist eine Schuld getilgt, folgt die nächste.«

Besonders problematisch ist die Situation für viele Aufstocker, die stundenweise arbeiten und deren Einkommen stark schwanken und bei denen oft Schulden entstehen:

»Wenn die Jobcenter ihnen Rückforderungen schicken, ist das Geld meist schon verbraucht, kritisiert Michaela Hofmann von der Caritas. „Die Leute können nichts ansparen“, sagt sie. Gerade bei Langzeitarbeitslosen sei das Geld durch dauerhafte Abzüge so knapp, dass sie immer wieder neue Darlehen aufnehmen müssten, um Stromrechnungen oder eine neue Waschmaschine zu bezahlen. Frieder Claus, der elf Erwerbslosen-Beratungsstellen der Diakonie im Landkreis Esslingen betreut, sagt, dass etwa die Hälfte seiner Klienten weniger Geld bekommt, als es der Hartz-IV-Satz vorsieht.«

Nachdem sich die Bundesländer in der vergangenen Woche beim Bundesarbeitsministerium über 30-Prozent-Abzüge allein durch Darlehensrückzahlungen an das Jobcenter beschwert hatten, will Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) der Bundesagentur für Arbeit diese Praxis nun untersagen. Die fachliche Weisung werde jetzt „entsprechend angepasst“, so wird eine Sprecherin des Ministeriums in dem Artikel zitiert. Nur – die davon nicht betroffenen Aufstocker-Rückzahlungen werden auch in Zukunft die Bezüge vieler Hartz-IV-Empfänger reduzieren.
Die damit einhergehenden Folgen sind sogar gravierender als im Fall der Sanktionierung: Sanktionen sind maximal drei Monate gültig. Die Rückzahlungen dagegen bleiben bestehen, bis die Rechnung beglichen ist.

Und die Bundesagentur für Arbeit setzt zudem offensichtlich auf eine „Professionalisierung“ hin zu einem „modernen Inkasso-Unternehmen“:

»Um säumigen Schuldnern beizukommen, setzt die Bundesagentur … auf ein neues „Fachkonzept Inkasso“, mit dem sie künftig einen „besseren Einziehungserfolg“ erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen – auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen.«

Und es kommt noch besser:

»Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden.«

 Offensichtlich eine ganz neue Variante des Public-Private-Partnership.

Und was ist mit der Julia Meier? Die gerät jetzt in einen ganz eigenen Teufelskreis:

Seit knapp drei Jahren ist sie im Insolvenzverfahren. Dabei muss sie sich auf ein geringes Einkommen beschränken und weitere Kredite könnten ihr Verfahren scheitern lassen. Für ein neues Bett und einen Kühlschrank hat sie beim Jobcenter deshalb Beihilfe beantragt. „Da Sie diese Gegenstände schon einmal besessen haben, ist eine Bewilligung als Beihilfe (…) nicht mehr möglich“, antwortet ihr das Amt. Aber: „Es besteht die Möglichkeit, ein Darlehen zu beantragen.“

Vor diesem Hintergrund ist es sicher nicht überraschend, dass immer wieder von ganz unterschiedlichen Akteuren eine Anhebung des Regelsatzes im Grundsicherungssystem gefordert wird. Finden diese Forderungen eine Entsprechung in der Wahrnehmung der „Normalbürger“?

Mit dieser Frage hat sich auch die Wissenschaft beschäftigt und herausgekommen ist dieser Beitrag:

Katharina Hörstermann und Hans-Jürgen Andreß: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ Eine Vignettenanalyse zur Bestimmung eines Einkommenmindestbedarfs, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2015, S. 171-198

Eine Zusammenfassung findet man in dem Artikel Die sind zu mehreren, da sparen sie doch! von Gerald Wagner. Aus der Forschung ist bekannt, »dass es Befragten meist schwerfällt, bei allgemeinen Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit zu konsistenten Urteilen zu kommen. Aufschlussreicher ist es, die Menschen mit konkreten Beispielen zu konfrontieren. Die Soziologie greift dazu auf Vignettenanalysen zurück. Dabei werden Versuchsteilnehmern hypothetische Situationsbeschreibungen (sogenannte Vignetten) vorgelegt, die eine Testperson gewissermaßen in die Rolle des Gesetzgebers versetzen.«

»In einer neuen Studie wurden 410 Teilnehmer gefragt, was Hilfsbedürftigkeit eigentlich ausmacht und wie viel sie den Steuerzahler kosten soll. Ein kurzer Text beschrieb dazu die Lage eines Hartz IV-Empfängers, also sein Alter, die Gründe für seine Erwerbslosigkeit und seinen Haushalt mit den darin lebenden Personen. Seien Sie kreativ, sagte die Studie, spielen sie Sozialrichter! Wie viel würden Sie den Betroffenen bewilligen?«

Die Ergebnisses dieses Experiments überraschen und zeigen, dass sich die Vorstellungen der Bevölkerung bezüglich der Bedürfnisse sozial Schwacher von denen des Gesetzgebers doch beträchtlich unterscheiden – selbst dann, wenn der Vignette der tatsächliche Arbeitslosengeld-II-Regelsatz als Anhaltspunkt der Urteilsfindung beigefügt wurde, wie Wagner anmerkt.
Hier eine Zusammenfassung aus den Ergebnissen:

»Die Studie bot acht verschiedene Haushalte an, von einem Alleinstehenden bis zur fünfköpfigen Familie mit drei Kindern. Mit der Ausnahme des Einpersonenhaushalts, dem die Befragten im Durchschnitt mehr Geld als den aktuellen Regelsatz bewilligten, bekamen alle anderen Haushalte von den Teilnehmern weniger Mittel zugesprochen – zum Teil drastisch weniger: So nannte die Studie als amtlichen Regelsatz für die fünfköpfige Familie monatlich 1455 Euro (ohne Miet- und Heizkosten). Die Probanden kürzten diese Mittel im Durchschnitt um fast ein Drittel.«

Das ist heftig.

Zugleich zeigen sich deutlich wertende Differenzierungen: So führte in den Experimenten fehlendes Engagement bei der Arbeitssuche zu deutlichen Kürzungen der zugewiesenen Mitteln. Umgekehrt neigten die Teilnehmer dazu, Älteren grundsätzlich mehr zu bewilligen als Jüngeren.

Es bleibt natürlich eine wichtige Frage: Warum fiel die absolute Höhe der von den Teilnehmern als gerecht angesehenen Hilfe so niedrig aus, gerade bei größeren Haushalten?
Die Studienautoren vermuten mangelndes Wissen bei den Befragten: Die Probanden könnten den Bedarf gerade großer Haushalte einfach nicht richtig einschätzen, da die Mehrheit der Bevölkerung in kleinen Haushalten oder gleich allein lebt.
Gerald Wagner zweifelt an diesem Interpretationsansatz: »Dagegen spricht …, dass sich die Studienteilnehmer auch dann sozusagen geizig gaben, wenn man ihnen den realen Satz des Arbeitslosengeldes für den Vignetten-Haushalt beifügte. Das spräche für eine andere Erklärung: Die Befragten scheinen sich darin einig, dass große Haushalte auch zu Einsparungen führen könnten.«

Wir können an dieser Stelle nur spekulieren. Offensichtlich gibt es so etwas wie eine „moralische Ökonomie“ mit Blick auf die als angemessen empfundenen Sozialleistungen. Zumindest die Bedarfsgemeinschaften mit mehreren Personen, also in aller Regel mehreren Kindern, können in diesem Fall froh sein, dass der Gesetzgeber und nicht „Volkes Stimme“ die Höhe der Leistungen festgelegt hat.

„Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Flüchtlinge, Jobcenter und der Arbeitsmarkt

Nach Ansicht der Ökonomen wird 2016 die lange Phase sinkender Erwerbslosigkeit enden. Das liegt vor allem an den hohen Flüchtlingszahlen, so Stefan Sauer in seinem Artikel mit der harten Überschrift Konkurrenz um Billigjobs nimmt wegen Flüchtlingen zu. Der erwartete Anstieg resultiert vor allem aus den vielen Flüchtlingen, die meist ohne Sprachkenntnisse und kaum kompatibler Berufsausbildung zunächst in der Arbeitslosigkeit landen. Höchstens zehn Prozent der anerkannten Asylbewerber im Erwerbsalter werden in kurzer Zeit eine Stelle finden,  prognostizieren Arbeitsmarktexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Instituts  für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), so Sauer. Daran anknüpfend hat sich eine – typische – Ökonomen-Debatte entwickelt, die vor allem von Befürwortern einer neuen Deregulierungswelle vorangetrieben wird: »Ihr Kernargument lautet: Nur wenn gesetzliche Hürden abgebaut werden, haben Flüchtlinge Aussichten auf baldige Einstellung.« Da verwundert es nicht, dass in diesem Kontext sogleich eine der letzten Regulierungsschritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt – also die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 – teilweise bzw. auch ganz wieder zur Disposition gestellt wird.

Der Deutsche Landkreistag regte unlängst an, in den ersten drei Monaten nach der Anstellung sollten Firmen Flüchtlinge weniger als die gesetzlich vorgeschrieben 8,50 Euro pro Stunde zahlen dürfen (vgl. Landkreistag fordert zeitlich begrenzte Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge). Der Wirtschaftsrat der CDU sprach sich ebenfalls für befristete Ausnahmen beim Mindestlohn aus. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) plädiert dafür, den Mindestlohn in Einstiegs- und Qualifizierungsphasen auszusetzen (vgl. Haseloff fordert Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge).

Am konsequentesten argumentiert mal wieder Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut in München. Schon am 14. September ließ er uns wissen: Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit. Er bleibt in der klassischen Denkweise, die schon im Vorfeld des Mindestlohngesetzes dazu geführt hat, dass er und sein Institut vehement gegen den gesetzlichen Mindestlohn argumentiert haben. Man bewegt sich im idealtypischen Modell von Angebot und Nachfrage, die durch den Preisbildungsmechanismus schon zum Ausgleich gebracht werden. Und wenn wir nach dieser Logik mit einem (Arbeits)Angebotsüberschuss an schlecht bis gar nicht qualifizierten Flüchtlingen konfrontiert sind, dann muss man eben deren Preis absenken, um die Nachfrage nach ihnen zu erhöhen. Im Original liest sich das dann so:

»Auch wenn die Produktivität vieler Asylsuchender wegen der Sprachprobleme und der eher schlechten Ausbildung vorläufig noch gering ist, ist sie doch keineswegs null … Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Dass der Arbeitsmarkt eben nicht so einfach tickt, wie es sich die Anhänger dieses – nun ja – vulgärokonomischen Modells zu denken scheinen, soll hier gar nicht diskutiert werden. Aber an einem Punkt muss man Sinn durchaus zustimmen, wenn man sich auf seine Logik einlässt: Er argumentiert in neueren Veröffentlichungen, z.B. im Handelsblatt vom 20. Oktober 2015, dass es keinen Sinn macht, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge abzusenken, denn dann würde eine neue Verzerrung zuungunsten der Nicht-Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einstellungsentscheidungen produziert werden.

»Die billigeren ausländischen Arbeitskräfte würden einheimische Arbeitnehmer, die weiterhin mit 8,50 Euro zu entlohnen wären, allzu häufig in die Arbeitslosigkeit verdrängen. Die Gesamtbeschäftigung im Segment der Niedrigqualifizierten bliebe weiterhin durch den zu hohen Mindestlohn fixiert«, schreiben Michele Battisti und Gabriel Felbermayr in ihrem die Position von Sinn stützenden Artikel Migranten im deutschen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitslosigkeit, Erwerbsquoten (S. 46).

Also muss der Mindestlohn für alle weg. Wenn schon, denn schon.

Offensichtlich bewegen wir uns hier auf verminten Gelände. Die nächste Welle der Deregulierung steht bevor, so haben Christoph Deutschmann und Roland Springer ihren Artikel dazu überschrieben. Obgleich die beiden sehr skeptisch sind, was die Erwartungen der Arbeitsmarktintegrationsoptimisten angeht – sie gehen davon aus, dass »der gegenwärtige (und der politisch gewollte künftige) Bevölkerungszustrom eine Situation (schaffen wird), in der ein begrenztes Angebot an Arbeitsplätzen im niedrig qualifizierten Industrie- und Dienstleistungssektor auf eine stark zunehmende Nachfrage stößt. Selbst prekäre Jobs und Ausbildungsplätze werden wie nie zuvor gefragt sein, weil viele Migranten alles tun werden, um einen Fuß in die Tür des deutschen Arbeitsmarktes zu bekommen. Die Konkurrenz zwischen Einheimischen – inklusive der hier ansässigen Migranten, die viele Randarbeitsplätze ja schon besetzen – und Zuwanderern wird sich dann fühlbar verschärfen, nicht nur am Arbeits-, sondern auch am Wohnungsmarkt.«
Darüber hinaus:

»Für Arbeitgeber ergibt sich daraus eine Traumkonstellation: Nicht nur ist oft mit einer im Vergleich zu den Einheimischen höheren Leistungsbereitschaft vieler Migranten zu rechnen, wie auch die Erfahrungen in älteren Einwanderungsländern lehren. Auch die Löhne werden sinken und der Mindestlohn als Vorzeigeprojekt der SPD könnte bald zur Disposition stehen, wenn es um die Frage geht, ob 8,50 € Stundenlohn nicht die Beschäftigung von Flüchtlingen behindern.«

Bei einer solchen Konfiguration macht es natürlich gar keinen Sinn, wenn man die Abschaffung des Mindestlohns nur auf die Flüchtlinge begrenzen würde, denn zum einen würde dies deren „Wettbewerbsvorteil“ beispielsweise gegenüber einheimischen Langzeitarbeitslosen durch die Bereitschaft, (fast) alles zu tun, nochmals potenzieren und zum anderen würde das Sinn’sche Ziel, durch eine generelle Abschaffung der staatlich gesetzten Lohnuntergrenze die Arbeitsnachfrage im Niedrigstlohnbereich auszudehnen, nicht erreicht werden können.

Nun kann man ja den ganzen Ansatz von Sinn & Co. durchaus kritisch sehen. So auch der Arbeitsmarktforscher Karl Brenke vom DIW, den Stefan Sauer in seinem Artikel so zu Wort kommen lässt:

„Kein Gastwirt wird die Geschirrspülmaschine abschaffen, um Flüchtlinge als Tellerwäscher einzustellen, nur weil er für sie den Mindestlohn nicht zahlen müsste.“  Zum zweiten seien die massenhaften Jobverluste, die etwa Ifo-Chef Sinn vor Einführung des Mindestlohns vorausgesagt hatte, ausgeblieben.  „Daraus lässt sich ableiten, dass umgekehrt auch ein Aussetzen des Mindestlohns keine großen Effekte haben wird und also keine zusätzlichen Jobs entstehen.“

Und wie sieht es derzeit wirklich aus, soweit man das angesichts der in mehrfacher Hinsicht unklaren Gefechtslage überhaupt genau beschreiben kann? Das IAB der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht regelmäßig einen Zuwanderungsmonitor, der einen Zahleneindruck vermitteln kann. Die Oktober-Ausgabe ist zusammengefasst in dem Artikel Flüchtlinge haben schlechte Jobchancen. Daraus einige interessante Punkte:
Das IAB rechnet für dieses Jahr mit 324.000 Asylbewerbern im erwerbsfähigen Alter, im Jahr 2016 mit 610.000. Die Forscher unterstellen dabei für beide Jahre einen Zustrom von jeweils einer Million Flüchtlingen. Für 2016 geht das IAB von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 130.000 aus – man muss wohl anfügen: der registrierten Arbeitslosigkeit, der Hartz IV-Bezug wird deutlich größer ausfallen.

»IAB-Untersuchungen haben ergeben, dass im ersten Jahr im Schnitt lediglich acht Prozent der 15 bis 64 Jahre alten Flüchtlinge in Deutschland eine Arbeit gefunden haben. Und selbst nach fünf Jahren hatte nur jeder zweite Flüchtling einen Job, nach zehn Jahren waren es 60 Prozent und nach 15 Jahren knapp 70 Prozent. Immerhin, so betonen die Arbeitsmarktforscher, haben Flüchtlinge langfristig ähnlich gute Jobchancen in Deutschland wie Inländer – wenn sie nur ausreichend lang in Deutschland leben.«

Auch die Beschäftigungssegmente, in denen sich die Flüchtlinge konzentrieren, sind nicht überraschend:

»Branchenbezogenen unterscheiden sich die Beschäftigungschancen von Migranten aus Kriegs- und Krisenländern deutlich von denen der übrigen Beschäftigten. Jeder vierte Flüchtling aus einem Krisenland stammende Beschäftigte arbeitet in Hotels und der Gastronomie. Jeder fünfte ist als Lagerist, Fahrer oder im Handel beschäftigt. Auch einfachere Tätigkeiten etwa als Gebäudereiniger oder Wachmann werden im Vergleich zu deutschen Beschäftigten weitaus häufiger von Flüchtlingen ausgeübt.«

Die vergleichsweise geringe Qualifikation, aber auch die Sprachprobleme vieler Flüchtlinge wird dafür verantwortlich gemacht. Auch von dieser Seite muss man also skeptisch an die Frage herangehen, ob eine nennenswerte Arbeitsmarktintegration zu nicht massiv verzerrenden Bedingungen schnell möglich sein wird. Das wird dauern. Und nur anteilig gelingen, wenn das zentrale Nadelöhr – also die Sprachkenntnisse – so schnell und intensiv wie möglich angegangen wird und daran anschließend möglichst viele gerade der jungen Flüchtlinge in eine ordentliche Ausbildung gebracht werden. Das aber wird zusammengenommen gut und gerne mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Denn auch die von manchen Beschleunigern in die Diskussion geworfenen Kurzzeit-Ausbildungen müssen als Irrweg betrachtet werden (vgl. dazu den Artikel „Sie hätten auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance“ von Florian Diekmann über Kurzausbildungen für Flüchtlinge).

Und wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass viele der Flüchtlinge im kommenden Jahr in großer Zahl im Hartz IV-System und damit in den Jobcentern, aufschlagen werden. Hierzu ein aufschlussreiches Interview mit Thomas Lenz, dem Vorstandsvorsitzenden des Jobcenters Wuppertal: „Sie sind alle hochmotiviert“. Das Gespräch verdeutlicht auch, was an zusätzlichen Belastungen auf die Jobcenter – die ja schon bislang enorm unter Druck waren und sind – zukommen wird. Auf die Frage, um wie viele Menschen es in Wuppertal geht, antwortet Lenz:

»Rund 900 so genannte geduldete Personen, deren Asylantrag bereits abgelehnt worden ist, die aber aus humanitären Gründen bleiben dürfen. Dazu kommen monatlich zwischen 200 und 400 anerkannte Asylbewerber, die meisten von ihnen sind Syrer. Im Oktober 2014 waren bei uns 460 Syrer registriert, jetzt sind es 1.448 alleine aus dieser Personengruppe und die Zahl wird weiter ansteigen. Denn wer anerkannt ist, darf seine Familie nachholen. Wir laufen uns gerade erst warm, denn wenn das Asylverfahren beschleunigt wird, kommen pro Jahr 2.000 bis 4.000 dazu.«

Damit einher geht eine enorme Verschiebung dessen, womit sich die Jobcenter auseinandersetzen müssen: Früher »kamen vielleicht eine Handvoll Menschen, die aber meist schon lange in Deutschland lebten, die Sprache beherrschten und in einem sozialen Umfeld eingebunden waren. Heute sind es traumatisierte Menschen, die zum Teil schreckliche Erfahrungen auf der Flucht gemacht haben, die Angst um ihre Familien haben, mit denen wir uns kaum verständigen können, trotz Dolmetscher, da viele nur bestimmte Dialekte beherrschen.«

Was das für die Arbeitsmarktpolitik bedeutet bzw. bedeuten müsste, kann man der folgenden Aussage entnehmen: Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Qualifikation der neuen „Kunden“ der Jobcenter berichtet Lenz:

»… klar gibt es den syrischen Architekten oder die Ärztin, aber das ist die Ausnahme. Viele Flüchtlinge sind noch sehr jung. Diese Menschen haben die letzten Jahre unter Kriegsbedingungen gelebt, in Syrien gibt es kein funktionierendes Ausbildungs- oder Schulsystem mehr. Wer einen Abschluss oder einen Beruf erlernt hat, dem fehlen die Nachweise, die auf der Flucht verloren gegangen sind. Diese Klientel ist nicht nach einem Bewerbungstraining fit für den Arbeitsmarkt, dafür brauchen wir langfristige Maßnahmen und Sprachkurse.«

Das ist der Punkt und Lenz wird hier deutlich, als er nach geplanten Qualifizierungsmaßnahmen gefragt wird: „Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Und weiter: »Bei den Weiterbildungsmaßnahmen bauen wir Sprachmodule ein, wir wollen diese Menschen nicht parken, bis sie einen Platz in einem Sprachkurs finden.« Auf die naheliegende Frage, warum denn das Jobcenter nicht selbst das Nadelöhr Sprachkenntnisse mit Sprachkursen angeht, bekommt man eine Antwort, die wieder einmal verdeutlicht, was sich endlich ändern muss: »Wir dürfen es nicht. Bisher sieht man den klassischen Arbeitslosen als einen Menschen an, der vorübergehen seinen Job verloren hat. Mit einigen Qualifizierungsmaßnahmen sollen wir ihn wieder fit für den ersten Arbeitsmarkt machen. Das funktioniert jedoch in vielen Fällen nicht.«

So ist das. Bleibt noch anzumerken: Obwohl wir wissen, dass im kommenden Jahr mehrere hunderttausend Flüchtlinge im Hartz IV-System aufschlagen werden, wissen die Jobcenter, von denen bereits heute bei vielen Land unter ist, noch nicht einmal, wie viel Geld und Personal im kommenden Jahr zur Verfügung stehen wird. Es gibt eine Menge Baustellen, auf denen man schon längst was tun könnte und müsste. Irgendwie erinnert einen das an viele Baustellen auf unseren Autobahnen, so bitter das klingen mag.