Arme Azubis. Und bedauernswerte Ausbildungsbetriebe. Alles neben den vielen Fällen, in denen es gut läuft. Und eine bröckelnde Bildungsrepublik

Es hat sich offensichtlich eine Menge geändert. Jahrelang ging es um den Mangel an Lehrstellen und seit einiger Zeit liest und hört man (fast) nur noch was von einem Mangel an Auszubildenden. Es geht also wieder einmal um den „Ausbildungsmarkt“, der vor allem deshalb hier in Anführungsstriche gesetzt wird, weil es eben nicht wirklich einen „Markt“ mit den dort wirkenden Mechanismen gibt.

Dazu wurden in diesem Blog in dem Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016 die folgenden zusammenfassenden Hinweise gegeben: »… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.
Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.«

Es gibt eben nicht einen großen „Markt“, auf den man es mit einem Angebot und einer Nachfrage zu tun hat. Bereits innerhalb von Regionen wird man mit Passungsproblemen konfrontiert. Beispiel Berlin-Brandenburg: In diesen Tagen wurde von der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit (BA) bekannt gegeben, dass aktuell rund 9.000 Ausbildungsstellen unbesetzt sind, während noch über 10.000 Jugendliche nach ihrem frisch erworbenen Schulabschluss ohne Anschlussperspektive sind. Da hilft es dann angesichts der überaus ausgeprägten regionalen Verfasstheit von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage auch nicht, wenn man feststellt, dass in München viele Abzubistellen nicht besetzbar sind, aber im Ruhrgebiet viele Jugendliche, selbst mit passablen Schulabschlüssen, eine Ausbildungsstelle suchen, aber nicht finden. Ein „einfacher“ Ausgleich in dem Sinne, dass dann die jungen Menschen eben nach München ziehen sollen, funktioniert nicht wirklich, was man angesichts der Rahmenbedingungen auch schnell nachvollziehen kann.

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack wird dann auch mit diesen Zahlen zitiert: » „Die Lage ist nach wie vor angespannt, auch wenn es im letzten Jahr 43.000 unbesetzte Ausbildungsstellen gab. Ihnen gegenüber stehen 280.000 junge Menschen, die im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Insbesondere Hauptschulabsolventen haben es schwer auf dem Ausbildungsmarkt.« Speziell zu den Problemen der Hauptschüler (aber auch den Problemen von Betrieben mit ihnen) der Beitrag Trotz Azubi-Mangels: Viele Hauptschüler finden keinen Ausbildungsplatz von Deutschlandfunk Kultur.

Und zu den Rahmenbedingungen einer dualen Berufsausbildung in Deutschland gehören eben auch die Bedingungen, unter denen die Auszubildenden lernen und arbeiten – und schon sind wir mittendrin in der immer wiederkehrenden kritischen Diskussion – zuweilen auch überwiegend arbeiten müssen, aber wenig lernen können.

Dieser Vorwurf wird regelmäßig von der Gewerkschaftsseite ins Feld geführt. Unter der Überschrift Ausbildungsreport 2017: Ausbildungsqualität endlich verbessern! hat sich der DGB zu Wort gemeldet. Es geht dabei um diese Veröffentlichung:

DGB-Bundesvorstand (2017): Ausbildungsreport 2017, Berlin, August 2017

An der repräsentativen Befragung haben sich 12.191 Auszubildende aus den laut Bundesinstitut für Berufsbildung 25 häufigsten Ausbildungsberufen beteiligt.

Beginnen wir entgegen der heute üblichen Dramaturgie mit einer positiven Zahl, die man – auch – in dem neuen Ausbildungsreport der Gewerkschaften finden kann: Danach sind die meisten Auszubildenden (71,9 Prozent) mit ihrer Ausbildung zufrieden. Das ist erst einmal kein schlechter Wert – aber eben auch ein Durchschnittswert über alle Auszubildenden hinweg.

Bei den Zufriedenheitswerten gibt es aber erhebliche Branchenunterschiede: Mechatroniker, Industriekaufleute und Industriemechaniker sind über Durchschnitt zufrieden. Friseurinnen und Friseure, Auszubildende in Teilen des Hotel- und Gaststättenbereichs und Fachverkäufer des Lebensmittelhandwerks, bewerten ihre Betriebe hingegen mangelhaft. Nun ist es nicht verwunderlich, dass gerade in den Branchen mit hohen Unzufriedenheitswerten zum einen die Bewerberlage aus Sicht der Betriebe mangelhaft bis desaströs ist – und zugleich haben wir dort auch sehr hohe Abbrecherzahlen (vgl. dazu differenzierter am Beispiel der Köche den Beitrag Frust am Herd – Köche auf der Flucht? Von klagenden und zufriedenen Azubis, Ausbildungsabbrüchen und einem Azubimangel zwischen Hysterie und Realität vom 8. November 2016).

Die Liste der gewerkschaftlichen Kritikpunkte ist lang. »Über ein Drittel der Auszubildenden leistet regelmäßig Überstunden. Fast genauso vielen (35,4 Prozent) liegt kein betrieblicher Ausbildungsplan vor, eine Überprüfung der Ausbildungsinhalte ist ihnen daher nur schwer möglich. Mehr als jeder zehnte Azubi (11,5 Prozent) übt regelmäßig ausbildungsfremde Tätigkeiten aus. Die Abstimmung zwischen Betrieben und Berufsschulen ist oft schlecht.«

Die Vorwürfe werden auch in der Medienberichterstattung aufgegriffen. Ein Beispiel ist der Beitrag Ausbeutung statt Ausbildung: Wie Nachwuchsfachkräfte ausgenutzt werden des Politikmagazins „Report Mainz“ (ARD): »Viele Auszubildende werden in ihren Betrieben als billige Arbeitskraft missbraucht statt als Fachkraft für morgen ausgebildet zu werden. Die Politik könnte das Berufsbildungsgesetz ändern, um die Azubis besser zu schützen, tut es aber nicht«, so die These des Beitrags in der Sendung am 29.08.2017.

Der Beitrag greift eine der Forderungen des DGB direkt auf: »Nach Meinung von Gewerkschaften fehlen Kontrollen und Sanktionen gegen die betreffenden Unternehmen. Laut Berufsbildungsgesetz sollen die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern zwar ihre Mitgliedsunternehmen kontrollieren und gegebenenfalls dafür sorgen, dass deren Ausbildungsberechtigung entzogen wird. Doch das findet nur begrenzt statt. Die Gewerkschaften halten es für einen Systemfehler, dass die Kammern ihre eigenen Mitgliedsbetriebe kontrollieren sollen und fordern ein unabhängiges Institut. Dafür müsste allerdings das Berufsbildungsgesetz geändert werden. Doch die Bundesbildungsministerin sieht dafür keinen Bedarf.« Zu den Forderungen des DGB vgl. auch die Seiten 40 f. des Ausbildungsreports 2017.

Auch einige Azubis protestieren gegen die Bedingungen, unter denen sie ihre Ausbildung machen (müssen). Ein gerade bei Frauen immer noch überaus beliebter Ausbildungsberuf sei hier besonders erwähnt: Friseure. »Friseur-Azubis protestieren gegen Niedriglöhne, Überstunden und Zeitstress«, so Ines Wallrodt in ihrem Artikel Schlechter Schnitt:

Im Durchschnitt bekommen Friseur-Azubis nach Angaben von ver.di im Osten 269 Euro, im Westen 494 Euro im Monat. In Sachsen liegt die Durchschnittsvergütung bei 200 Euro, in Thüringen bei 205 Euro. Den Negativrekord hält Sachsen-Anhalt. Dort werden Azubis mit 153 Euro abgespeist – irgendwann wurde D-Mark in Euro umgerechnet, mehr hat sich in 25 Jahren nicht geändert. Im Osten ist es besonders schlimm, aber auch in Hamburg, einer der teuersten Städte Europas, verdienen angehende Friseure lediglich 325 Euro. Von ihrem Lohn müssen Azubis nicht selten teure Scheren und Kämme bezahlen, Überstunden sind häufig. Was für die Prüfung nötig ist, muss in der Freizeit gelernt werden. Der Gewerkschaftssekretär Marvin Reschinsky wird mit diesen Worten zitiert: »Azubis werden systematisch als billige Arbeitskräfte eingesetzt.« Anspruch auf Mindestlohn haben sie nicht. Ein Großteil sei deshalb auf Hilfe aus der Familie oder vom Staat angewiesen.

Auch in diesem Artikel wurde das Thema aufgegriffen: Vollzeit arbeiten für 153 Euro im Monat.

Die Spannweite bei dem, was Azubis bei tarifvertraglich geregelten Beträgen bekommen, ist enorm: Ausbildungsvergütungen: Regionale Unterschiede bis zu 299 Euro im Monat, so die Information des WSI-Tarifarchivs, der auch die Abbildung entnommen ist. Und da sind die Friseure noch nicht einmal enthalten.

Aber es geht nicht nur um die die Vergütung der Auszubildenden. Das gesamte System der dualen Berufsausbildung steht inmitten einer mehrfachen strukturellen Herausforderung – darauf wurde in diesem Blog in zahlreichen Beiträgen immer wieder hingewiesen. Zum einen sinkt die Zahl der an einer dualen Berufsausbildung interessierten jungen Menschen, nicht nur, aber eben auch aufgrund des Sogeffekts der hochschulischen Ausbildung, der einhergeht mit einer stetig steigenden Zahl an Schulabgängern, die irgendeine Form der Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Hinzu kommt, dass die Zahl der ausbildenden Betriebe rückläufig ist, teilweise auch bedingt durch Besetzungsprobleme der Betriebe, die irgendwann aufgeben. Und in anderen Branchen, in denen wir Beschäftigungswachstum verzeichnen, gibt es zwar mehr Unternehmen, von denen aber viele noch nie ausgebildet haben.

Da überrascht dann so eine Überschrift nicht wirklich: Arbeits- und Ausbildungsmarkt entwickeln sich auseinander. In dem Artikel wird über eine neue Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen berichtet. Die Zahl der Beschäftigten ist zwischen 1999 und 2015 um 12,1 Prozent gestiegen – im gleichen Zeitraum ging die Zahl der Auszubildenden um 6,7 Prozent zurück. »Der Studie zufolge gibt es zudem deutliche regionale Unterschiede: Während die Ausbildungsquote im Westen etwa in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen zwischen 1999 und 2015 fast konstant blieb, halbierte sie sich im selben Zeitraum in den ostdeutschen Bundesländern. Hinzu kommt: Der betriebliche Bedarf und die an einer Ausbildung interessierten Schulabsolventen passten immer weniger zusammen.  Der Entkoppelungseffekt zeigt sich über alle Betriebsgrößen und Branchen, jedoch unterschiedlich stark. Besonders deutlich ist der Rückgang der Ausbildungsquote bei den Kleinstbetrieben mit bis zu fünf Mitarbeitern. Lag die Ausbildungsquote hier 1999 bei 7,0 Prozent, waren es 2015 4,9 Prozent. „Für Kleinst- und Kleinbetriebe ist die Ausbildung am schwierigsten zu stemmen. Sie bilden überproportional Jugendliche mit schwächeren Schulabschlüssen aus, haben dafür aber am wenigsten Ressourcen“.« Mehr dazu in der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Studie Entwicklung der Berufsausbildung in Klein- und Mittelbetrieben.

Aber zur dualen Berufsausbildung gehören nicht nur die Betriebe, sondern auch die Berufsschulen. Und auch dort werden wir konfrontiert mit den Auswirkungen struktureller Probleme. Schon seit langem wird im Kontext des um sich greifenden Lehrermangels auf die besonders schwierige Situation vieler Berufsschulen verwiesen. Auch der in jüngster Zeit wieder heftig beklagte Unterrichtsausfall an den Schulen insgesamt (vgl. dazu das Interview mit Heinz-Peter Meidinger, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes: „Es fallen jede Woche rund eine Million Unterrichtsstunden aus“) schlägt in vielen Berufsschulen überdurchschnittlich stark zu Buche.
Als dualer Lernortpartner ist die Teilzeit-Berufsschule eine wichtige Säule im Kontext der Ausbildung im dualen System. Sie hat die Aufgabe, die im Rahmenlehrplan verankerten fachtheoretischen Ausbildungsinhalte zu vermitteln und die Allgemeinbildung der Schüler/-innen zu vertiefen. Eine Bestandsaufnahme wurde kürzlich vom Bundesinstitut für Berufsbildung veröffentlicht:

Monika Hackel, Christoph Junggeburth, Anita Milolaza, Magret Reymers und Maria Zöller (2017): Berufsschule im dualen System – Daten, Strukturen, Konzepte. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 185, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

In der abgewogenen Sprache der Wissenschaftler findet man dort die folgenden Hinweise:

»Im Fokus der vorliegenden Studie steht die demografische Entwicklung. Bis 2035 wird ein starker Rückgang der Schülerzahlen prognostiziert. Dieser Rückgang hat auch Auswirkungen auf die Beschulung dualer Berufsbilder. Im Rahmen der Ord­nungsverfahren wird seit einigen Jahren vermehrt geprüft, ob eine Zuordnung von Berufen zu Berufsgruppen möglich ist, um besonders in strukturschwachen Regionen eine gemeinsame Be­schulung unterschiedlicher Berufe durchzuführen.«
Das muss vor dem Hintergrund der folgenden Befunde gesehen werden (S. 7 f.):

  • Der Rückgang der Schülerzahlen an beruflichen Schulen hat bereits zu Schließungen von Klassen und Teilzeit-Berufsschulen geführt; mit der Konsequenz, dass je nach Ausbildungs­gang eine wohnortnahe Beschulung im berufsspezifischen Unterricht zunehmend schwieri­ger wird. Insbesondere Berufsschulstandorte in Ostdeutschland sind betroffen.
  • Im Umgang mit dieser Entwicklung sind sehr unterschiedliche Strategien zu beobachten. Diese reichen von der zentralen Beschulung an einem Berufsschulstandort mit der Möglich­keit differenzierter Klassen bis hin zu einer Favorisierung wohnortnahen Unterrichts mit ho­hem Stellenwert der Binnendifferenzierung bei berufs- oder fachrichtungsübergreifenden Klassen.
  • Die Gewinnung von Lehrkräften für den berufsspezifischen Unterricht ist besonders in ge­werblich-technischen Berufen ein Problem. Hier sind Maßnahmen zur Attraktivitätssteige­rung des Lehramts an Berufsschulen erforderlich.
  • Künftige Lösungsoptionen, über die aktuell aufgezeigten Fallstudien-Ergebnisse hinaus, könnten möglicherweise die Gestaltung standortübergreifender Schulentwicklungsplanung, die Schaffung von Informations- und Kommunikationsstrukturen, E-Learning-Angeboten, jahrgangsübergreifenden Fachklassen, die Bereitstellung berufsspezifischer Lehr-/Lernkonzepte für einen binnendifferenzierten Unterricht oder finanzielle Förderung darstellen. Die finanzielle Förderung könnte sowohl bei der Ausstattung von Schulen als auch bei der Lehreraus- und -weiterbildung ansetzen.

Allein diese (noch „liebevoll“ formulierten) Hinweise verdeutlichen, welche Planungs- und Investitionsbedarfe vorliegen, um einen mittelfristigen Zusammenbruch des Systems der dualen Berufsausbildung, das neben den Betrieben (und den Bewerbern) eben auch von den Berufsschulen abhängt, zu verhindern. Das zusätzlich zu den massiven Problemen, die wir im vorgelagerten allgemeinbindenden Schulsystem haben und diskutieren. Hinzu kommen die erheblichen Quantität- und Qualitätsprobleme der hochschulischen Ausbildung. Die „Bildungsrepublik“ Deutschland bröckelt und fault an vielen Fronten.

Auch und gerade vor diesem Hintergrund muss dann frustriert zur Kenntnis genommen werden, dass das Thema Bildung und Ausbildung im TV-Duell von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz (SPD) am Abend des 3. September 2017 vor einem Millionenpublikum exakt in 0 Minuten behandelt wurde. Also gar nicht. Was wirft ein schlechteres Licht auf die Angelegenheit, als dieser Befund. Das wird sich angesichts des Problemstaus in diesem für die Zukunftsfähigkeit des Landes so wichtigen Bereichs noch mal ganz bitter rächen. An Warnungen und dringenden Aufforderungen, endlich mal in die Pötte zu kommen, mangelt es nicht in der Mangelrepublik Deutschland.

Ausbildung: Viele studieren, die duale Berufsausbildung kämpft gegen den Sinkflug und das „Übergangssystem“ wächst wieder

„Akademisierungswahn“, so lautet eines der Schlagworte der bildungspolitischen Diskussion. „Azubi-Mangel“ ein anderes, das man sich noch vor einigen Jahren nicht hat vorstellen können, als viele junge Menschen beim anstehenden Übergang von der Schule in den Beruf keinen Fuß in die Tür bekommen haben – und durchaus folgerichtig aufgefangen bzw. geparkt wurden im vielgestaltigen „Übergangssystem“. Aber die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine sowohl demografisch bedingte Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen im Sinne einer Abnahme der Zahl der jungen Menschen wie auch eine durch gesellschaftlichen Wertewandel verursachte Verschiebung zwischen den Ausbildungssektoren. Das Jahr 2013 kann und muss man sich als ein historisches Datum merken, denn in diesem Jahr gab es erstmals mehr Studienanfänger als neue Auszubildende im dualen Berufsausbildungssystem. Während sich die Zahl der Studienanfänger auf hohem Niveau stabilisiert, kämpft die duale Berufsausbildung weiter gegen den erkennbaren Sinkflug, wenn man denn diesen an der Zahl der Neuzugänge misst.

Aber die Abbildung verdeutlicht noch zwei andere Auffälligkeiten. Eine davon wird oftmals übersehen. Die Zugangszahlen in das Schulberufssystem erscheinen seit vielen Jahren wie festgenagelt knapp oberhalb der 200.000 Neuzugänge pro Jahr. Dabei handelt es sich hier neben dem dualen Berufsausbildungssystem um einen ganz wichtigen Teilbereich der beruflichen Qualifizierung, denn hier sind beispielsweise zahlreiche Berufe des Gesundheitswesens- und Sozialwesens angesiedelt, nicht nur die Pflegeberufe, sondern beispielsweise auch die Erzieher/innen. Und man muss nur etwas mitbekommen haben von der höchst umstrittenen Fachkräftemangel-Debatte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen wie mehr alte Menschen und Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die einfache Frage zu stellen, warum die Zugangszahlen angesichts des offensichtlichen Bedarfs hier nicht viel stärker angestiegen sind.

Die Abbildung mit der Entwicklung in den Jahren von 2005 bis 2016 verdeutlicht aber noch eine andere Auffälligkeit. Man erkennt den deutlichen Rückgang der Neuzugänge in das überaus heterogene Übergangssystem zwischen Schule und Beruf, das nicht nur, aber auch viele junge Menschen aufnehmen musste, als es „zu viele“ Bewerber für einen Ausbildungsplatz gegeben hat, die dann nicht zum Zuge gekommen und „unversorgt“ geblieben sind. Daneben gehören zum Übergangssystem auch diejenigen, die einen oder einen höheren Schulabschluss zu erwerben versuchen. Hinzu kommen zahlreiche junge Menschen, die tatsächlich oder einfach aufgrund der Marktbedingungen als noch nicht „ausbildungsreif“ (ein übrigens höchst umstrittener Begriff) etikettiert wurden und werden und es durchaus nicht selten auch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht sind, jedenfalls nicht im bestehenden System.

Aufgrund der vor allem demografisch bedingten Entspannung, aber auch eines zunehmenden Anteils an jungen Menschen, die ein Studium aufnehmen und damit nicht mehr dem dualen Berufsausbildungssystem zur Verfügung stehen, hat sich für einen Teil der der jungen Menschen, die unter den für sie schlechteren Marktbedingungen in das Übergangssystem abgedrängt worden sind, die Chance auf den direkten Einstieg in eine Berufsausbildung erhöht. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich niedergeschlagen in einem massiven Rückgang der Neuzugänge in das Übergangssystem von weit über 400.000 auf knapp 253.000 im Jahr 2014, als der bisherige Tiefstand erreicht wurde. Aber seit 2015 steigt die Zahl der Zugänge wieder an, im vergangenen Jahr waren es ausweislich der Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung des Statistischen Bundesamtes fast 300.000.

Schaut man genauer in die Statistik des Übergangssystems, dann erkennt man im Vergleich der beiden Jahre 2015 und 2016, dass der Anstieg ausschließlich auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen zurückgeht, also vor allem beim Berufsvorbereitungsjahr und den einjährigen Berufseinstiegsklassen.

An dieser Stelle wird dann auch plausibel erwartbar, dass das Übergangssystem eben nicht einer „biologischen“ Lösung, also einem generell mangelbedingten Aussterben, zugeführt wird, sondern dass wir durchaus realistisch einen weiteren Anstieg der Neuzugänge erwarten müssen. Denn zum einen ist die aufgrund der gestiegenen Studierneigung  dem dualen Berufsausbildungssystem immer wieder empfohlene „Öffnung nach unten“, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, angesichts der realen Marktverhältnisse von vielen Betrieben durchaus umgesetzt worden, aber es gibt systemstrukturelle Grenzen für diesen Prozess, die zum einen mit der nicht weg zu diskutierenden Verhaltensseite bei einigen jungen Menschen zu tun haben, zum anderen aber – und weitaus gewichtiger – mit der Tatsache, dass eben auch die duale Berufsausbildung einem erheblichen kognitiven Upgrading unterworfen wurde, was auch angesichts der Berücksichtigung der technologischen Entwicklung in vielen Handwerken auch nicht vermeidbar ist. Daran aber scheitern nicht wenige praktisch begabte junge Menschen. Hinzu kommt: Viele der jüngeren Flüchtlinge, die potenziell für eine Berufsausbildung in Frage kommen könnten, werden erst einmal im Übergangssystem landen.

Erneut starker Anstieg der Anfänger bei Bildungs­programmen im Übergangs­bereich im Jahr 2016, so ist die Mitteilung vom 10.03.2017 überschrieben: Für 2016 weist die vorläufige Berichterstattung einen Anstieg der Eintritte in das Übergangssystem in Höhe von +12,2 Prozent aus. Dabei wird von den Bundesstatistikern darauf hingewiesen, dass der Anstieg eher unterzeichnet ist, da aus Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zum Übergangsbereich im Wesentlichen nur Vorjahresdaten vorliegen. Und was wird als Erklärung für den Anstieg angeboten?

»Seit dem Jahr 2015 steigt die Zahl der Anfängerinnen und Anfänger im Übergangsbereich wieder an. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf Programme zum Erlernen der deutschen Sprache für jugendliche Flüchtlinge und Zugewanderte zurückzuführen.«

Abschließend ein Blick auf eine der Großbaustellen der bildungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre- zugespitzt formuliert: Immer mehr wollen studieren, immer weniger eine klassische Berufsausbildung (ob dual oder fachschulisch) absolvieren. Zu diesem hoch kontroversen Themenfeld hat sich nun das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu Wort gemeldet mit einer neuen Studie:

Regina Dionisius und Amelie Illiger (2017): Trends ins Studium und in die duale Berufsausbildung unter Berücksichtigung ausgewählter Einflussfaktoren. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 182, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

Und das, was darin vorgetragen wird, ist für den einen oder anderen sicher überraschend: Während immer mehr junge Menschen ein Studium beginnen, sinken die Anfängerzahlen in der dualen Berufsausbildung. Die Zahlen allein lassen jedoch nicht auf einen veränderten Studier- oder Ausbildungstrend der Jugendlichen in Deutschland schließen. Die BIBB-Studie beleuchtet die Faktoren, welche die Anfängerzahlen in den unterschiedlichen Bildungsbereichen beeinflussen. Die Analyse basiert auf Daten der amtlichen Statistik für den Zeitraum 2005-2014 und berücksichtigt neben den Effekten der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, der steigenden Zahl von Bildungsausländern/-ausländerinnen, der demografischen Entwicklung sowie der Situation am Ausbildungsmarkt auch länderspezifische Einflüsse. Panel Regressionen mit fixen Effekten weisen einen leichten Trend zu mehr Studierenden nach. Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung wird jedoch nicht festgestellt. »Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung kann für den gewählten Betrachtungszeit­ raum nicht festgestellt werden. Die Neigung zur Aufnahme einer dualen Berufsausbildung hängt im Wesentlichen vom Ausbildungsplatzangebot ab«, so Dionisius/Illiger (2017: 22).

Offensichtlich plädieren die beiden Autoren der Studie für eine Abkehr von der bisherigen getrennten Sicht auf die einzelnen Ausbildungssektoren:

»Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern die Bildungssäulen „duale Berufsausbildung“ und „Studium“ wei­terhin als Alternativmodelle nebeneinanderstehen. Rauner … beschreibt unter dem Titel „Akademisierung beruflicher und Verberuflichung akademischer Bildung“ einen Prozess, den Esser als „Entsäulung“ … bezeichnet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Entwick­lung sogenannter „hybrider Ausbildungsformate“ … Hierunter fallen vor allem die dualen Studiengänge sowie die doppelqualifizierenden Bildungsgänge, in denen gleichzeitig Berufsabschluss und Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kön­nen. Quantitativ erfährt insbesondere das duale Studium einen starken Zulauf. So hat sich das Angebot an dualen Studiengängen zwischen 2005 und 2014 mehr als vervierfacht … und die Zahl der Anfänger/-innen im dualen Studium an Hochschulen mehr als verzehnfacht.«

Handwerk auf brüchigem goldenen Boden?

Wenn vom Handwerk die Rede ist, dann geht es um ein Schwergewicht der deutschen Volkswirtschaft, von der wirtschaftlichen Bedeutung und den großen Zahlen her auf alle Fälle: Rund eine Million Handwerksbetriebe gab es laut Statistik des Zentralverbands des Deutschen Handwerks 2015, etwa 5,36 Millionen Menschen arbeiten deutschlandweit im Handwerk. Insgesamt machten die Betriebe rund 544 Milliarden Euro Umsatz. Insgesamt zählen mehr als 130 Berufe zum Handwerk. Und die Geschäfte laufen offensichtlich für die meisten der eher kleinen Handwerksbetriebe gut bis sehr gut, die Aussichten sind hervorragend, kann man den aktuellen Berichten über die Lage des Handwerks entnehmen. Alles gut? Mitnichten, immer öfter wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Hilfe, in Berlin werden die Handwerker knapp: »Randvolle Auftragsbücher – aber zu wenig Fachkräfte und Azubis. In Berlin kommen die Betriebe nicht mehr hinterher, Kunden müssen warten«, berichtet Christoph Stollowsky aus der Hauptstadt. „Der Arbeitsmarkt ist wie leergefegt, auch Auszubildende sind schwer zu finden“, so wird der Sprecher der Berliner Handwerkskammer zitiert.

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