Und wieder einmal grüßt täglich das Murmeltier: Hartz IV und die Wohnungsfrage

In wenigen Tagen, zum Jahresanfang 2016, wird „Hartz IV“ erhöht – bei einer alleinstehenden Person von derzeit noch 399 Euro um fünf Euro auf 404 Euro. Aber damit ist nur ein Teil dessen gemeint, was unter „Hartz IV-Leistungen“ zu subsumieren ist. Der Betrag in der genannten Höhe ist der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ nach § 20 SGB II, daneben gibt es für bestimmte Fallkonstellationen noch einige wenige Mehrbedarfe (z.B. für Alleinerziehende) und als weiterer großer Leistungsbereich neben dem Regelsatz gibt es dann noch die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung. Der § 22 SGB II präzisiert bzw. begrenzt den letzten Punkt: „Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.“ Und da fängt der Ärger an, denn es handelt sich bei der Formulierung „angemessen“ um einen der im Sozialrecht weit verbreiteten unbestimmten Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Infragestellung Lohn und Brot für einen ganzen Zweig der Juristerei sicherzustellen vermag. Aber für die Betroffenen hat das alles ganz handfeste Konsequenzen: »Sparen auf Kosten der Ärmsten: Im vergangenen Jahr versagten Jobcenter Bedürftigen fast 800 Millionen Euro Sozialleistungen. 620 Millionen davon entfielen auf nicht anerkannte Wohnkosten. Im Schnitt musste damit jede der 3,26 Millionen »Bedarfsgemeinschaften«, also Familien, die Hartz IV beziehen, 200 Euro Miete aus dem Regelsatz zuzahlen«, so Christina Müller in ihrem Artikel Zu wenig zum Leben

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Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt

Eigentlich müsste man, aber … Das Muster kennt man von vielen sozialpolitischen Baustellen. Vor wenigen Tagen wurde hier berichtet: Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden. Da ging es um die Tatsache, dass eigentlich eine Neuberechnung der Hartz IV-Leistungen erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass die neuen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 mittlerweile vorliegen und die bisherigen Leistungen noch auf der Datengrundlage der EVS 2008 bemessen worden sind, so dass eine Anpassung erfolgen müsste, wenn der Gesetzgeber seine eigene Vorschrift im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“ umsetzen würde. Will er auch, aber eben nicht so schnell: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können die Hartz IV-Empfänger erst Anfang 2017 rechnen, denn – so das Bundesarbeitsministerium –  zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben. Bloß nichts überstürzen. Das an sich ist schon mehr als kritikwürdig.

Nunmehr erreicht uns eine weitere Hiobsbotschaft für die eigentlich erforderliche sorgfältige Systematik bei der Bestimmung der Leistungen, mit denen immerhin das „soziokulturelle Existenzminimum“ abgesichert werden soll: Nahles wegen Hartz-IV-Berechnung in der Kritik, so beispielsweise Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles lässt die Hartz-IV-Sätze nach einem Modell berechnen, dass schon Vorgängerin Ursula von der Leyen verwendete. Diese Berechnungsmethode hatte Nahles vor Jahren heftig kritisiert. Neben der Tatsache, dass wir wieder einmal Zeuge werden müssen, dass das Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ offensichtlich eine Konstante im politischen Geschäft ist, geht es hier um das „Eingemachte“ im Grundsicherungssystem.

Zum besseren Verständnis muss man etwas zurückblicken. Dazu Thomas Öchsner in seinem Artikel: Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. »Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles, damals in der Opposition, war ebenfalls empört. Von der Leyen, sagte die SPD-Politikerin, habe die Hartz-IV-Sätze „künstlich heruntergerechnet“. Nun muss Nahles selbst neu rechnen lassen – und orientiert sich dabei an den von ihr heftig kritisierten Vorgaben der Vorgängerin.« Worum geht es genau?

Bei der Berechnung kommt es entscheidend darauf an, welche Vergleichsgruppe der nach Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte herangezogen wird.

»Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln . Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte.«

Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig, aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen (vgl. dazu grundsätzlich die Studie vor Irene Becker, Verdeckte Armut in Deutschland. Ausmaß und Ursachen, aus dem Jahr 2007). Immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht.

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag, aus der Öchsner zitiert, »kündigt das Arbeitsministerium nun an, es bei der Referenzgruppe für Alleinlebende bei den „unteren 15 Prozent“ zu belassen. Auch werde man daraus nur Haushalte herausrechnen, „die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen“. Die Aufstocker bleiben also drin, genauso wie die verdeckt Armen.«

Schon 2010 hätte der Regelsatz im Hartz IV-System um mindestens 30 Euro höher liegen müssen, wenn man der eigentlich gebotenen Berechnungslogik gefolgt wäre.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, verlangt von Nahles, „zu einer seriösen Herleitung der Regelsätze zurückzukehren“. Auch der Caritasverband spricht sich dafür aus, wieder die unteren 20 Prozent der Haushalte heranzuziehen und sich nicht von fiskalischen „Überlegungen zur Ausgabenbegrenzung“ leiten zu lassen.

Aber daraus wird – jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Dinge – nichts. Es wird wieder ein zu geringer Betrag herauskommen und das dann auch noch aufgrund der bereits erwähnten Verschiebetaktik viel zu spät.

Wir reden hier bekanntlich nicht von üppigen Beträgen, ganz im Gegenteil, es gibt zahlreiche Kritiker, die die gegebene Höhe des Hartz IV-Regelsatzes – also bei alleinstehenden Personen derzeit noch 399 Euro, ab dem neuen Jahre dann fünf Euro mehr – für eindeutig zu niedrig klassifizieren. Vgl. dazu beispielsweise Irene Becker, Bedarfsbemessung bei Hartz IV. Zur Ableitung von Regelleistungen auf der Basis des „Hartz-IV-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts, eine Expertise aus dem Jahr 2010, aus diesem Jahr auch Anne Lenze, Regelleistung und gesellschaftliche Teilhabe, sowie den Artikel Die Kosten für ein menschenwürdiges Leben.

»Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab«, so Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum aus dem Januar 2015. Bis in die 1980er Jahre wurde das Existenzminimum nach der „Warenkorb“-Methode ermittelt. Der Warenkorb geriet in Verruf – auch weil er zwischen 1976 und 1986 einfach mal zehn Jahre nicht aktualisiert wurde. Aber die neue, heute gängige Methode hat offensichtlich auch ihre Tücken.

Gewissermaßen an der alten Methode setzen Fundamental-Kritiker der gegenwärtigen Bestimmung der Regelleistungen im Hartz IV-System an – und sie bilden damit das obere Ende des Antwortspektrums ab, wie hoch denn der Regelsatz sein müsste/sollte. Diese Frage wird sicher unweigerlich von vielen aufgerufen werden. So wird derzeit beispielsweise aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände statt der 399 Euro pro Monat ein Regelsatz von 485 Euro gefordert. Aus der Perspektive der Fundamental-Kritiker ist auch das noch viel zu wenig.
Erst 730 Euro Hartz-IV-Satz decken das soziokulturelle Existenzminimum, so ist ein Interview mit einem ausgewiesenen Vertreter dieser Richtung überschrieben: Lutz Hausstein.
Der versucht schon seit Jahren eine ganz eigene Art der Ermittlung dessen, was die Menschen bräuchten. Die neuste Ausgabe seiner Berechnungen:

Lutz Haustein: Was der Mensch braucht. Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten. Stand: Mai 2015

Was kritisiert Hausstein?

»Viele Menschen können sich unter den Bedingungen von Hartz IV auch einfachste Selbstverständlichkeiten nicht mehr leisten, weil sie zu wenig Geld zur Verfügung haben.
350.000 Haushalten wurde 2013 etwa der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten. Und 1,5 Millionen Menschen müssen jede Woche den für sie demütigenden Weg zu einer Lebensmitteltafel antreten, weil ihr Geld nicht fürs Essen reicht.«

Ihn bewegen die vielen demütigenden Umstände, viele zwangsweise Verzichte auf einfache Dinge, die für jeden anderen in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sind. Und dann geht es gegen die amtliche Berechnungsmethodik. Sein zentraler Ansatzpunkt dagegen:

»Immer wieder wird durch Politiker gegenüber der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, dass damit der Bedarf ermittelt würde. Doch eben dies ist überhaupt nicht Inhalt der Statistik-Methode auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), … Mithilfe der … Statistikmethode wird nur das Ausgabeverhalten eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils ermittelt, der aufgrund seines eigenen, sehr niedrigen Einkommens auch nur wenig Geld zur Verfügung hat. Mit einer Bedarfs- Ermittlung hat dies jedoch nichts zu tun.«

Und er bringt seine Kritik an diesem methodischen Ansatz mit einem Bild auf den Punkt:

»Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zurecht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.«

Hausstein outet sich als Anhänger der Warenkorb-Methode: »Die benutzte Aufstellung eines Warenkorbs ist ja nun keineswegs eine Erfindung von mir. Denn von 1955 bis 1990 wurden schon mithilfe des Warenkorbmodels soziale Sicherungsleistungen berechnet.«

Um seine eigene, subjektive Wahrnehmung zu reduzieren, wurde jede einzelne Bedarfsposition in seiner Studie zudem von mehreren, unabhängigen Personen auf Plausibilität überprüft, um somit am Ende zu größtmöglicher Objektivität zu gelangen.
Das Ergebnis seiner Berechnungen:

»Um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen mit einem Minimum an Lebensstandard leben zu können, werden rund 730 Euro monatlich benötigt. Zuzüglich der regional erheblich differierenden Wohnkosten.
Der aktuell gültige Betrag von 399 Euro hingegen reicht gerade einmal knapp dafür aus, die grundlegenden, physischen Lebensbedürfnisse abzudecken. Eine soziokulturelle Teilhabe ist damit jedoch keinesfalls möglich oder muss durch einen Verzicht physischer Notwendigkeiten schmerzhaft „gegenfinanziert“ werden.«

Nun haben wir also – ausgehend von en derzeit 399 Euro Regelsatz – das Spektrum dessen aufgemacht, dass von den Kritikern als erstrebenswert ausweisen wird: Es bewegt sich zwischen 485 Euro und 790 Euro, wohlgemerkt: Zuzüglich der zu übernehmenden angemessenen Wohnkosten.

Womit wir übrigens bei einer weiteren Problembaustelle des Grundsicherungssystem angekommen wären, die hier zumindest erwähnt werden soll: Die („angemessenen“) Kosten der Unterkunft, die übernommen werden müssen. Die Frage der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten ist ein leidiges Streitthema und Gegenstand vieler sozialgerichtlicher Verfahren. Denn viele Jobcenter weigern sich, bestimmte Miethöhen voll zu übernehmen und verweisen auf die Nicht-Angemessenheit. Mit gravierenden Folgen: Hartz-IV-Empfänger zahlen bei Miete mit, so hat Stefan Vetter seinen Artikel in der Saarbrücker Zeitung überschrieben. Das Problem: »399 Euro bekommt ein Hartz-IV-Empfänger, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch oft müssen sie davon auch einen Anteil an ihren Mietkosten zahlen.« Damit verschärft sich natürlich das bereits verhandelte Grundproblem, dass die 399 Euro an sich schon zu niedrig angesetzt sind. Jetzt wird davon also noch was abgezogen für einen anderen Bereich. Und es handelt sich hier nicht um Peanuts: »Nach einer Datenübersicht der Bundesagentur für Arbeit … mussten die Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr rund 620 Millionen Euro aus ihren Regelleistungen für die Unterbringung beisteuern … Den Daten zufolge fehlen einem Hartz-IV-Haushalt damit im Schnitt rund 16,50 Euro im Monat beziehungsweise 197 Euro im Jahr für anderweitige Ausgaben.«

Durch  zu niedrige Angemessenheitsgrenzen spart der Staat auf Kosten der Betroffenen, die sich zum Beispiel beim Essen oder ihrer Mobilität einschränken müssen, um das gegenfinanzieren zu können.
Und auch in einem anderen Bereich haben die Grundsicherungsempfänger echte Probleme – bei den Stromkosten von Hartz-IV-Haushalten, die, anders als Miete und Heizkosten, nicht als sogenannte Kosten der Unterkunft gesondert gezahlt werden. »Bislang ist der Stromverbrauch Teil des Regelsatzes, aus dem auch Essen und Kleidung bezahlt werden muss. Aufgrund der gestiegenen Preise gilt als sicher, dass der im Hartz-IV-Satz eingerechnete Anteil für Strom längst nicht mehr ausreicht und die Stromrechnung zulasten anderer Ausgabenpositionen geht«, so Axel Fick in seinem Artikel Neue Hartz-IV-Sätze erst Ende 2016.

Bleibt natürlich die Frage, warum der Gesetzgeber so einen Widerstand und so eine Verzögerungstaktik an den Tag legt, wenn es um eine systematisch eigentlich gebotene Anpassung der Regelleistungen nach oben geht. Die nicht wirklich überraschende Antwort lautet natürlich: wegen der Kosten, die damit verbunden sind. Und das in mehrfacher Hinsicht.

  • Die Höhe der Regelleistungen im Grundsicherungssystem hat Auswirkungen auf den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht, der sich daran orientiert – und jede Anhebung führt zu milliardenschweren Steuerausfällen. Das ist eine der wichtigsten Bremsen innerhalb des gegebenen Systems.
  • Eine Anhebung hätte natürlich entsprechende Auswirkungen in der Grundsicherung für Ältere nach dem SGB XII. Angesichts der stark steigenden Altersarmut würden damit die aufstockenden Leistungen entsprechend ansteigen müssen.
  • Eine mögliche Anhebung hätte natürlich auch Folgen für den „Lohnabstand“ bei den unteren Einkommensgruppen, der entsprechend verkleinert würde mit der unmittelbaren Folge, dass die Zahl der Aufstocker bei den Niedrigeinkommensbeziehern steigen würde.
  • Und insgesamt ist mit der Frage der konkreten Leistungshöhe aus Sicht der verantwortlichen Politiker natürlich auch immer verbunden die Frage der gesellschaftlichen Legitimation – einmal gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern diese Leistungen finanzieren müssen, zugleich aber auch hinsichtlich der Signalfunktion an die Leistungsempfänger, sich nicht in dem Sicherungssystem einzurichten, sondern auch bereit zu sein, schlecht bezahlte Erwerbsarbeit aufzunehmen.

Wenn man diese Aspekte aufaddiert, dann wird verständlich, warum es so massive Widerstände gegen eine an sich gebotenen Anhebung der Leistungen gibt. Das ändert aber gar nichts an der Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion über die Angemessenheit der Grundsicherungsleistungen.

Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort

Da kann man aber auch durcheinander kommen. Noch im September dieses Jahres wurde mit teilweise sehr hemdsärmeligen Überschriften wie Jobsuchende EU-Bürger haben kein Recht auf Sozialhilfe oder Deutschland darf EU-Zuwanderern Sozialhilfe verweigern oder Deutschland darf EU-Zuwanderer von Hartz IV ausschließen über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) berichtet (es ging um das  Urteil in der Rechtssache C-67/14 Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic vom 15.09.2015).

Und heute wird über mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) berichtet, die den einen oder anderen wieder verwirren werden: EU-Ausländer haben Anspruch auf Sozialhilfe, meldet die Online-Ausgabe der FAZ dazu. Ja was denn nun? Haben sie nun Anspruch oder nicht? Wie immer, wenn es um Rechtsfragen geht, muss die Antwort a) wohlüberlegt, b) so kompliziert wie nötig und c) differenziert ausfallen – man könnte den letzten Punkt auch unter dem Motto „Es kommt darauf an“ subsumieren. Das BSG selbst versucht uns schon mit der kompakt daherkommenden Überschrift der Pressmitteilung aus dem hohen Haus auf die richtige Interpretationsspur zu setzen: Ausschluss von SGB II-Leistungen für Unionsbürger – Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung. Damit gelingt der Hinweis auf ein tatsächlich tiefsinnig angelegtes Urteil in einer komplexen Frage.

Um den Gehalt der heutigen Entscheidungen wirklich einordnen zu können, muss man einen kurzen Blick zurück werfen. Dann wird klar, was da heute verkündet wurde:

1. Im Jahr 2014 hat sich der EuGH mit dem Fall Dano beschäftigt. Vgl. dazu den Blog-Beitrag Aufatmen bei vielen verbunden mit der Gefahr einer Überbewertung. Der Europäische Gerichtshof und seine Entscheidungen. Diesmal hat man sich einer jungen Rumänin in Leipzig angenommen vom  11. November 2014. Der Schlüsselsatz der damaligen EuGH-Entscheidung lautete: „Nicht erwerbstätige Unionsbürger, die sich allein mit dem Ziel, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, können von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden“ (Urteil in der Rechtssache C-333/13 Elisabeta Dano, Florin Dano / Jobcenter Leipzig). Die Besonderheit beim Fall Dano: Es ging um die 25-jährige Rumänin Elisabeta Dano, die mit ihrem fünfjährigen Sohn bei ihrer Schwester in Leipzig wohnt. Die junge Frau lebt bereits seit 2010 in Deutschland, ernsthaft nach Arbeit gesucht hat sie aber wohl nie. Das Jobcenter in Leipzig hat deshalb ihren Antrag auf Hartz IV abgelehnt. Dano wollte das nicht hinnehmen und klagte. Aber auch das Leipziger Sozialgericht stufte Dano als nicht arbeitssuchend ein. Man muss vor diesem Hintergrund darauf hinweisen, dass es um einen Fall ging, in dem die Klägerin offensichtlich eine bestimmte Sozialleistung beziehen möchte, ohne die als Anspruchsvoraussetzung definierte Arbeitssuche erfüllen zu wollen. Von daher war die Entscheidung des EuGH klar und nachvollziehbar.

2. In diesem Jahr musste sich das EuGH erneut mit dem Themenfeld befassen, allerdings hinsichtlich einer anderen Fallkonstellation – der Fall Alimanovic. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger vom 15. September 2015. Der Fall war dem EuGH vom deutschen BSG höchstselbst zur Entscheidung vorgelegt worden. Das BSG wollte wissen, ob ein Ausschluss von Leistungen wie im Fall Dano auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben. Hinzu kommt: Der Fall Alimanovic  fällt genau in eine – nun ja – eigenartige Regelungszone, die man nachvollziehen kann, wenn man sich eine einfache Zahlenfolge merkt: 3-6-12. Anders ausgedrückt: In den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland erhalten EU-Ausländer keine Sozialleistungen – das ist die 3. Grundsätzlich gelten aber für sie die gleichen Regelungen wie für Deutsche – sofern sie mindestens ein Jahr in der Bundesrepublik gearbeitet haben – das ist die 12. Fehlt noch die 6, die sich so erklären lässt: Beträgt die Zeit der Arbeit in Deutschland weniger als 12 Monate, dann entfällt nach sechs Monaten der Anspruch auf Sozialleistungen – das ist die 6. Dann nämlich gilt ein EU-Ausländer prinzipiell nur als arbeitsuchend. Nach deutschem Recht hat bislang kein EU-Ausländer Recht auf Hartz IV, wenn er in Deutschland nach Arbeit sucht. Alles klar? Und was hat nun der EuGH geurteilt? Von deutscher Seite gab es schlimme Befürchtungen im Vorfeld des Urteils, denn der Generalanwalt – dem das Gericht in den meisten Fällen folgt – hatte sich in seinem Plädoyer für ein Einzelfallprüfung ausgesprochen, es sollte also in jedem Fall individuell geprüft werden, wie es mit der tatsächlichen „Verbindung zum Aufnahmemitgliedsstaat“ aussieht. Das wäre natürlich für die Jobcenter der administrative Super-Gau. Aber der EuGH war an dieser Stelle anderer Auffassung: Die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, bestimmte „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ zu gewähren, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ darstellen, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Für das Zeitfenster einer Arbeit von weniger als zwölf Monaten entschied das Gericht, dass der Aufnahmemitgliedstaat jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf. Diese Entscheidung ist bei denen einen sicher mit Erleichterung aufgenommen worden, in der Fachdiskussion gab es aber nachfolgend durchaus auch sehr kritische Bewertungen – vgl. stellvertretend dafür den Blog-Beitrag Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic von Anuscheh Farahat, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg sowie die detailreiche Besprechung der EuGH-Entscheidung in dem Artikel Deutsch­land darf mittel­lose EU-Bürger von Sozial­hilfe ausschließen von Constanze Janda.

Jetzt nähern wir uns endlich den heutigen Entscheidungen des BSG. Zum besseren Verständnis dessen, von dem wir regelungstechnisch auszugehen haben, hier noch mal eine Formulierung der bereits erläuterten 3-6-12-Logik:

1. eine Drei-Monats-Frist: In den ersten drei Monaten nach der Einreise müssen die Staaten keine Sozialleistungen zahlen;
2. eine Sechs-Monats-Frist für die Fälle, wo jemand im Einreiseland weniger als zwölf Monate gearbeitet hat, also er oder sie bekommt sechs Monate lang Sozialleistungen, danach aber nicht mehr, wenn bis dahin keine neue Arbeit gefunden wurde, ohne dass er oder sie deswegen ausgewiesen werden darf, sowie
3. eine 12-Monats-Frist, die zu einer weitgehenden Gleichstellung mit den Inländern führt, wenn man länger als ein Jahr ohne Unterbrechungen hier gearbeitet hat.

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat heute in drei Urteilen unter Berücksichtigung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konkretisiert, in welchen Fallgestaltungen Unionsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde Leistungen nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehungsweise dem Sozialhilferecht (SGB XII) beanspruchen können. Das BSG weist darauf hin, dass die Entscheidungen im Anschluss an das EuGH-Urteil vom 15. September 2015 (Rs C-67/14 „Alimanovic“) zu sehen sind.

Es ging konkret um drei Fallkonstellation, die in der Terminvorschau 54/15 des BSG genauer dargestellt sind:

Ein griechischer Staatsbürger, der nach einer kurzen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Ende 2011/Anfang 2012 SGB-II-Leistungen auch für die Zeit ab Februar 2013 begehrt. Eine bereits 2008 nach Deutschland zugezogene Familie rumänischer Staatsangehörigkeit. Und drittens erneut der Fall Alimanovic, eine seit langem im Bundesgebiet lebende Mutter mit drei Kindern schwedischer Staatsangehörigkeit.

Und was ist die Quintessenz der heutigen Entscheidungen des BSG? Der kurze Bericht darüber mit der Überschrift BSG: Ausschluss von SGB-II-Leistungen für EU-Bürger – Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung bringt es gut auf den Punkt: SGB II zwar nein, SGB XII aber sehr wohl.

Im Fall des griechischen Staatsangehörigen sind SGB II-Leistungen ausgeschlossen, nicht jedoch Sozialhilfeleistungen in gesetzlicher Höhe an den Kläger. Für die rumänische Familie gilt zwar auch der Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, aber: Wegen ihres verfestigten Aufenthalts in Deutschland hätten sie jedoch Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe. Der Sozialhilfeträger müsse diese Leistungen erbringen. Und das gleiche Muster im Fall Alimanovic: Keine SGB II-Leistungen, aber: Es sei jedoch noch zu prüfen, ob sich die Kläger auf andere Aufenthaltsrechte im Zusammenhang mit der Ausbildung und Integration der Kinder im Bundesgebiet berufen können. Dann würden die SGB XII-Leistungen greifen.

Fazit: Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«

Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren. Auch nicht unproblematisch ist eine neue Auffächerung des Grundsicherungssystems, denn eigentlich sollen ja alle erwerbsfähigen Menschen über das SGB II-System abgesichert werden. Das SGB XII gilt gerade nicht – im Normalfall – für diese Personen. Nun aber doch, zumindest für eine Teilgruppe der an sich Erwerbsfähigen. Das macht das System nicht wirklich einfacher, ganz im Gegenteil. Aber offensichtlich hat man beim BSG nach einer Bypass-Strategie gesucht mit Blick auf die Absicherung des Existenzminimums angesichts der durch gesetzliche Regelungen wie auch durch die EuGH-Rechtsprechung blockierten SGB II-Lösung, wo die Fälle eigentlich hin gehören. Wir dürfen gespannt sein, welche politischen Diskussionen sich nach diese Entscheidungen des BSG entwickeln werden.

Foto: © Stefan Sell