Wenn die Fundamente bröckeln: Für Berufsschulen werden händeringend Lehrkräfte gesucht. Auch vielen Grund- und Förderschulen gehen die Lehrer aus

Die älteren Semester werden sich noch an die 1980er und 1990er Jahren erinnern, als man ein Lehramtsstudium als fast sichere Eintrittskarte in die Arbeitslosigkeit bzw. in die Karriere als Taxifahrer oder Gastwirt etikettiert hat. Aber das waren eben auch Zeiten, in denen man selbst von einer „Ärzteschwemme“ gesprochen hat, weil es zu viele Mediziner gab, die wie viele andere damals auch in langen Warteschlangen auf dem Arbeitsmarkt ihr individuelles Glück suchen bzw. mit viel Ellbogeneinatz erkämpfen mussten. Die geburtenstarken Jahrgänge strömten auf den Ausbildungsmarkt, in die Hochschulen und dann als Absolventen auf den Arbeitsmarkt. Mittlerweile sind die Angehörigen der „Baby Boomer“-Generation über 50 und stellen (noch) die Mehrheit der Beschäftigten in den Betrieben.

Auf dem Arbeitsmarkt hingegen haben sich die Angebots-Nachfrage-Relationen ganz erheblich verschoben, zugunsten vieler Arbeitnehmer (von denen die meisten diesen fundamentalen Wandel der Marktbedingungen noch gar nicht realisiert haben). Auch wenn man äußerst vorsichtig sein sollte bei der Verwendung des Begriffs „Fachkräftemangel“, unter dem Arbeitgeber naturgemäß etwas anderes verstehen als Arbeitnehmer, so lässt sich doch mit Blick in einzelne Bereiche nicht wirklich leugnen, dass wir mit einem teilweise erheblichen Mangel an bestimmten Fachkräften konfrontiert sind. Für viele Menschen wird das derzeit beispielsweise mehr als offensichtlich im Bereich des Handwerks. Dort kann man immer öfter froh sein, wenn man überhaupt an einen Termin kommt – und der hat dann eine Wartezeit wie die bei Orthopäden oder Augenärzten. Bei den Handwerkern gibt es wie immer bei solchen komplexen Themen mehrere Gründe, vor allem das rückläufige Interesse an einer handwerklichen Ausbildung bei den an sich schon weniger werdenden jungen Menschen, aber wir ernten jetzt auch die Früchte des jahrelangen unterlassenen Tuns, also das zu wenig ausgebildet wurde, als es noch viele Bewerber gab. Die fehlen jetzt natürlich vorne und hinten, vor allem angesichts der vielen älteren Handwerker und Facharbeiter, die sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden.

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Auszubildende auf der Flucht? Oder doch nicht? Man muss schon genauer hinschauen. Neue Zahlen und alte Befürchtungen zu den Entwicklungen auf dem „Ausbildungsmarkt“

Da sind sie wieder, die Schlagzeilen, die auf große Probleme hindeuten: Die Azubi-Krise beispielsweise: »Betriebe in Deutschland stellen 80.000 Ausbildungsplätze weniger zur Verfügung, als noch vor zehn Jahren. Dennoch sind die Chancen für Bewerber besser als zuletzt – weil die Zahl der Interessenten noch dramatischer gesunken ist.« Und Daniel Eckert hat seinen Artikel so überschrieben: Das Ausbildungsparadox – eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft. »Die Situation auf dem deutschen Ausbildungsmarkt scheint paradox. Es gibt Stellen, und es gibt Bewerber, aber oft finden beide nicht zueinander. Vor allem im Osten des Landes tut sich eine riesige Kluft auf. Deutschlandweit fanden die Betriebe im Jahr 2016 – aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor – für 43.000 ihrer Ausbildungsstellen keinen passenden Bewerber. Rund jede zwölfte Stelle blieb unbesetzt. In den ostdeutschen Flächenländern war sogar für mehr zehn Prozent aller Ausbildungsplätze kein geeigneter Interessent zu finden. Gleichzeitig gingen bundesweit 80.000 oder gut 13 Prozent der Ausbildungsbewerber leer aus.«

Auf der anderen Seite findet man in der aktuellen Berichterstattung auch solche Meldungen am Beispiel der Hansestadt Hamburg: Boom bei Berufsausbildung hält an: »Obwohl 55,6 Prozent der Jugendlichen in der Hansestadt die Schule mit dem Abitur verlassen, entscheiden sich viele Mädchen und Jungen für eine berufliche Ausbildung.«

Die Artikel beziehen sich alle auf eine neue Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde:
Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) (2017): Ländermonitor berufliche Bildung 2017. Zusammenfassung der Ergebnisse, Gütersloh 2017

»Ob Jugendliche einen Ausbildungsplatz finden, ist stark abhängig vom Wohnort. Im Norden werden Bewerber schwerer fündig als im Süden, wo Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können. Bundesweit hat sich die Situation für Bewerber leicht verbessert, Hauptschüler profitieren davon jedoch kaum.« So beginnt die Zusammenfassung des neuen Länderreports: Region und Schulbildung entscheiden über Chancen auf Ausbildungsmarkt. Hier wird auf die erheblichen regionalen Disparitäten hingewiesen: »2016 standen in Bayern 100 Bewerbern 104 Ausbildungsplätze gegenüber, in Schleswig-Holstein nur 88. In den östlichen Flächenländern ist der Rückgang der dualen Ausbildung besonders dramatisch. Zwischen 2007 und 2016 ist dort die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze um knapp 40 Prozent und die Zahl der Bewerber um 46 Prozent gefallen.«

Folgende besondere Problembereiche werden identifiziert:

»Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt scheint paradox. 2016 fanden Betriebe für 43.000 Ausbildungsstellen keinen passenden Bewerber. Knapp acht Prozent aller Stellen blieben damit unbesetzt. In den ostdeutschen Flächenländern war es sogar mehr als jeder zehnte Ausbildungsplatz. Trotz der offenen Stellen gingen bundesweit 80.000 der Ausbildungsbewerber leer aus – also fast jeder siebte. Jugendliche und Betriebe kommen schon geographisch oft nicht zueinander. Im Süden Bayerns suchen die Betriebe händeringend Azubis, im Ruhrgebiet ist die Situation umgekehrt.

Hinzu kommt, dass Ausbildungsstellen in Berufen und Betrieben angeboten werden, für die sich Bewerber nicht interessieren. Besonders schwer haben es kleinere Betriebe, die in für Jugendliche unattraktiven Berufen ausbilden, beispielsweise im Hotel- und Gaststättengewerbe …

Obwohl sich die Lage für Bewerber verbessert hat und Stellen unbesetzt bleiben, profitieren Hauptschüler davon kaum. Im Jahr 2015 gelang es nur jedem zweiten Schulabgänger mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss, direkt eine Ausbildung im dualen oder im Schulberufssystem aufzunehmen. Die andere Hälfte wechselt zunächst in eine der zahlreichen Maßnahmen des Übergangssystems, in denen kein Berufsabschluss erworben werden kann.«
Diese Diagnosen sind nicht wirklich neu. Gibt es Handlungsvorschläge? Dazu wird Jörg Dräger zitiert, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung:

„Betriebe sollten neue Wege der Bewerberansprache einschlagen, sich verstärkt neuen Zielgruppen öffnen und in unattraktiven Berufen die Rahmenbedingungen verbessern.“ Gleichzeitig bräuchten insbesondere kleine Betriebe bessere Unterstützung bei der Ausbildung, zum Beispiel in Form von sozialpädagogischer Begleitung von Betrieb und Azubi. Die vorhandenen Fördermöglichkeiten sind oft zu unflexibel und zu wenig bekannt.

Und mit Blick auf die abgekoppelten Hauptschulabsolventen: „Wir treten dafür ein, jedem jungen Menschen die Chance auf einen Berufsabschluss zu eröffnen – auch mit einer staatlichen Ausbildungsgarantie.“

Die Zahlen aus dem Ländermonitor gehen bis in das Jahr 2016. Neuere Daten hat das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn diese Tage veröffentlicht: Angebot und Nachfrage mit leichtem Plus, jedoch erneut mehr unbesetzte Plätze. Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2017. Die Tabelle am Anfang dieses Beitrags ist der ausführlichen Fassung der neuen Zahlen entnommen:

Stephanie Matthes, Joachim Gerd Ulrich, Simone Flemming und Ralf-Olaf Granath (2017): Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2017. Angebot und Nachfrage mit leichtem Plus, jedoch erneut mehr unbesetzte Plätze, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, Dezember 2017

Das BIBB berichtet zu dem Thema: »2017 nahmen auf dem Ausbildungsmarkt sowohl die Zahl der angebotenen Plätze als auch die Zahl der jungen Menschen zu, die eine Berufsausbildung nachfragten. Allerdings stieg zum achten Mal in Folge die Zahl der Ausbildungsplätze, die nicht besetzt werden konnten. Mit 48.900 gab es so viele offene Ausbildungsstellen wie seit 1994 nicht mehr. Gebrochen wurde dagegen der Negativtrend bei der Ausbildungsplatznachfrage: Sie stieg erstmalig seit 2011 an, u. a. weil zunehmend mehr Geflüchtete unter den Ausbildungsstellenbewerbern zu finden waren.«

Und auch das BIBB weist auf diese (scheinbare) Paradoxie hin: »Die erneute Zunahme der Besetzungsprobleme von Ausbildungsplätzen und das nahezu unveränderte Ausmaß der Versorgungsprobleme von Ausbildungsstellenbewerbern führten dazu, dass sich die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt weiter verschärften.«

Zu der hier in Klammern eingeschobenen „scheinbaren“ Paradoxie: Immer wieder – auch beim BIBB – wird ganz selbstverständlich von einem „Ausbildungsmarkt“ gesprochen. Die Diagnose einer Paradoxie – auf der einen Seite nicht besetzte (besetzbare?) Ausbildungsstellen, auf der anderen Seite aber viele junge Menschen, die keinen direkten Einstieg in eine Berufsausbildung finden (können/wollen?) – wird abgeleitet aus der Gegenüberstellung der großen Zahlen auf der Angebots- und Nachfrageseite. Aber ist das überhaupt ein geeigneter Maßstab? Haben wir es wirklich mit einem „Markt“ zu tun?

Dazu bereits der Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016. Dort findet man diesen Hinweis, der als Plädoyer für eine differenzierte Sichtweise zu verstehen ist:

»… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.

Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.

Hinzu kommt – und das sollte nicht unterschätzt werden – eine weiterhin durchaus sehr eingeschränkte und dann auch noch geschlechtsspezifische Wahl der Ausbildungsberufe, wobei gerade die jungen Frauen immer noch Berufe wählen, von denen man nicht wird leben können oder nur unter sehr restriktiven Bedingungen.

Es ist halt alles nicht so einfach im wirklichen Leben jenseits der Zahlen.«

Arme Azubis. Und bedauernswerte Ausbildungsbetriebe. Alles neben den vielen Fällen, in denen es gut läuft. Und eine bröckelnde Bildungsrepublik

Es hat sich offensichtlich eine Menge geändert. Jahrelang ging es um den Mangel an Lehrstellen und seit einiger Zeit liest und hört man (fast) nur noch was von einem Mangel an Auszubildenden. Es geht also wieder einmal um den „Ausbildungsmarkt“, der vor allem deshalb hier in Anführungsstriche gesetzt wird, weil es eben nicht wirklich einen „Markt“ mit den dort wirkenden Mechanismen gibt.

Dazu wurden in diesem Blog in dem Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016 die folgenden zusammenfassenden Hinweise gegeben: »… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.
Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.«

Es gibt eben nicht einen großen „Markt“, auf den man es mit einem Angebot und einer Nachfrage zu tun hat. Bereits innerhalb von Regionen wird man mit Passungsproblemen konfrontiert. Beispiel Berlin-Brandenburg: In diesen Tagen wurde von der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit (BA) bekannt gegeben, dass aktuell rund 9.000 Ausbildungsstellen unbesetzt sind, während noch über 10.000 Jugendliche nach ihrem frisch erworbenen Schulabschluss ohne Anschlussperspektive sind. Da hilft es dann angesichts der überaus ausgeprägten regionalen Verfasstheit von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage auch nicht, wenn man feststellt, dass in München viele Abzubistellen nicht besetzbar sind, aber im Ruhrgebiet viele Jugendliche, selbst mit passablen Schulabschlüssen, eine Ausbildungsstelle suchen, aber nicht finden. Ein „einfacher“ Ausgleich in dem Sinne, dass dann die jungen Menschen eben nach München ziehen sollen, funktioniert nicht wirklich, was man angesichts der Rahmenbedingungen auch schnell nachvollziehen kann.

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack wird dann auch mit diesen Zahlen zitiert: » „Die Lage ist nach wie vor angespannt, auch wenn es im letzten Jahr 43.000 unbesetzte Ausbildungsstellen gab. Ihnen gegenüber stehen 280.000 junge Menschen, die im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Insbesondere Hauptschulabsolventen haben es schwer auf dem Ausbildungsmarkt.« Speziell zu den Problemen der Hauptschüler (aber auch den Problemen von Betrieben mit ihnen) der Beitrag Trotz Azubi-Mangels: Viele Hauptschüler finden keinen Ausbildungsplatz von Deutschlandfunk Kultur.

Und zu den Rahmenbedingungen einer dualen Berufsausbildung in Deutschland gehören eben auch die Bedingungen, unter denen die Auszubildenden lernen und arbeiten – und schon sind wir mittendrin in der immer wiederkehrenden kritischen Diskussion – zuweilen auch überwiegend arbeiten müssen, aber wenig lernen können.

Dieser Vorwurf wird regelmäßig von der Gewerkschaftsseite ins Feld geführt. Unter der Überschrift Ausbildungsreport 2017: Ausbildungsqualität endlich verbessern! hat sich der DGB zu Wort gemeldet. Es geht dabei um diese Veröffentlichung:

DGB-Bundesvorstand (2017): Ausbildungsreport 2017, Berlin, August 2017

An der repräsentativen Befragung haben sich 12.191 Auszubildende aus den laut Bundesinstitut für Berufsbildung 25 häufigsten Ausbildungsberufen beteiligt.

Beginnen wir entgegen der heute üblichen Dramaturgie mit einer positiven Zahl, die man – auch – in dem neuen Ausbildungsreport der Gewerkschaften finden kann: Danach sind die meisten Auszubildenden (71,9 Prozent) mit ihrer Ausbildung zufrieden. Das ist erst einmal kein schlechter Wert – aber eben auch ein Durchschnittswert über alle Auszubildenden hinweg.

Bei den Zufriedenheitswerten gibt es aber erhebliche Branchenunterschiede: Mechatroniker, Industriekaufleute und Industriemechaniker sind über Durchschnitt zufrieden. Friseurinnen und Friseure, Auszubildende in Teilen des Hotel- und Gaststättenbereichs und Fachverkäufer des Lebensmittelhandwerks, bewerten ihre Betriebe hingegen mangelhaft. Nun ist es nicht verwunderlich, dass gerade in den Branchen mit hohen Unzufriedenheitswerten zum einen die Bewerberlage aus Sicht der Betriebe mangelhaft bis desaströs ist – und zugleich haben wir dort auch sehr hohe Abbrecherzahlen (vgl. dazu differenzierter am Beispiel der Köche den Beitrag Frust am Herd – Köche auf der Flucht? Von klagenden und zufriedenen Azubis, Ausbildungsabbrüchen und einem Azubimangel zwischen Hysterie und Realität vom 8. November 2016).

Die Liste der gewerkschaftlichen Kritikpunkte ist lang. »Über ein Drittel der Auszubildenden leistet regelmäßig Überstunden. Fast genauso vielen (35,4 Prozent) liegt kein betrieblicher Ausbildungsplan vor, eine Überprüfung der Ausbildungsinhalte ist ihnen daher nur schwer möglich. Mehr als jeder zehnte Azubi (11,5 Prozent) übt regelmäßig ausbildungsfremde Tätigkeiten aus. Die Abstimmung zwischen Betrieben und Berufsschulen ist oft schlecht.«

Die Vorwürfe werden auch in der Medienberichterstattung aufgegriffen. Ein Beispiel ist der Beitrag Ausbeutung statt Ausbildung: Wie Nachwuchsfachkräfte ausgenutzt werden des Politikmagazins „Report Mainz“ (ARD): »Viele Auszubildende werden in ihren Betrieben als billige Arbeitskraft missbraucht statt als Fachkraft für morgen ausgebildet zu werden. Die Politik könnte das Berufsbildungsgesetz ändern, um die Azubis besser zu schützen, tut es aber nicht«, so die These des Beitrags in der Sendung am 29.08.2017.

Der Beitrag greift eine der Forderungen des DGB direkt auf: »Nach Meinung von Gewerkschaften fehlen Kontrollen und Sanktionen gegen die betreffenden Unternehmen. Laut Berufsbildungsgesetz sollen die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern zwar ihre Mitgliedsunternehmen kontrollieren und gegebenenfalls dafür sorgen, dass deren Ausbildungsberechtigung entzogen wird. Doch das findet nur begrenzt statt. Die Gewerkschaften halten es für einen Systemfehler, dass die Kammern ihre eigenen Mitgliedsbetriebe kontrollieren sollen und fordern ein unabhängiges Institut. Dafür müsste allerdings das Berufsbildungsgesetz geändert werden. Doch die Bundesbildungsministerin sieht dafür keinen Bedarf.« Zu den Forderungen des DGB vgl. auch die Seiten 40 f. des Ausbildungsreports 2017.

Auch einige Azubis protestieren gegen die Bedingungen, unter denen sie ihre Ausbildung machen (müssen). Ein gerade bei Frauen immer noch überaus beliebter Ausbildungsberuf sei hier besonders erwähnt: Friseure. »Friseur-Azubis protestieren gegen Niedriglöhne, Überstunden und Zeitstress«, so Ines Wallrodt in ihrem Artikel Schlechter Schnitt:

Im Durchschnitt bekommen Friseur-Azubis nach Angaben von ver.di im Osten 269 Euro, im Westen 494 Euro im Monat. In Sachsen liegt die Durchschnittsvergütung bei 200 Euro, in Thüringen bei 205 Euro. Den Negativrekord hält Sachsen-Anhalt. Dort werden Azubis mit 153 Euro abgespeist – irgendwann wurde D-Mark in Euro umgerechnet, mehr hat sich in 25 Jahren nicht geändert. Im Osten ist es besonders schlimm, aber auch in Hamburg, einer der teuersten Städte Europas, verdienen angehende Friseure lediglich 325 Euro. Von ihrem Lohn müssen Azubis nicht selten teure Scheren und Kämme bezahlen, Überstunden sind häufig. Was für die Prüfung nötig ist, muss in der Freizeit gelernt werden. Der Gewerkschaftssekretär Marvin Reschinsky wird mit diesen Worten zitiert: »Azubis werden systematisch als billige Arbeitskräfte eingesetzt.« Anspruch auf Mindestlohn haben sie nicht. Ein Großteil sei deshalb auf Hilfe aus der Familie oder vom Staat angewiesen.

Auch in diesem Artikel wurde das Thema aufgegriffen: Vollzeit arbeiten für 153 Euro im Monat.

Die Spannweite bei dem, was Azubis bei tarifvertraglich geregelten Beträgen bekommen, ist enorm: Ausbildungsvergütungen: Regionale Unterschiede bis zu 299 Euro im Monat, so die Information des WSI-Tarifarchivs, der auch die Abbildung entnommen ist. Und da sind die Friseure noch nicht einmal enthalten.

Aber es geht nicht nur um die die Vergütung der Auszubildenden. Das gesamte System der dualen Berufsausbildung steht inmitten einer mehrfachen strukturellen Herausforderung – darauf wurde in diesem Blog in zahlreichen Beiträgen immer wieder hingewiesen. Zum einen sinkt die Zahl der an einer dualen Berufsausbildung interessierten jungen Menschen, nicht nur, aber eben auch aufgrund des Sogeffekts der hochschulischen Ausbildung, der einhergeht mit einer stetig steigenden Zahl an Schulabgängern, die irgendeine Form der Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Hinzu kommt, dass die Zahl der ausbildenden Betriebe rückläufig ist, teilweise auch bedingt durch Besetzungsprobleme der Betriebe, die irgendwann aufgeben. Und in anderen Branchen, in denen wir Beschäftigungswachstum verzeichnen, gibt es zwar mehr Unternehmen, von denen aber viele noch nie ausgebildet haben.

Da überrascht dann so eine Überschrift nicht wirklich: Arbeits- und Ausbildungsmarkt entwickeln sich auseinander. In dem Artikel wird über eine neue Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen berichtet. Die Zahl der Beschäftigten ist zwischen 1999 und 2015 um 12,1 Prozent gestiegen – im gleichen Zeitraum ging die Zahl der Auszubildenden um 6,7 Prozent zurück. »Der Studie zufolge gibt es zudem deutliche regionale Unterschiede: Während die Ausbildungsquote im Westen etwa in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen zwischen 1999 und 2015 fast konstant blieb, halbierte sie sich im selben Zeitraum in den ostdeutschen Bundesländern. Hinzu kommt: Der betriebliche Bedarf und die an einer Ausbildung interessierten Schulabsolventen passten immer weniger zusammen.  Der Entkoppelungseffekt zeigt sich über alle Betriebsgrößen und Branchen, jedoch unterschiedlich stark. Besonders deutlich ist der Rückgang der Ausbildungsquote bei den Kleinstbetrieben mit bis zu fünf Mitarbeitern. Lag die Ausbildungsquote hier 1999 bei 7,0 Prozent, waren es 2015 4,9 Prozent. „Für Kleinst- und Kleinbetriebe ist die Ausbildung am schwierigsten zu stemmen. Sie bilden überproportional Jugendliche mit schwächeren Schulabschlüssen aus, haben dafür aber am wenigsten Ressourcen“.« Mehr dazu in der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Studie Entwicklung der Berufsausbildung in Klein- und Mittelbetrieben.

Aber zur dualen Berufsausbildung gehören nicht nur die Betriebe, sondern auch die Berufsschulen. Und auch dort werden wir konfrontiert mit den Auswirkungen struktureller Probleme. Schon seit langem wird im Kontext des um sich greifenden Lehrermangels auf die besonders schwierige Situation vieler Berufsschulen verwiesen. Auch der in jüngster Zeit wieder heftig beklagte Unterrichtsausfall an den Schulen insgesamt (vgl. dazu das Interview mit Heinz-Peter Meidinger, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes: „Es fallen jede Woche rund eine Million Unterrichtsstunden aus“) schlägt in vielen Berufsschulen überdurchschnittlich stark zu Buche.
Als dualer Lernortpartner ist die Teilzeit-Berufsschule eine wichtige Säule im Kontext der Ausbildung im dualen System. Sie hat die Aufgabe, die im Rahmenlehrplan verankerten fachtheoretischen Ausbildungsinhalte zu vermitteln und die Allgemeinbildung der Schüler/-innen zu vertiefen. Eine Bestandsaufnahme wurde kürzlich vom Bundesinstitut für Berufsbildung veröffentlicht:

Monika Hackel, Christoph Junggeburth, Anita Milolaza, Magret Reymers und Maria Zöller (2017): Berufsschule im dualen System – Daten, Strukturen, Konzepte. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 185, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

In der abgewogenen Sprache der Wissenschaftler findet man dort die folgenden Hinweise:

»Im Fokus der vorliegenden Studie steht die demografische Entwicklung. Bis 2035 wird ein starker Rückgang der Schülerzahlen prognostiziert. Dieser Rückgang hat auch Auswirkungen auf die Beschulung dualer Berufsbilder. Im Rahmen der Ord­nungsverfahren wird seit einigen Jahren vermehrt geprüft, ob eine Zuordnung von Berufen zu Berufsgruppen möglich ist, um besonders in strukturschwachen Regionen eine gemeinsame Be­schulung unterschiedlicher Berufe durchzuführen.«
Das muss vor dem Hintergrund der folgenden Befunde gesehen werden (S. 7 f.):

  • Der Rückgang der Schülerzahlen an beruflichen Schulen hat bereits zu Schließungen von Klassen und Teilzeit-Berufsschulen geführt; mit der Konsequenz, dass je nach Ausbildungs­gang eine wohnortnahe Beschulung im berufsspezifischen Unterricht zunehmend schwieri­ger wird. Insbesondere Berufsschulstandorte in Ostdeutschland sind betroffen.
  • Im Umgang mit dieser Entwicklung sind sehr unterschiedliche Strategien zu beobachten. Diese reichen von der zentralen Beschulung an einem Berufsschulstandort mit der Möglich­keit differenzierter Klassen bis hin zu einer Favorisierung wohnortnahen Unterrichts mit ho­hem Stellenwert der Binnendifferenzierung bei berufs- oder fachrichtungsübergreifenden Klassen.
  • Die Gewinnung von Lehrkräften für den berufsspezifischen Unterricht ist besonders in ge­werblich-technischen Berufen ein Problem. Hier sind Maßnahmen zur Attraktivitätssteige­rung des Lehramts an Berufsschulen erforderlich.
  • Künftige Lösungsoptionen, über die aktuell aufgezeigten Fallstudien-Ergebnisse hinaus, könnten möglicherweise die Gestaltung standortübergreifender Schulentwicklungsplanung, die Schaffung von Informations- und Kommunikationsstrukturen, E-Learning-Angeboten, jahrgangsübergreifenden Fachklassen, die Bereitstellung berufsspezifischer Lehr-/Lernkonzepte für einen binnendifferenzierten Unterricht oder finanzielle Förderung darstellen. Die finanzielle Förderung könnte sowohl bei der Ausstattung von Schulen als auch bei der Lehreraus- und -weiterbildung ansetzen.

Allein diese (noch „liebevoll“ formulierten) Hinweise verdeutlichen, welche Planungs- und Investitionsbedarfe vorliegen, um einen mittelfristigen Zusammenbruch des Systems der dualen Berufsausbildung, das neben den Betrieben (und den Bewerbern) eben auch von den Berufsschulen abhängt, zu verhindern. Das zusätzlich zu den massiven Problemen, die wir im vorgelagerten allgemeinbindenden Schulsystem haben und diskutieren. Hinzu kommen die erheblichen Quantität- und Qualitätsprobleme der hochschulischen Ausbildung. Die „Bildungsrepublik“ Deutschland bröckelt und fault an vielen Fronten.

Auch und gerade vor diesem Hintergrund muss dann frustriert zur Kenntnis genommen werden, dass das Thema Bildung und Ausbildung im TV-Duell von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz (SPD) am Abend des 3. September 2017 vor einem Millionenpublikum exakt in 0 Minuten behandelt wurde. Also gar nicht. Was wirft ein schlechteres Licht auf die Angelegenheit, als dieser Befund. Das wird sich angesichts des Problemstaus in diesem für die Zukunftsfähigkeit des Landes so wichtigen Bereichs noch mal ganz bitter rächen. An Warnungen und dringenden Aufforderungen, endlich mal in die Pötte zu kommen, mangelt es nicht in der Mangelrepublik Deutschland.