Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte

Das Bundessozialgericht (BSG) hat über diese Entscheidung informiert: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt und der Begründung des BSG kann man dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren entnehmen:
»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R).
Streitpunkt war § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dieser sieht die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt.

Der Asylantrag des Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert.«

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Nun werden viele Menschen mit Blick auf den konkreten Sachverhalt des bereits im Jahr 2002 nach Deutschland gekommenen abgelehnten Asylbewerbers und seine Weigerung, durch aktive Beeilung an der Identitätsklärung an seiner dann realisierbaren Abschiebung mitzuwirken, aus dem Bauch heraus Zustimmung äußern – es kann doch nicht angehen, sich wie in diesem Fall jahrelang an der Nase herumführen zu lassen. Das ist durchaus verständlich.

Auf der anderen Seite öffnet sich hier und mit der Entscheidung des BSG ein Strauß an nicht trivialen sozialpolitischen Grundsatzfragen, die auch ganz anderen Bereiche und Menschen betreffen könnten.

In dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren wird Matthias Lehnert, Rechtsanwalt bei einer Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Berlin, zitiert:

„Die Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetz ist heiß umstritten. Denn bereits 2012 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylbewerbern auch Leistungen zum Erhalt eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen.“

Und weiter:

»Er hofft, dass die BSG-Entscheidung … vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. In Karlsruhe sei eindeutig entschieden worden, dass Asylbewerberleistungen im Wesentlichen nicht von solchen abweichen dürfen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII gezahlt werden – und zwar bedingungslos. „Dazu gehört auch ein Anteil für die Teilhabe am sozialen Leben. Den Erhalt der vollen Leistung an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, wie es nun das Bundessozialgericht getan hat, halte ich nicht für gangbar“, sagt Lehnert.«

Er spricht hier die Entscheidung des BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 an. Darin wurde festgestellt, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend war, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. In den Leitsätzen des Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und in der Entscheidung findet man diesen Passus: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Christian Rath versucht in seinem Kommentar zur BSG-Entscheidung unter der Überschrift Zulässiges Druckmittel eine Differenzierung: »Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht unterscheiden: Es ist unzulässig, das Existenzminimum zu verweigern, wenn dies nur der Abschreckung von anderen dient. Dagegen dürfte die Kürzung als Sanktion im konkreten Fall zulässig sein, wenn der Betroffene sie durch Beachtung seiner gesetzlichen Pflichten jederzeit abwenden kann. Und natürlich macht es auch einen Unterschied, wenn der Betroffene ohne Gefahr in seine Heimat zurückkehren könnte. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist deshalb im Ergebnis richtig.« Und er schiebt eine politische Einschätzung hinterher: »Der völlige Verzicht auf Abschiebungen ist keine … Alternative. Er mag zwar in einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung populär sein, würde aber bald dazu führen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ganz in Frage gestellt wird.«

Aber zurück zu der Frage, wo und warum das Urteil ausstrahlen könnte in andere sozialpolitische Bereiche: Das Bundessozialgericht stellt in seiner neuen Entscheidung darauf ab, dass es um eine aus seiner Sicht erreichbare Verhaltensänderung geht, mit der man die Sanktion wieder auflösen kann, also durch Mitwirkung, die bislang verweigert worden ist. In den Worten des BSG: »Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann.«

Und an dieser Stelle wird eine verfassungsrechtliche Fragestellung aufgeworfen, die möglicherweise auch ausstrahlen könnte in andere strittige Bereiche aus der Welt der Grundsicherung, beispielsweise das in Karlsruhe anhängige Verfahren gegen die Sanktionen im SGB II. Dies betrifft vor allem die vom BSG herausgestellte Begründung, die „Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne“, zu knüpfen. Denkbare Analogien zur ausstehenden Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der im erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 02.08.2016 zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im SGB II liegen auf der Hand (vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).

Bedenkenswert ist in diesem Kontext die vom BSG hervorgehobene Formulierung: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen.« Auch bei den Sanktionen im SGB II geht es um „Mitwirkungspflichten“, beispielsweise Termine im Jobcenter einzuhalten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden, die – so die vergleichbare Logik des BSG – durch das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst werden können. Möglicherweise wird das auch im BVerfG-Verfahren eine Rolle spielen.

Nicht, dass das auch zwingend ist, aber man sollte das auf dem Schirm haben.

Man könnte natürlich mit Blick auf die neue Entscheidung des BSG und mit Blick auf das Sanktionsverfahren beim BVerfG auch die Ableitung wagen, dass dann aber zumindest die „Vollsanktionierten“ im SGB II, denen also 100 Prozent gekürzt werden, darauf hoffen dürfen, das ihnen dann auch wenigstens das „unabweisbar Gebotene“ gewährt werden muss. Denn warum sollten die schlechter behandelt werden als ein seit vielen Jahren abgelehnter Asylbewerber? Man sieht, es öffnet sich ein großer Raum der offenen Fragen. Aber es gibt ja die Hoffnung, dass das BVerfG im Laufe dieses Jahres zu einer Entscheidung kommen wird. Dann werden wir weitersehen.

Foto: © Stefan Sell

„Hexenjagd“ auf Selbständige? Oder Abwehr ausufernder Scheinselbständigkeit? Und dann ein Bundessozialgericht, das ein Auge auf die Honorarhöhe geworfen hat

Sind wir wieder im finsteren Mittelalter angekommen? Als überall „Hexenjagd“ betrieben wurde – und viele unschuldige Menschenleben einem Verfolgungswahn zum Opfer gefallen sind? Sicher nicht in einem wörtlichen Sinne, aber heute geht es angeblich – so die Apologeten dieses Vorwurfs – um das gleiche Strukturmuster: Unschuldige werden beschuldigt und aus dem Verkehr gezogen. Heutzutage seien davon – das wird jetzt den einen oder anderen überraschen – vor allem Selbständige betroffen. So schreibt der Verband der Gründer und Selbständigen (VGSD) in einem Positionspapier aus dem Jahr 2015: »Statt sich auf die Schutzbedürftigen zu konzentrieren und die Missstände gezielt abzustellen, werden Solo-Selbstständige und insbesondere hochqualifizierte Wissensarbeiter von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zunehmend unter den Generalverdacht der Scheinselbstständigkeit gestellt, ihre Auftraggeber mit hohen Strafzahlungen belegt und als Sozialbetrüger kriminalisiert …  Es ist unakzeptabel, dass als „Kollateralschaden“ die Existenz eines großen Teiles der 2,5 Millionen Solo-Selbstständigen in Frage gestellt wird.«
Der VGSD behauptet in seinem Papier von 2015 nun eine „seit fünf Jahren zunehmende Rechtsunsicherheit“. »Zuvor als selbstständig beurteilte Auftragsverhältnisse werden seitdem in großer Zahl als abhängige Beschäftigung eingeordnet. Die Zahl der „Ablehnungen“ stieg von 19% im Jahr 2006 auf 45% im Jahr 2013.«

Vor diesem Hintergrund trifft es sich gut, dass die Grünen im Deutschen Bundestag eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt haben, um die aktuellen Zahlen und ihre Entwicklung zum Thema „Das Statusfeststellungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung“ zu bekommen. Die Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) liegt nun vor und wurde als Bundestags-Drucksache 18/11982 vom 18.04.2017 veröffentlicht. Und die dort präsentierten Daten relativieren zumindest die vorgetragene Dramatik der Gesamtentwicklung. Markus Kurt, der rentenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, hat die Antwort in einer Kurzzusammenfassung ausgewertet.

Das BMAS erläutert, warum es im Vergleich zum Jahr 2007 zu einer Zunahme der Statusfeststellungsverfahren gekommen ist. Der Anstieg sei vor allem auf die obligatorischen Anfragen zurückzuführen, die zwingend von Amts wegen eingeleitet werden müssen. Dies betrifft beschäftigte Familienangehörige wie Ehegatten, Lebenspartner oder seit dem Jahr 2008 auch die Abkömmlinge des Arbeitgebers. Seit dem Jahr 2011 werden die Verfahren zudem allein von der Deutschen Rentenversicherung Bund und nicht mehr von den Einzugsstellen der Krankenkassen bearbeitet.

»Gab es im Jahr 2007 noch 24.368 Statusfeststellungen (optional und obligatorisch), waren es im Jahr 2016 insgesamt 68.111 Feststellungen. Diese Steigerung um bald das Dreifache ist aber in der Tat fast ausschließlich auf die Familienangehörigen zurückzuführen. Diese stiegen in dieser Zeit um gut 39.000 Fälle.«

Man muss aber gerade hier auf das Ausgangsjahr achten, denn die Anzahl der Statusfeststellungsverfahren insgesamt (also optional und obligatorisch) ist seit dem Jahr 2011 relativ konstant geblieben. Es bleibt aber der Anstieg der der optionalen Feststellungen von 16.666 im Jahr 2007 auf 22.629 Fälle im Jahr 2016 sowie der Zunahme der Feststellungen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von 21,2% auf 42,2%. Eine eindeutige Erklärung dafür hat auch die Bundesregierung nicht, sie verweist hier aber – sozialpolitisch besonders relevant – auf den Stellenwert von neuen Geschäftsmodellen (etwa hinsichtlich des Krankenhauspersonals):

»Beobachtet werden zunehmend Bestrebungen, neue Geschäftsmodelle außerhalb der Sozialversicherungspflicht zu etablieren. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Krankenhauspersonals. So berichtete die DRV Bund im November 2015 von einer Klinik, die Beteiligte in ca. 300 Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV sei« (BT-Drs. 18/11982: 5).

Das wären zumindest Hinweise auf eine sozialpolitisch problematische Teilmenge unter den „Selbständigen“, die in praxi gar keine sind, sondern zu Recht als Scheinselbständige zu klassifizieren wären.

Was ist das eigentliche Problem hinter diesen Statusfeststellungsverfahren? Es geht um die Abgrenzung, ob es sich um eine „abhängige Beschäftigung“ oder um eine selbständige Tätigkeit handelt. Dazu aus der Antwort der Bundesregierung:

Zu den Abgrenzungskriterien gibt das BMAS die generell abstrakten Obersätze zu den Rechtsbegriffen „abhängige Beschäftigung“ und „selbständige Tätigkeit“ wider. So sei eine Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte seien eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Voraussetzung für eine Beschäftigung sei ferner die persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Dies sei dann der Fall, wenn er einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit könne – vornehmlich bei Diensten höherer Art – weniger ausschlaggebend sein.

Eine selbständige Tätigkeit zeichne sich hingegen durch das eigene Unternehmensrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit aus. Entscheidend sei bei der Unterscheidung aber stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung.

So war das immer schon in den vergangenen Jahren. Und an dieser Stelle gibt es nun – scheinbar – Neues zu berichten. Denn das Bundessozialgericht (BSG) hat eine neue Entscheidung zum Thema Scheinselbstständigkeit gefällt und dabei die Höhe des Honorars von Selbstständigen relativ zum Verdienst von Angestellten als neues Kriterium eingeführt, so die Wahrnehmung von Andreas Lutz in seinem Beitrag Richtungsweisendes Urteil: Bundessozialgericht führt Honorarhöhe als wichtiges Kriterium für Selbstständigkeit ein. Er kann seine Freude nicht verbergen, wenn er schreibt: »Das BSG macht mit der Formulierung („besondere Bedeutung“, „gewichtiges Indiz“) deutlich, dass es ganz bewusst die Höhe des Honorars relativ zum Brutto eines ähnlich qualifizierten Angestellten als neues Kriterium einführen möchte. Dabei stellt das Gericht auf den Stundensatz ab – und nicht etwa auf das Monatseinkommen.«

Schauen wir uns zuerst einmal den Sachverhalt, um den es bei dieser Entscheidung ging, genauer an. Es geht um das Urteil zu Az. B 12 R 7/15 R. Die Pressemitteilung des BSG vom 31. März 2017 dazu ist auf den hier besonders interessierenden Punkt genau so überschrieben: Ermöglicht ein relativ hohes Honorar einer Honorarkraft Eigenvorsorge, ist dies ein gewichtiges Indiz für ihre Selbstständigkeit. Aber wie so oft im juristischen Leben handelt es sich um einen ganz eigenen  Sachverhalt:

»Der klagende Landkreis ist Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zur Erfüllung seiner Aufgaben der Jugendhilfe schließt er mit freien Trägern sowie Einzelpersonen Verträge ab, die Leistungen der Jugendhilfe vor Ort in Familien erbringen. Neben einer Vollzeittätigkeit war der im Prozess beigeladene Heilpädagoge für den Kläger für etwa vier bis sieben Stunden wöchentlich als Erziehungsbeistand auf der Basis einzelner Honorarverträge tätig. Hierfür erhielt er ein Honorar in Höhe von 40 Euro bis 41,50 Euro je Betreuungsstunde. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte fest, dass der Heilpädagoge in dieser Tätigkeit als Beschäftigter der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Mit seiner dagegen gerichteten Klage hatte der Landkreis bei den Vorinstanzen Erfolg.«

Es ging also um einen Heilpädagogen, der auf Basis von Honorarverträgen im Auftrag des Landkreises Erlangen-Höchstadt als Erziehungsbeistand Jugendliche zu Hause in ihren Familien besuchte und betreute. Er war neben seiner Vollzeittätigkeit vier bis sieben Stunden wöchentlich tätig und erhielt dafür ein Honorar von 40,00 bis 41,50 Euro je Betreuungsstunde.

Das BSG hat sich den Vorinstanzen angeschlossen und eine abhängige Beschäftigung des Heilpädagogen verneint. Wie begründet das hohe Gericht seine Entscheidung? In einem ersten Schritt „klassisch“ gemessen an den üblichen Kriterien, die bei der Abgrenzung eine Rolle spielen:

»Der Heilpädagoge war beim Landkreis nicht abhängig beschäftigt. Denn die zwischen ihm und dem Landkreis geschlossenen Honorarverträge sehen vor, dass er weitgehend weisungsfrei arbeiten kann und nicht in die Arbeitsorganisation des Landkreises eingegliedert ist. Die Verträge wurden so, wie sie schriftlich vereinbart waren, auch in der Praxis durchgeführt, also „gelebt“.«

Dann aber wird die hier interessierende Honorarhöhe in den Ausführungen des BSG explizit herausgestellt – und wird deshalb auch so begeistert von VGSD und anderen Verfechtern der Selbständigkeit aufgenommen und rezipiert:

»Dem Honorar kam im Rahmen der Gesamtwürdigung der Einzelumstände eine besondere Bedeutung zu: Denn liegt das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmers, zum Beispiel eines festangestellten Erziehungsbeistands, und lässt es dadurch Eigenvorsorge zu, ist dies ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.«

Warum das beim VGSD besondere Freude auslöst, verdeutlicht Andreas Lutz in seinem Beitrag mit diesen Worten: »Der VGSD hat in den vergangenen Jahren immer wieder die Höhe des Verdienstes als zentrales Kriterium für Selbstständigkeit vorgeschlagen. Dabei ist es sinnvoll, keinen pauschalen, branchenübergreifenden Stundensatz vorzugeben, sondern – wie es das BSG hier tut – den Stundensatz abhängig vom Verdienst vergleichbarer Angestellter zu bewerten.«

So hatte der VGSD in seinem Positionspapier Rechtssichere Abgrenzung hochqualifizierter Selbstständiger von abhängig Beschäftigten vom 15.05.2015 als Vorschlag folgende Regelung formuliert:

»Jedes einzelne der folgenden Kriterien zum Beispiel sollte ausreichend sein, um eine rechtssichere Beauftragung sicherzustellen:
1. Es handelt sich um eine freiwillige, gut informierte Entscheidung beider Seiten
2. Der Stundensatz (nach Abzug von Reisekosten) beträgt > xx Euro
3. Der Auftragnehmer ist Existenzgründer bzw. Berufsanfänger (z.B. erste x Jahre)
4. Der Auftraggeber ist selbst Solo-Selbstständiger
5. Der Auftragnehmer verfügt über einen Nachweis ausreichender Altersvorsorge (Existenzminimum im Alter ist bzw. wird abgesichert)«

Scheinbar geht das BSG in diese Richtung, zumindest hinsichtlich des Vorschlags unter Punkt 2. Aber man sollte nicht voreilig in Jubel ausbrechen auf Seiten derjenigen, die die neue Entscheidung als eine Art Durchbruch verstehen (möchten). So kann man dem Terminbericht des BSG zu diesem Urteil entnehmen:

»Bei Tätigkeiten, die wie hier nahezu ausschließlich vor Ort in den Familien zu erbringen sind, ist eine Betriebsstätte im engeren Sinne gerade nicht zu erwarten. Die vereinbarte Verpflichtung zur höchstpersönlichen Leistungserbringung war ebenfalls den Eigenheiten und besonderen Erfordernissen der Erziehungsbeistandschaft geschuldet. Auch die Vereinbarung eines festen Stundenhonorars spricht nicht zwingend für eine abhängige Beschäftigung, wenn es um reine Dienstleistungen geht und aufgrund der Eigenheiten der zu erbringenden Leistung ein erfolgsabhängiges Entgelt regelmäßig ausscheidet. Die Höhe des vereinbarten Honorars legt vielmehr eine selbstständige Tätigkeit nahe. Liegt es deutlich über dem Arbeitseinkommen eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und lässt es dadurch Eigenvorsorge zu, ist dies ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit.«

Dann aber das BSG weiter: »Allerdings handelt es sich auch bei der Honorarhöhe nur um einen bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Anhaltspunkt, weshalb weder an die Vergleichbarkeit der betrachteten Tätigkeiten noch an den Vergleich der hieraus jeweils erzielten Entgelte bzw Honorare überspannte Anforderungen gestellt werden dürfen.«

Vor diesem Hintergrund kommt auch Andreas Lutz in seinem Beitrag zu dem Ergebnis:

»Bei allem Enthusiasmus über das Urteil: Von einer Verfolgung wegen Scheinselbstständigkeit kann man sich auch künftig nicht durch ein hohes Honorar „freikaufen“. Die Höhe der Vergütung ist nur ein weiteres Kriterium im Rahmen einer Gesamtbetrachtung.

Wie im Urteil ausdrücklich festgehalten, muss die Tätigkeit weitgehend weisungsfrei erfolgen und der Selbstständige darf nicht in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingegliedert sein. Die vom BSG und BAG (Bundesarbeitsgericht) entwickelten Kriterien für bzw. gegen Scheinselbstständigkeit gelten auch weiterhin. Es ist wichtig, diese Merkmale bei der Formulierung des Vertrags bzw. bei der Beauftragung zu berücksichtigen und in der Praxis auch so zu „leben“.«

Man muss sich schon fragen, welche Absichten das BSG getrieben haben, die Honorarhöhe – und die dann auch noch „nur“ bezogen auf die Stundenbasis, unabhängig von der Gesamtstundenzahl – derart in den Mittelpunkt zu stellen, dass man tatsächlich den Eindruck bekommen kann, hier soll die Honorarhöhe als eigenständiges Merkmal in die zukünftigen Abgrenzungsverfahren eingezogen werden. Bei aller durchaus berechtigten Kritik aus dem Lager der Selbständigen erscheint dann doch eher die bisherige Abgrenzung nach der Weisungsgebundenheit und der Einbindung in die betriebliche Organisation des Auftraggebers nachvollziehbar. Möglicherweise sind die Richter getrieben worden durch die Tatsache, dass es tatsächlich Fallkonstellationen gibt im Bereich der IT- und der Entwicklungsaufgaben, wo jemand stark eingebunden sein muss in den Betrieb des Auftraggebers, sehr wohl aber mit seiner selbständigen Tätigkeit sehr gut über die Runden kommen kann und von daher eine Einstufung als abhängige Beschäftigung nicht nachvollziehen kann und will.

Aus einer eher sozialpolitischen Sicht kann man grundsätzlich die Sinnhaftigkeit einer Anbindung der Abgrenzung an die Honorarhöhe bezweifeln: Das Honorar als Abgrenzungskriterium stellt keine Lösung für die Fragen der Einhaltung bestehender Arbeits- und Sozialschutzstandards dar, denen sich Arbeitgeber durch die Beauftragung von Solo-Selbständigen entziehen. Auch vergleichsweise hohe Honorare pro Stunde können daher kritisch sein, wenn weiterhin Sozialschutzstandards unterminiert werden. Das Honorar schützt Selbständigen nicht vor Auftraggebern, die sich ihrer Verantwortung für Arbeitsschutz und soziale Sicherheit entziehen und diese einseitig zu Lasten der Auftragnehmer auf die Selbständigen übertragen. Es führt zu einer Belastung der Sozialkassen, da sich viele Gutverdienende und ihre Auftraggeber von der Versicherungspflicht lösen. Und ein Stundenhonorar ist kein geeignetes Kriterium, um die soziale Schutzbedürftigkeit zu beurteilen, vor allem, wenn man nicht die Gesamteinnahmen berücksichtigt und die zahlreichen denkbaren Fallkonstellationen einer erheblichen Streuung der Einnahmen zwischen den Monaten.

Gibt es dennoch Alternativen zu dem bisherigen Verfahren in Deutschland? Michael E. Meier hat versucht, eine solche am Beispiel der Schweiz aufzuzeigen – wo allerdings die Rentenversicherungsfrage dahingehend wesentlich entspannter ist, als dass jeder dort in der AHV versichert ist, unabhängig von seinem beruflichen Status.

In seinem Artikel Statusfeststellung in der Schweiz: Warum nicht so auch in Deutschland? berichtet er:

»Die Kriterien zur Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit sind in der Schweiz gar nicht so viel anders als in Deutschland. Allerdings unterscheidet sich das Verfahren – vor allem ist es sehr viel straffer organisiert. Dadurch bietet es höhere Rechtssicherheit. Rückwirkende Änderungen des Status kommen nur selten vor.

Die Statusfeststellung erfolgt ausschließlich durch eine sogenannte  Ausgleichskasse. Diese hat im Gegensatz zu unserer DRV kein starkes wirtschaftliches Eigeninteresse an einer Beurteilung in die eine oder andere Richtung … Sie prüft nur den Auftragnehmer, nicht den Auftraggeber und es wird auch nicht jeder Auftrag einzeln geprüft, was in Deutschland zu widersprüchlichen Beurteilungen führen kann. Stattdessen nimmt sie eine globale Beurteilung vor, ob eine Person in Bezug auf eine bestimmte Tätigkeit eher die Kriterien der Selbstständigkeit erfüllt oder nicht. Beispiel: Ein Assistent der Universität Zürich, der extern Vorträge hält, ist einerseits  als Universitätsangestellter unselbstständig, zugleich aber hinsichtlich seiner Tätigkeit als Referent und Gutachter selbstständig.

Wer in der Schweiz selbstständig tätig werden möchte, meldet dies vor der Gründung. Er erhält innerhalb von zwei bis vier Wochen von der Ausgleichskasse einen Feststellungsbescheid.

Im Fall eines positiven Bescheids erhält er eine Nummer als Selbstständiger, die in ein öffentliches Register eingetragen wird. Ein Auftraggeber kann sich durch einen Blick ins Register davon überzeugen, dass der Auftragnehmer tatsächlich selbstständig ist und verfügt dann über Rechtssicherheit.

Sollte sich Inhalt oder Wesen der beruflichen Tätigkeit ändern, so muss dies der Selbstständige der Ausgleichkasse melden, die sodann eine neuerliche Beurteilung vornimmt. Die Ausgleichskasse überprüft auch stichprobenweise von sich aus, ob die Tätigkeit sich so stark geändert hat, dass eventuell keine Selbstständigkeit mehr vorliegt.«

Aber auch in der Schweiz gibt es Entscheidungen, die den Vertretern der Selbständigen oder der Schein-Selbstänigen nicht passen werden – auch hier pragmatisch gelöst: »Es kommt öfter vor, dass die Ausgleichskasse zum Schluss gelangt, dass die Voraussetzungen für eine selbstständige Tätigkeit nicht mehr vorliegen (z.B. aufgrund einer lange andauernden Tätigkeit für nur einen Auftraggeber). In diesen Fällen erfolgt eine Statusänderung in Bezug auf die zukünftige berufliche Tätigkeit.« Und Pragmatismus hoch zwei ist dann das: »Es gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Sollte jemand viele Jahre selbstständig gewesen sein und zum Beispiel gegen Ende seiner Karriere die Kriterien nicht mehr erfüllen, so wird ihm sein Status belassen.«

Weiterhin mindestens Vollbeschäftigung. Für die Sozialgerichte von unten bis nach oben. Auch, aber nicht nur durch Hartz IV-Verfahren

Sozialgerichte haben eine wichtige sozialpolitische Funktion – sie sind oftmals die letzte Möglichkeit für den einzelnen Bürger, sich gegen Entscheidungen großer Sozialbürokratien zu wehren und darüber vielleicht doch noch zu seinem Recht zu kommen. Das ihm vielleicht aufgrund schlampiger Arbeit, vielleicht aber auch mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Mutwilligkeit vorenthalten wird. Natürlich gibt es wie immer auch die andere Seite der Medaille, also die von außen betrachtet exzessive Inanspruchnahme des sozialgerichtlichen Verfahrens, wo dann teilweise um skurrile Beträge oder Dinge gestritten wird. Zugleich muss man darauf hinweisen, dass das Sozialrecht zwar in zahlreichen Sozialgesetzbüchern und Verordnungen geregelt, in nicht wenigen Fällen sogar überregelt ist, auf der anderen Seite die Sozialgerichtsbarkeit immer wieder auch auf dem Wege des Richterrechts gestaltend eingreifen muss, wenngleich das nicht die eigentliche Aufgabe der Gerichte sein sollte, aber wir kennen die Tiefen und Untiefen des Richterrechts auch und gerade in der Arbeitsgerichtsbarkeit, um ein weiteres Feld zu nennen, das sozialpolitisch von großer Bedeutung ist. Das ist auch dann immer wieder zu beobachten, wenn der Gesetzgeber – was im Sozialrecht nicht der Ausnahmefall ist – mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet hat, die dann im Konfliktfall einer Entscheidung zugeführt werden müssen.

Nun hat das höchste deutsche Gericht in diesen Fragen, das Bundessozialgericht (BSG) mit Sitz in Kassel, seinen Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der seit Oktober 2016 in Amt und Würden befindliche neue Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, erläutert am Anfang des Tätigkeitsberichts seine Sicht auf die Sozialgerichtsbarkeit und der besonderen Rolle des BSG im Kontext der zahlreichen Sozialgesetze:

»Der Sozialgerichtsbarkeit kommt die Aufgabe zu, den ordnungsgemäßen Vollzug dieser Gesetze zu überprüfen und entsprechenden Rechtsschutz zu gewähren. Das Spektrum, über das das Bundessozialgericht wacht, ist groß. Es reicht von der Hilfe der Solidargemeinschaft für Kranke, für behinderte Menschen oder für Einkommensschwache über die Gewährleistung von Chancengleichheit zum Beispiel beim Thema Bildung bis hin zu der durch Beiträge finanzierten Absicherung gegen die Risiken von Erwerbsminderung und zur Altersvorsorge. Die Erwartungen des Bürgers an die Rechtsprechung und das Bundessozialgericht als oberster Instanz in sozialen Angelegenheiten sind hoch und nicht jeder Kläger, nicht jede Klägerin sieht ein, dass die Sozialgerichte zwar für die Kontrolle der Sozialverwaltung, nicht aber für den Inhalt der Gesetze zuständig sind.«

Man erkennt schnell, dass hier alle großen sozialpolitischen Felder bespielt werden (müssen). In einem Artikel über den Tätigkeitsbericht hat die FAZ am 11.02.2017 (Print-Ausgabe) bilanziert, dass man sich gerne vor Gericht streitet, insbesondere wegen der Unfallversicherung und des Arbeitslosengelds.

Die Zahl der neu eingehenden Klagen vor dem Bundessozialgericht (BSG) ist rückläufig. Im Jahr 2016 mussten sich die Kasseler Richter mit 3.691 neuen Verfahren beschäftigen. Im Vergleich zum Vorjahr 2015 ist das zwar ein Rückgang von 341 Verfahren, man übertreffe aber die Zahlen von 2012 und 2013, die bislang als „Rekordjahre“ galten.

Und inhaltlich? »Im vergangenen Jahr haben sich einige Schwerpunkte verschoben. Die Zahl der Verfahren gegen Hartz-IV-Bescheide ging stark zurück. Deutlich mehr beschäftigten die Sozialrichter Streitigkeiten aus dem Bereich der Unfallversicherung, etwa inwieweit der Versicherungsschutz von Mitarbeitern während der Arbeit im „Home Office“ reicht. Auch Arbeitsunfälle im Rahmen von betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen, insbesondere bei Weihnachtsfeiern und Sportfesten, haben das oberste deutsche Sozialgericht zuletzt stark ausgelastet«, kann man dem FAZ-Artikel entnehmen.

Auch wenn das BSG natürlich vor allem interessant wird, wenn es um Grundsatzfragen geht, die eigentlich abschließend geklärt sein sollten, wenn dort eine Entscheidung fällt, muss man sehen, dass es Fallkonstellationen gibt, bei denen ganz zentrale Grundsatzfragen auf einer noch höheren Ebene verhandelt werden, man nehme nur das so umstrittene Thema der Sanktionen im SGB II als Beispiel. Das ist über eine Richtervorlage vom Sozialgericht Gotha im zweiten Anlauf (vgl. dazu den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016) die Grundsatzfrage nach einer möglichen Verfassungswidrigkeit endlich nach Karlsruhe getragen worden. Die werden diese wichtige Frage in diesem Jahr beantworten (müssen). Mal sehen, wie das vor dem BVerfG ausgeht – das BSG hatte sich dazu bereits und recht eindeutig zu Wort gemeldet: Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar!, so und im Original mit Ausrufezeichen ist eine Pressemitteilung des BSG vom 9 März 2016 überschrieben mit Bezug auf BSG, Urteil vom 9.3.2016, B 14 AS 20/15 R. In der Pressemitteilung des Gerichts findet man diesen explizit verfassungsrechtlich argumentierenden Passus:

»Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts.«

Das nun sehen offenbare einige andere Sozialrichter nicht so und haben den Weg einer Richtervorlage gewählt.

Und es sollte auch auf eine andere Fallkonstellation hingewiesen werden, bei der die obersten Sozialrichter nicht auf die Gefolgschaft der Sozialgerichte unter dem BSG zählen kann – gemeint ist hier die Rechtsprechung des BSG einen Sozialhilfeanspruch für EU-Ausländer betreffend. Vgl. dazu den Beitrag Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG vom 25. Februar 2016. Die vom BSG entwickelte Sichtweise wurde von einigen Sozialgerichten offensichtlich nicht geteilt und als „übergriffig“ gegenüber dem Gesetzgeber verstanden, der wiederum hat zwischenzeitlich reagiert mit dem „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“, das explizit als Antwort auf die BSG-Rechtsprechung verstanden werden muss. Man sieht, kein einfaches Geländes, auf dem wir uns bewegen.

Bei aller Bedeutung der höchstrichterlichen Ebene – aus Sicht der Lebenslagen der vielen Menschen  lohnt ergänzend und zugleich auch unabhängig von dem, was auf der BSG-Ebene so getan wird, ein Blick „nach unten“, auf die Arbeit der Sozialgerichte vor Ort. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen das Sozialgericht Leipzig. Auch die haben nun einen Jahresrückblick 2016 veröffentlicht, der naturgemäß etwas anders aussieht als das, was dann später irgendwann einmal „ganz oben“ beim BSG anlandet.

In deren Jahresrückblick findet man am Anfang eine Entsprechung zu dem, was das BSG berichtet:

»Im Jahr 2016 hat sich der Rückgang der eingehenden Verfahren beim Sozialgericht Leipzig weiter fortgesetzt. Die insgesamt 6.956 Klagen und einstweiligen Rechtsschutzverfahren bedeuten im Vergleich zu 2015 einen Rückgang um 7,5 % und markieren zugleich den niedrigsten Wert seit dem Jahr 2006. Noch deutlicher war der Rückgang bei den 3.775 Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch („Hartz IV“) um 11,7 % im Vergleich zum Vorjahr. Die große Klagewelle der Vorjahre, die im Jahr 2010 mit 8.451 Verfahren (davon 4.938 „Hartz-IV“-Verfahren) ihren Höhepunkt erreicht hatte, scheint damit einstweilen abgeebbt. Trotz der Eingangsrückgänge hat sich der Bestand der offenen Verfahren auf nunmehr 10.531 leicht erhöht. Auch die durchschnittliche Laufzeit der Verfahren hat mit jetzt 18,4 Monaten signifikant weiter zugenommen; bei den „Hartz-IV-Verfahren ist die durchschnittliche Laufzeit sogar auf 21,3 Monate angestiegen.«

Das muss man sich mal vorstellen – 21,3 Monate durchschnittliche Laufzeit bei Hartz IV-Verfahren. Das Sozialgericht Leipzig spricht in seiner Pressemitteilung selbst von „unerträglich langen Verfahrenslaufzeiten“. Das muss man nicht weiter kommentieren.

Foto: © Stefan Sell