Von der besonderen Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen am Beispiel der Bauwirtschaft (und darüber hinaus)

Wenn es sie nicht geben würde, man müsste sie erfinden und einführen – die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die unter dem Kürzel SOKA-BAU firmieren. Sie arbeitet heute für rund 77.000 inländische und ausländische Betriebe mit etwa 740.000 Beschäftigten und 380.000 Arbeitnehmern im Ruhestand. Von dieser Einrichtung haben sicher die meisten noch nie was gehört. Zugleich steht sie gleichsam als Beispiel für die Traditionslinie einer Selbstorganisation der Tarifparteien in einer Branche, um praktische Probleme zu lösen. Nur einige wenige Anmerkungen zur Geschichte: »Schon kurz nach 1945 zeichnete sich ab, dass für typische Probleme der Bauwirtschaft wie kurze Beschäftigungszeiten oder regelmäßige Arbeitsausfälle in den Wintermonaten dringend eine Lösung gefunden werden musste. Die Tarifparteien waren sich einig, dass entsprechende Regelungen in Eigenregie – also ohne staatlich verordnete Maßnahmen – auf den Weg gebracht werden sollten. Die Verhandlungen zwischen den zuständigen Arbeitgeberverbänden und der Interessenvertretung der Arbeitnehmer führte zur Gründung der gemeinsamen Einrichtungen ULAK und ZVK.« Diese beiden Kürzel stehen für die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) und die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (ZVK). Beide sind Einrichtungen der Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft, die sich aus dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes zusammensetzen.

»Aufgaben der ULAK sind die Sicherung von Urlaubsansprüchen und die Finanzierung der Berufsausbildung. Die ZVK schafft mit der Rentenbeihilfe einen Ausgleich für strukturbedingte Nachteile bei der Altersversorgung.« So die Selbstbeschreibung der SOKA-BAU. Wichtige sozialpolitische Funktionen, die hier für alle Beschäftigten der Bauwirtschaft sichergestellt werden, in einer Branche, die sich durch eine kleinteilige, zersplitterte Unternehmensstruktur charakterisieren lässt, also mit vielen kleineren und Kleinstbetrieben, die ansonsten diese Leistungen für die Arbeitnehmer nicht erbringen würden oder könnten oder das auch nicht wollten.

Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Branchensystems ist natürlich zum einen, dass die Leistungen alle in der Branche erreichen und zugleich muss auch die Finanzierung über alle gesichert sein. Dafür braucht man die Allgemeinverbindlichkeit des entsprechenden tarifvertraglichen Regelwerks, denn darüber wird das erforderliche Kollektiv hergestellt, da sich ansonsten die nicht-tarifgebundenen Unternehmen, von denen es in der Bauwirtschaft viele gibt, den Regelungen, Leistungen und der Finanzierung entziehen könnten.

Das Bundesarbeitsministerium hat in den Jahren 2008, 2010 und 2014 drei Tarifverträge des Baugewerbes für allgemeinverbindlich erklärt. Eine solche Erklärung führt dazu, dass sich auch all jene Firmen an diese Tarifverträge halten müssen, die sie nicht unterschrieben haben. Die drei Tarifverträge regeln die Sozialkassen des Baugewerbes. Warum das so wichtig ist, erläutert Thomas Öchsner in seinem Artikel Tarifrecht im Baugewerbe – Nahles hilft und will es nicht gewesen sein anhand der Branchen-Besonderheiten auf dem Bau:

»So hat dort jeder zweite Beschäftigte innerhalb von zwölf Monaten mehrere Arbeitgeber. Würde man immer nur den Resturlaub nehmen können, den man jeweils noch hat – nie käme einer etwa auf drei zusammenhängende Wochen Urlaub. Die Sozialkasse (Soka) ermöglicht dies über eine Art Fonds. Eine weitere Besonderheit ist die äußerst geringe Umsatzrendite; sie liegt im Schnitt zwischen einem halben und einem Prozent. Viele Betriebe sparen deshalb, wo sie nur können; die wenigsten bilden aus. Würde die Soka Bau nicht die verbliebenen Ausbildungsbetriebe über ein Umlageverfahren bezuschussen – die Ausbildung in der Branche bräche zusammen.«

Vor diesem Hintergrund wird jedem verständlich, dass es bei den Sozialkassen der Bauwirtschaft um überaus sinnvolle Einrichtungen geht, die den staatlichen Eingriff in die Tarif- und letztendlich Vertragsfreiheit durch die Allgemeinverbindlicherklärung voll rechtfertigt. Und die Anforderungen an die Allgemeinverbindlicherklärung sind hoch, wie das BMAS selbst beschreibt:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien unter bestimmten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklären. Das Recht zur Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) kann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes übertragen werden. Die AVE kann nicht ohne einen zustimmenden Beschluss des Tarifausschusses erklärt werden.

Wo ist nun das Problem für die Bauwirtschaft (gewesen)?

Das wurde im vergangenen Jahr vom Bundesarbeitsgericht auf den Tisch gelegt: Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen – Sozialkassenverfahren des Baugewerbes (AVE VTV 2008 und 2010) – so war eine Pressemitteilung des Gerichts aus dem September 2016 überschrieben, die sich auf den Beschluss des 10. Senats vom 21.9.2016 – 10 ABR 33/15 bezieht. Die Entscheidung war ein schwerer Schlag für die Bauwirtschaft und deren Tarifpartner.

»Die Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 15. Mai 2008 und 25. Juni 2010 sind mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 5 TVG aF unwirksam. Weder hat sich der zuständige Minister bzw. die zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales mit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) befasst noch war die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50%-Quote erreicht.«

Zu dieser Entscheidung schreibt Öchsner in seinem Artikel:

»Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom September lösten daher Entsetzen aus, sowohl bei der IG Bau als auch bei den Arbeitgebern. Sie befürchteten das Ende der Soka Bau, wenn viele Firmen sich nun aus deren Finanzierung zurückziehen könnten – oder gar, noch schlimmer, die Rückzahlung längst gezahlter Beiträge verlangten. Wie kämen in einem solchen Fall künftig 700.000 Bauarbeiter zu bezahltem Urlaub, wie kämen 35.000 Azubis zu ihrer Ausbildung? Die Richter störten sich nicht an der Soka als solcher. Sie fanden jedoch, das Arbeitsministerium habe die Tarifverträge dazu am geltenden Recht vorbei für allgemeinverbindlich erklärt.«

Und was ist passiert? Ein kleines Lehrstück, wie Gesetzgebung auch gehen kann. Ende Oktober waren Gewerkschaften und Arbeitgeber bei der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit dem Ziel, so schnell wie möglich ein neues Recht zu schaffen – was ihnen die Ministerin auch zugesagt hat. Mit einem „harten Schlag“, einer Lösung, die keinen „Schönheitspreis“ gewinnen werde.

Dem folgenden Zitat von Öchsner merkt man die distanzierte Bewunderung für die gewählte Vorgehensweise förmlich an:

»Der „harte Schlag“ ist nun ein Gesetz, das aus 18 Seiten plus 694 Seiten Anhang besteht. Es kopiert quasi alle Tarifverträge, die je zur Soka Bau geschlossen worden waren, in das Gesetz hinein. Es legt sogar fest, dass alle Bestimmungen dieser Tarifverträge „unabhängig davon“ gelten, ob sie einst „wirksam abgeschlossen wurden“. Anders gesagt: Diesem Gesetz ist es völlig egal, ob an den Tarifverträgen womöglich rechtlich etwas auszusetzen wäre. Ihr Inhalt soll jetzt einfach gelten, basta.«

Konkret geht es um das „Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz – SokaSiG)“, das man in der Bundestags-Drucksache 18/10631 vom 16.12.2016. In der Kurzfassung heißt es da: »Durch das Gesetz sollen die Regelungen aller seit 2006 gültigen Sozialkassentarifverträge für verbindlich erklärt werden. Es wird damit die Rechtslage abgebildet, wie sie durch die Tarifvertragsparteien bereits vereinbart und durch das Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.«

Das BMAS hat das Gesetz geschrieben – ins Parlament wurde es jedoch nicht von ihr, sondern von der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion eingebracht. Durch dieses Vorgehen müsse sich nicht zunächst das Kabinett damit befassen, es müsse auch keine Stellungnahme des Bundesrats eingeholt werden – so spare man bis zu acht Wochen Zeit.

Fazit: Es gibt kaum einen vergleichbaren Fall aus der jüngeren Vergangenheit, in dem ein oberstes Gericht so schnell und so brutal ausgehebelt worden ist hinsichtlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Wohlgemerkt – für einen sozialpolitisch absolut guten Zweck. Aber das erklärt auch, warum selbst die Ministerin mit diesem Erfolg in der Öffentlichkeit nicht hausieren gegangen ist.
Ende Januar soll der Bundestag das Gesetz beschließen, im Februar könnte es in Kraft sein.

Wenn auch die wirklich sinnvolle Einrichtung der Bauwirtschaft damit gesichert wird, bleibt am Ende notwendigerweise der Blick auf das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Denn es gibt zwei zentrale Hürden, die das Instrument nehmen muss, bevor man es überhaupt einsetzen kann: Zum einen kann die AVE nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss vollzogen werden – dort aber sitzen die Arbeitgeber, die eine solche Entscheidung blockieren können – und zwar oft auch Arbeitgeberverteter, die nichts mit den Arbeitgebern der Branche zu tun haben müssen, aus der heraus ein Antrag auf AVE gestellt wird und deshalb oft nach anderen Kriterien entscheiden (und blockieren). Und zum anderen die bereits angesprochene 50 Prozent-Quote der tarifgebundenen Arbeitnehmer.

Übrigens – im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013 heißt es dazu unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ (S. 48):

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn alternativ:
• die Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (Sozialkassen) gesichert werden soll,
• die AVE die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
• die Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.«

Schaut man sich die Zahlen zu den neu allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen an, wie sie in der zweiten Abbildung dargestellt sind, dann wird der Sinkflug der vergangenen Jahre erkennbar und auch der scheinbare leichte Anstieg am aktuellen Rand erklärt sich aus den Mindestlöhnen, deren Geltung über die Allgemeinverbindlichkeit bei den Branchen-Mindestlöhnen gewährleistet werden muss.

Dabei wäre die AVE ein ganz zentrales Instrument, um (wieder) mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.

Über den Wolken ist die Freiheit eben nicht grenzenlos. Von tatsächlicher und postulierter Arbeitsunfähigkeit bis zur „Ryanairisierung“ einer Branche

Offensichtlich ist eine Epidemie ausgebrochen. Nicht bundesweit, nicht begrenzt auf eine Region oder einen Ort – sondern auf ein Unternehmen. Bei TUIfly muss ein ganz besonderer Erreger sein Unwesen treiben. Massenhafte Krankmeldungen von Flugzeugbesatzungen haben den Ferienflieger lahmgelegt. Zahlreiche Flüge mussten und müssen ersatzlos gestrichen werden. Ein echtes Problem für diejenigen, die mit dem Beginn der Herbstferien in Urlaub fliegen wollen oder die in Spanien oder der Türkei festsitzen und einfach nach Hause kommen wollen. Das Unternehmen ist der Auffassung, dass Kunden keine Entschädigung für die Flugausfälle verlangen können. Bei den massenhaften Krankmeldungen der Mitarbeiter handele es sich um höhere Gewalt, findet das Unternehmen. Verbraucherschützer und Reiserechtsexperten sehen das jedoch anders.

Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um die die These zu wagen: Offensichtlich werden wir hier mit einem informellen Streik konfrontiert. Mit Streiks im Luftverkehr haben wir in den vergangenen Jahren durchaus einige Erfahrungen machen müssen, jeder wird die Pilotenstreiks bei der Lufthansa in langsam verblassender, aber noch präsenter Erinnerung haben. Nur waren das „seriöse“ Arbeitskämpfe, organisiert von der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC). Da ging es beispielsweise um die betriebliche Altersversorgung der Piloten (vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Über den Wolken geht es weniger um grenzenlose Freiheit, als um Gehälter, Altersversorgung und Sparprogramme. Wie unten auf dem Boden. Zur Arbeitsniederlegung der Lufthansa-Piloten vom 1. April 2014). Allerdings hatte sich im Verlauf der konfrontativen Entwicklung zwischen den Piloten und der Lufthansa das Ziel des Arbeitskampfes verschoben. Im Jahr 2015 sei es der Gewerkschaft Cockpit maßgeblich darum gegangen, zu verhindern, dass eine von ihr als „Billigfluglinie“ bezeichnete weitere Anstellungsgesellschaft für Piloten ins Leben gerufen werden sollte. Offiziell kommuniziert wurde jedoch, es gehe um die Regelung der betrieblichen Altersversorgung für alle Piloten. Das LAG Hessen hat in diesem Fall in einer kontrovers diskutierten Entscheidung festgestellt (LAG Hessen, 09.09.2015 – 9 SaGa 1082/15), dass Streiks, welche nur der Verhinderung unternehmerischer Entscheidungen dienten, von vornherein unzulässig seien. Maßgeblich für die Bewertung der Streikziele seien nicht nur die offiziell verkündeten Streikbeschlüsse, sondern auch andere Verlautbarungen der Gewerkschaft. Seit dieser Entscheidung ist – vorerst – Ruhe an der Streikfront der Lufthanseaten eingekehrt. 

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Wenn dein starker Arm will und macht, aber das Bundesarbeitsgericht eine teure Rechnung präsentiert. Das Streik-Urteil gegen die Gewerkschaft der Flugsicherung

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen. Und auch Arbeitskampfmaßnahmen landen immer wieder vor der Arbeitsgerichtsbarkeit, man denke hier nur an die Streiks der Lokführer. Oder denken wir zurück an den Anfang des Jahres 2012. Damals wurde der Flugverkehr auf dem Frankfurter Flughafen lahmgelegt durch einen Streik der in der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) organisierten „Vorfeldlotsen“.  Die GdF vertritt die berufs- und tarifpolitischen Interessen des Flugsicherungspersonals und hat bundesweit etwa 4.000 Mitglieder. Sie hatte mit der Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens – der Fraport AG (Fraport) – einen Tarifvertrag für die Beschäftigten in der Vorfeldkontrolle und Verkehrszentrale geschlossen. Die Regelungen in § 5 bis § 8 des Tarifvertrags waren erstmalig zum 31. Dezember 2017 kündbar, die übrigen bereits zum 31. Dezember 2011. Nach Teilkündigung des Tarifvertrags mit Ausnahme von § 5 bis § 8 durch die GdF zum 31. Dezember 2011 verhandelten diese und Fraport über einen neuen Tarifvertrag. Ein vereinbartes Schlichtungsverfahren endete mit einer Empfehlung des Schlichters.

Am 15. Februar 2012 kündigte die GdF gegenüber Fraport an, ihre Mitglieder zu einem befristeten Streik mit dem Ziel der Durchsetzung der Schlichterempfehlung aufzurufen. Der am 16. Februar 2012 begonnene Streik endete aufgrund einer gerichtlichen Unterlassungsverfügung am 29. Februar 2012. In der Folgezeit ging es los mit der juristischen Aufarbeitung des Streiks – so klagten zwei Airlines (Lufthansa und Air Berlin) auf Schadensersatz gegen die Gewerkschaft aufgrund der Flugausfälle. Diese wurden allerdings zurückgewiesen. Auch ihre gegen diese Entscheidungen gerichtete Revisionen vor dem Bundesarbeitsgericht hatten keinen Erfolg. Als Drittbetroffene haben sie keinen Schadensersatzanspruch, so das BAG, dass das breite in einem Urteil von 2015 so fixiert hat. Aber eine andere Entscheidung des höchsten Arbeitsgerichts trifft die Gewerkschaft schmerzhaft und materiell in Form eines Schadensersatzanspruchs der erfolgreichen Gegenseite (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14).

Unter der neutral daherkommenden Überschrift Arbeitskampf – Verletzung der Friedenspflicht – Schadensersatzanspruch teilt das Bundesarbeitsgericht nun mit:

»Ein Streik, dessen Kampfziel auch auf die Durchsetzung von Forderungen gerichtet ist, welche die in einem Tarifvertrag vereinbarte Friedenspflicht verletzen, ist rechtswidrig. Er verpflichtet bei schuldhaftem Handeln zum Ersatz der dem Kampfgegner entstandenen Schäden. Die streikführende Gewerkschaft kann nicht einwenden, die Schäden wären auch bei einem Streik ohne friedenspflichtverletzende Forderungen entstanden.«

Mit ihrer Klage hat die Fraport AG von der GdF den Ersatz ihr aufgrund des Streiks entstandener Schäden verlangt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die hiergegen von der Fraport AG eingelegte Revision hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts nun Erfolg.
Das Einfallstor für die höchstrichterliche Bewertung der Rechtswidrigkeit des Streiks sind die unterschiedlichen Laufzeiten der tarifvertraglichen Regelungen – denn die Regelungen in § 5 bis § 8 des Tarifvertrags waren erstmalig zum 31. Dezember 2017 kündbar, die anderen zum 31.12.2011 – sowie die Tatsache, dass die Empfehlung des Schlichters, für dessen Durchsetzung die Gewerkschaft zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen hatte,  auch Ergänzungen zu dem noch ungekündigten Teil des Tarifvertrags enthielt. An dieser Stelle dockt das Bundesarbeitsgericht an:

»Hinsichtlich dieser Regelungen galt nach wie vor die tarifvertraglich vereinbarte erweiterte Friedenspflicht. Diese verwehrte es der GdF, Änderungen mit Mitteln des Arbeitskampfes durchzusetzen. Ihr Einwand, sie hätte denselben Streik auch ohne die der Friedenspflicht unterliegenden Forderungen geführt (sog. rechtmäßiges Alternativverhalten), ist unbeachtlich. Es hätte sich wegen eines anderen Kampfziels nicht um diesen, sondern um einen anderen Streik gehandelt. Weil die GdF schuldhaft gehandelt hat, ist sie Fraport gegenüber aus Delikt und wegen Vertragsverletzung zum Ersatz von streikbedingten Schäden verpflichtet.«

Die genaue Höhe der Schadenersatzzahlungen muss nun das Hessische Landesarbeitsgericht festlegen. Die Fraport AG selbst hat im Verfahren von Einnahmeverluste in Höhe von 5,2 Mio. Euro durch Hunderte ausgefallene Flüge gesprochen.

Der Fall betrifft aber nicht nur die kleine Gewerkschaft der Flugsicherung. »Das Grundsatzurteil zum Streikrecht kann nach Einschätzung von Fachleuten Auswirkungen auf Arbeitskämpfe auch anderer Gewerkschaften haben. Schadenersatzzahlungen von Gewerkschaften für die Folgen von Arbeitskämpfen sind bisher in Deutschland eher die Ausnahme«, kann man dem Artikel Fraport gewinnt gegen Vorfeldlotsen entnehmen.

Tina Groll kommentiert die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts schon in ihrer Überschrift mehr als deutlich: Streik-Urteil ist fatal für Arbeitnehmerrechte. Der gesamte Streik sei auf illegaler Grundlage erfolgt, argumentierten die höchsten Arbeitsrichter, weil einzelne Forderungen der Gewerkschaft noch der Friedenspflicht unterlagen. Die Vorinstanz, das hessische Landesarbeitsgericht, hatte hier noch eine andere Rechtsauffassung vertreten. Denn die Arbeitsniederlegung hätte so oder so stattgefunden, weil die wesentlichen Forderungen eben nicht mehr der Friedenspflicht unterlegen hätten.

Tina Groll bewertet das so: »Das Urteil ist fatal für Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte. Es schwächt die Arbeitnehmervertreter und kann auf lange Sicht zu einem noch stärkeren Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt führen.«

Wie kommt sie zu so einer Einschätzung?

» … auch wenn der von den obersten Arbeitsrichtern ausgedrückte Formalismus juristisch korrekt sein mag, trifft die Rechtsprechung nicht die Realität in der Arbeitswelt. Branchen, Unternehmen und Geschäftsmodelle werden immer flexibler, nicht zuletzt durch den digitalen Wandel. Entsprechend rasant verändern sich die Arbeitsbedingungen, die ebenso agil angepasst werden müssen. Darauf müssen Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter aber genau so schnell und flexibel reagieren können, um soziale und materielle Standards für die Beschäftigten abzusichern – etwa in Tarifverhandlungen. Daher sind die Forderungen dort meist ein Paket von Einzelpunkten, die miteinander zu tun haben … Genau hier könnte die BAG-Rechtsprechung aber negative Folgen haben: Tarifarbeit wird unmöglich, wenn aus formaljuristischen Gründen für einzelne Details nicht gestreikt werden darf, die sehr wohl wesentlich für das Gesamtpaket sind.«

Wenn mögliche millionenschwere Schadensersatzansprüche wie ein Damoklesschwert über Tarifauseinandersetzungen hängen, dann wird sich das Kräfteverhältnis zuungunsten der Gewerkschaften verschieben, die sich dann sehr gut überlegen müssen, ob sie zu Arbeitskampfmaßnahmen greifen (können).

Und das angesprochene Kräfteverhältnis weist bereits eine erhebliche Asymmetrie auf. Dazu Groll: »Immer mehr Unternehmen wandeln sich massiv, auch um sich vor der sozialen Verantwortung für die Beschäftigten zu drücken und damit Kosten zu sparen. Da werden Töchter als tariflose Gesellschaften ausgegründet. Da werden Abteilungen und Unternehmensteile umstrukturiert, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse abgebaut und stattdessen Freelancer, Leiharbeiter oder Dienstleister beschäftigt. All das unterläuft Flächentarife und mit ihnen die Gewerkschaften.«

Foto: © Stefan Sell