Die faktische Kraft des Formalen auf dem Arbeitsmarkt und die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen

Jeder, der sich nur ein wenig auskennt im Bereich der Arbeitsvermittlung, weiß um den Stellenwert des formalen Berufsabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die hier agierenden Arbeitgeber sind sehr stark abschlussorientiert, was bedeutet, dass das Vorhandensein eines, zuweilen irgendeines Berufsabschlusses als Flaschenhals beim Zugang zu einer, zuweilen irgendeiner Beschäftigung fungiert. Das ist dann nicht nur ein  Problem für die Arbeitsuchenden, die keinen solchen Abschluss haben, sondern auch für die, die beispielsweise während einer mehr oder weniger langen Zeit der Arbeitslosigkeit an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben, die mit einem Zertifikat des Maßnahmeträgers abgeschlossen wurden, denn viele (potenzielle) Arbeitgeber werten diese Zertifikate unterhalb eines formalen Berufsabschlusses sehr niedrig. Insofern kann ein fehlender Berufsabschluss auf dem deutschen Arbeitsmarkt wie ein – notwendigerweise ungerecht wirkendes – statistisches Ausschlussmerkmal den Zugang zu einem neuen Job blockieren, selbst wenn der Betroffene eigentlich über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. Aber er kommt gar nicht in die Nähe einer Chance, diese überhaupt zeigen zu können. Eine Studie aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat diesen an sich seit langem bekannten Sachverhalt neu aufgerufen und mit Daten zu belegen versucht.

»Eine Stelle findet leichter, wer einen formalen Abschluss vorweisen kann. Wie viel jemand tatsächlich kann, spielt dagegen oftmals eine überraschend geringe Rolle«, so die zutreffende Zusammenfassung des Hautergebnisses der neuen WZB-Studie  in dem Artikel Abschluss schlägt Können.

Die WZB-Studie im Original: Jan Paul Heisig und Heike Solga: Ohne Abschluss keine Chance. Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus. WZBrief Arbeit 19, Berlin, Januar 2015

Amory Burchard beschreibt die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie in dem Artikel Rechnen gut, Jobaussichten schlecht so: Ausgangspunkt ist die 2013 veröffentlichte OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), umgangssprachlich zuweilen als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet. PIAAC »misst, wie gut weltweit Menschen im erwerbsfähigen Alter lesen, rechnen und mit digitalen Medien umgehen können. Getestet wurden alltägliche Fähigkeiten, wie man sie etwa beim Einkaufen braucht, zur Interpretation von Statistiken oder um sich im öffentlichen Nahverkehr zurechtzufinden.« Ob nun 15-jährige Schüler untersucht werden oder eben Erwachsene – immer greift die OECD auf das gleiche Kompetenzstufenmodell zurück:

»Wer nur auf der ersten von fünf Kompetenzstufen lesen oder rechnen kann, also nicht in der Lage ist, etwas komplexere Aufgaben zu lösen, gehört der „Risikogruppe“ an, die weder im Alltag noch im Berufsleben gut zurechtkommen kann. In Mathematik gehören aktuell knapp 17,7 Prozent der deutschen Schüler dieser Gruppe an, beim „Erwachsenen-Pisa“ waren es 18,5 Prozent.«

Dass die Zugehörigkeit zu der „Risikogruppe“, bei der elementare Fähigkeiten fehlen, oftmals mit einer sehr hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit korreliert, überrascht nicht wirklich, sind doch in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Arbeitsplätze wegrationalisiert worden, auf denen früher diese Menschen Arbeit gefunden haben. Dazu findet man in die Studie die folgenden allgemeinen Hinweise:

»Seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren ist der Anteil an formal gering qualifizierten Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium in der Bevölkerung stark gesunken: 1978 waren noch etwa 36 Prozent der 25- bis 55-Jährigen in Westdeutschland gering qualifiziert. 2012 traf dies nur noch auf 17 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe zu. Zugleich haben sich die Arbeitsmarktchancen von formal gering Qualifizierten seitdem dramatisch verschlechtert – in Deutschland wie in fast allen Industrieländern. In Westdeutschland erhöhte sich die Arbeitslosenquote von Erwachsenen ohne Berufsausbildung oder Hochschulabschluss zwischen 1980 und 2010 von 5,9 auf 19,1 Prozent. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote von Personen mit Berufsausbildung von 2,1 auf 4,5 Prozent, die von Menschen mit Studienabschluss von 1,8 auf 2,0 Prozent an.« (Heisig/Solga 2015: 2)

Die Wissenschaftler vom WZB haben nun einen ganz besonderen Ausschnitt aus der in PIAAC untersuchten Gruppe der Erwachsenen betrachtet und bei diesen dann einen besonderen Blick geworfen auf deren mathematische Kompetenzen. Die WZB-Forscher schauten nur auf die Erwachsene, die keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und daher als formal gering qualifiziert gelten. Und dabei nur auf die Männer (zwischen 24 und 54 Jahren), denn die Arbeitsmarktchancen der Frauen ohne Berufsausbildung sind stark von ihrer familiären Situation beeinflusst und nicht nur bzw. weniger von der (formalen) Qualifikationsfrage. In dem Artikel Abschluss schlägt Können können wir lesen:

»Die formal Geringqualifizierten verfügen nicht alle zwangsläufig auch über geringe Kompetenzen in Mathematik. Im Durchschnitt erreichten sie in diesem PIAAC-Testbereich zwar schlechtere Ergebnisse, mit 17 Prozent kamen in dieser Gruppe der Geringqualifizierten jedoch relativ viele auf ein Kompetenzniveau, das eigentlich mit eher anspruchsvollen Tätigkeiten verbunden ist. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass sich in der Gruppe auch Studienabbrecher finden können, die keine Lehre angefangen haben.«

Wenn die Arbeitgeber kompetenzorientiert einstellen würden, dann müsste zumindest diese Untergruppe der formal Geringqualifizierten bessere Jobchancen haben, verfügen sie doch mit der Zuordnung zur Kompetenzstufe 3 über Fähigkeiten auf einem Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung zur Ausübung durchaus anspruchsvollerer Tätigkeiten ausreicht (Stufe 3 bedeutet, dass sie damit ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und räumliches Vorstellungsvermögen haben, sie können etwa Daten und Statistiken in Texten, Tabellen und Grafiken interpretieren und analysieren).

Die Realität sieht aber anders aus – zumindest in Deutschland: Denn »das Risiko der mathematisch Kompetenten, arbeitslos zu sein, (ist) mit 30 Prozent ebenso hoch wie bei den anderen Gruppen. International seien Deutschland und auch die USA damit Sonderfälle, betonen die Forscher. In allen anderen 22 Ländern, die an PIAAC teilgenommen haben, hätten Männer mit niedriger Qualifikation, aber besseren alltagsmathematischen Fähigkeiten, mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt«, so Amory Burchard in seinem Artikel. Wer keinen Berufs- oder Studienabschluss vorweisen kann, hat in Deutschland offenbar kaum Chancen, das mit seinem Können aufzuwiegen.

Die faktische Kraft des (Nicht-)Abschlusses wird auch an diesem besonderen Befund deutlich, den die Wissenschaftler herausstellen:

»Die Nichtbeschäftigungsquote von Männern mit Berufsausbildung, die höchstens die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist mit 24 Prozent ähnlich hoch wie die von gering qualifizierten Männern auf dieser Kompetenzstufe … Männer mit beruflichem Abschluss profitieren jedoch trotz ihrer geringen alltagsmathematischen Kompetenzen von ihren höheren Bildungsabschlüssen: Wenn sie erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt geschafft haben, arbeiten sie deutlich seltener als Un- oder Angelernte als formal gering qualifizierte Männer mit gleichen oder sogar höheren allgemeinen Kompetenzen.« (Heisig/Solga 2015: 5 f.)

Zusammenfassend bilanzieren Heisig/Solga (2015: 6): »Die Befunde unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Höhere alltagsmathematische Kompetenzen gehen für formal gering qualifizierte Männer in Deutschland – anders als in anderen Ländern – kaum mit besseren Arbeitsmarktchancen einher. Andererseits scheint auch der Nutzen von beruflichen Abschlüssen begrenzt zu sein, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Lesen wir zuerst die Schlussfolgerungen der beiden Wissenschaftler vom WZB:

»Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht. Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten, da deren Nutzen offenbar begrenzt ist, wenn die Grundkompetenzen sehr gering sind. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.«

Genau an diesen beiden Stellen zeigen sich erhebliche Defizite in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, denn diese ist vor allem mit Beginn der Umsetzung der so genannten „Hartz-Gesetze“ einem ganz anderen Entwicklungspfad gefolgt: „quick and dirty“, so könnte man zuspitzend die Ausgestaltung vieler „Aktivierungsbemühungen“ charakterisieren. Vor allem der Bereich der Förderung der beruflichen Weiterbildung war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man länger laufende und erst einmal kostspieligere Qualifizierungsmaßnahmen, die mit einem formalen Berufsabschluss enden, massiv nach unten gefahren hat zugunsten kurzer, billigerer Maßnahmen, die – wenn überhaupt – mit irgendeinem oftmals kaum oder gar nicht verwertbaren Zertifikat des Bildungsträgers abgeschlossen werden. Erst am aktuellen Rand beginnt auch die Bundesagentur für Arbeit, die Zahl der abschlussorientierten Maßnahmen langsam wieder nach oben zu treiben. Es stellen sich zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, deren derzeitige Nicht- oder Rudimentär-Bearbeitung auf das große schwarze Loch verweisen, mit dem wir hier konfrontiert sind:

  • Wir haben über eine Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die über keinen formalen Berufsabschluss verfügen. Hierbei handelt es sich oftmals um die, die am Anfang ihrer (Nicht)Erwerbsbiografie einen Ausbildungsplatz gesucht haben, damals aber aufgrund des Überangebots an Ausbildungsuchenden keinen Zugang haben finden können. Sie sind dann eben als Un- und Angelernte auf dem Arbeitsmarkt gelandet und pendeln oftmals zwischen irgendeiner Erwerbsarbeit und Phasen der Arbeitslosigkeit hin und her bzw. ein Teil von ihnen ist im Langleistungsbezug des Grundsicherungssystems gelandet. Hier müsste man – übrigens verstärkt durch den absehbaren Bedarf an Menschen auf der mittleren Qualifikationsebene – mit einem wirklich seinen Namen verdienenden Qualifizierungsprogramm ansetzen. Dafür muss man nur einmal den Blick zurück richten auf die Anfangsjahre des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), denn bis Mitte der 1970er Jahre gab es ein im Vergleich zu heute traumhaft attraktives Qualifizierungsprogramm für Erwachsene mit einem Unterhaltsgeld von bis zu 90% des letzten Nettoentgelts, wenn die Betroffenen bereit waren, in einen als zukunftsträchtig wahrgenommenen Beruf umzuschulen bzw. einen ersten Abschluss zu erwerben. Genau diesen Mut zur Investition müsste die Politik jetzt auch wieder aufbringen und entsprechend Geld in die Hand nehmen. Denn volkswirtschaftlich (und gesellschaftspolitisch) würde sich eine solche Investitionsoffensive in das Humanvermögen der Menschen mehr als lohnen, es würde sich um ein Vielfaches auszahlen, wenn man auf dem Schirm hätte, was die zu Facharbeitern, Handwerkern usw. umgeschulten bzw. qualifizierten Menschen über Jahrzehnte an Steuern und Sozialbeiträgen leisten werden bzw. könnten. Allerdings verweist das auf die Notwendigkeit einer „richtigen“ volkswirtschaftlichen Perspektive, denn der „return on investment“ wird eben nicht im nächsten Haushaltsjahr realisiert, sondern wir sind hier mit time-lags von mehreren Jahren zwischen Investition und den Rückflüssen konfrontiert. Aber: Noch nie war die Zeit an sich so günstig für einen solchen Paradigmenwechsel, wenn man sich anschaut, mit welchen Verwerfungen beispielsweise der Ausbildungsmarkt derzeit aufgrund der Umkehrung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert ist.
  • Darüber hinaus muss man aber auch angesichts der veränderten Zusammensetzung der Betroffenen inhaltliche Paradigmenwechsel bei der Qualifizierungsförderung vornehmen. Dies stellt vor allem auf den Faktor Zeit und auf den Faktor Lernarrangements ab. Viele der betroffenen Menschen brauchen – auch vor dem Hintergrund der in vielen Berufsausbildungen gestiegenen Anforderungen – mehr Zeit als bisher für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung. Die muss man auch förderrechtlich ermöglichen. Und gerade mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im SGB II benötigen wir eine Aufhebung der immer noch stark ausgeprägten Versäulung der Arbeitsmarktpolitik in entweder Beschäftigung oder Qualifizierung. Viele der hier Betroffenen können sehr wohl qualifiziert werden, allerdings nicht in den tradierten Lernsettings, de im Wesentlichen immer noch einer primär kognitiv, also schulisch determinierten Ausrichtung folgen. Qualifizierung durch echte Arbeit müsste irr der konzeptionelle Ansatzpunkt lauten. Dazu gibt es gerade aus der Praxis eine jahrzehntelange Evidenz, die allerdings gebrochen wird an der Realität des Förderrechts und der durch dieses bedingten Ausgestaltung der Maßnahmen. 

Summa summarum zwei richtig große Baustellen. Aber sie sind weitgehend leer, es sind derzeit keine größeren Aktivitäten erkennbar. Und wenn sich das nicht bald ändert, werden weiterhin viele Menschen aus dem bestehenden System ausgespuckt und auf Dauer auf ein Abstellgleis gestellt werden.

Zunehmend abgehängt. Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System und ihre (Nicht-)Integration in irgendwelche Jobs

Es waren – eigentlich und von oben betrachtet – „gute“ Jahre auf dem deutschen Arbeitsmarkt, auf die wir zurückblicken können. Die Zahl der Beschäftigten ist gestiegen und die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen hat abgenommen. Das schlägt sich dann beispielsweise in solchen Schlagzeilen nieder: Zahl der Arbeitslosen auf Rekordtief. So wurde das Jahr 2014 mit dem niedrigsten Wert in einem Dezember seit der Wiedervereinigung beendet. Und auch mit Blick auf die Beschäftigtenzahlen dominieren die Erfolgsmeldungen: So viele Erwerbstätige wie nie zuvor vermeldete das Statistische Bundesamt: »Im Schnitt 42,6 Millionen Männer und Frauen in Deutschland hatten 2014 Arbeit – so viele wie nie zuvor. Es ist das achte Rekordjahr in Folge.« Alles gut – oder?

Es geht bei einer Präzisierung des Fragezeichens nicht um einen nachfliegenden Blick auf die Frage, was das denn für Jobs waren bzw. sind, die da rekordträchtig geschaffen worden sind (vgl. hierzu die Blog-Beiträge „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen sowie Das deutsche „Beschäftigungswunder“ im europäischen Vergleich. Immer auch eine Frage des genauen Hinschauens mit einem kritischen Blick auf die nackten Zahlen). Es geht hier um den Aspekt, dass auch der „Erfolg“ auf dem Arbeitsmarkt wie fast alles im Leben sehr ungleich verteilt ist, also neben den, die profitiert haben gibt es auch andere, bei denen man sogar davon sprechen muss, dass sie zunehmend abgehängt werden, trotz der an sich „guten“ Rahmenbedingungen. Und dazu gehören viele Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System.

„Das ist eine erschütternde Bilanz“, so wird der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy in einem Artikel zitiert und meint damit den Blick auf die Beschäftigungschancen der Langzeitarbeitslosen. Der Artikel von Flora Wisdorff, dem das Zitat von Adamy entnommen wurde, ist bezeichnenderweise überschrieben mit Wer ein Jahr arbeitslos ist, bleibt das meist auch. Die dort auf der Basis einer neuen Studie des DGB präsentieren Zahlen sind mehr als ernüchternd:

»Mit 14,3 Prozent hat 2013, im Jahr mit den aktuellsten Daten, noch nicht einmal jeder fünfte langzeitarbeitslose Hartz-IV-Empfänger einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden oder sich selbstständig machen können … 2011 waren es immerhin 20 Prozent.«

Aber das ist nur die „rohe“ Quote des Abgangs in irgendeine Beschäftigung. Noch nicht berücksichtigt ist in diesem Wert, wie lange denn die neue Beschäftigung andauert, also ob es sich um einen „nachhaltigen“ Abgang in Beschäftigung handelt. Die vom DGB präsentierten Daten stimmen skeptisch: »Untersucht man, ob dieselben vermittelten Langzeitarbeitslosen sowohl einen Monat später als auch sechs Monate später in Beschäftigung waren, dann halbiert sich die Zahl jener, die noch arbeiten, auf nur 7,5 Prozent«, referiert Wisdorff aus der ihr vorliegenden Studie des DGB. Das bedeutet, die Hälfte der in Beschäftigung abgegangenen langzeitarbeitslosen Menschen kommt innerhalb weniger Monate wieder zurück in die Arbeitslosigkeit. Problemverschärfend wäre außerdem zu berücksichtigen, dass viele dieser Übergänge in Beschäftigung nur mit Hilfe von Lohnkostenzsuchüssen zustande gekommen sind (es wäre ein eigenes Thema zur Vertiefung, wie viele dieser Einstellungshilfen auf Fälle entfallen, die innerhalb weniger Monate wieder beendet wurden bzw. Arbeitslose betreffen, die eigentlich nicht zur Zielgruppe dieses Instrumentariums gehören). Außerdem müsste natürlich bei einer detaillierten Bewertung auch die Frage nach der Art und Weise der Beschäftigungsverhältnisse gestellt werden.

Kurz vor der Berichterstattung über die neue DGB-Studie hatte bereits O-Ton Arbeitsmarkt über das Thema geschrieben: Hartz IV-Empfänger: Nur rund zwei Prozent finden monatlich Arbeit, so lautet die Überschrift eines Artikels. Der dort gewählte Zugangsweg auf der Basis der Daten der Bundesagentur für Arbeit stützt die Aussagen der DGB-Studie: »Die Arbeitsmarktchancen von Hartz IV-Empfängern sind mehr als schlecht. Pro Monat finden nur rund zwei Prozent eine Arbeit. Lediglich die Hälfte von Ihnen bleibt dauerhaft beschäftigt. Hinzu kommt: Meist bringt der Job kein Ende der Hilfebedürftigkeit.« Die Bezugsbasis der hier präsentierten Werte sind übrigens nicht die offiziell als arbeitslos registrierten Hartz IV-Empfänger, sondern die „erwerbsfähigen“ Grundsicherungsempfänger, denn zahlreiche Erwerbsfähige werden aus unterschiedlichen Gründen nicht  formal als „arbeitslos“ ausgewiesen, obgleich sie es faktisch sind. Auf dieser Grundlage und bei einer monatlichen Betrachtungsweise ergeben sich die folgenden Befunde:

»Zwischen September 2013 und September 2014 fanden monatlich nur rund 94.000 von insgesamt 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern eine Beschäftigung, machten sich selbstständig oder begannen eine Ausbildung – das entspricht 2,1 Prozent. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden sogar nur rund 79.000 von ihnen, 1,8 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger. Von Dauer ist das Arbeitsverhältnis zudem nur für etwa die Hälfte (47 Prozent) der 79.000, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden. Sie waren auch nach zwölf Monaten sowie an den Stichtagen nach drei und sechs Monaten beschäftigt. Hier gilt allerdings: Dass das Arbeitsverhältnis durchgängig Bestand hatte, kann nur vermutet werden, denn zwischen den Stichtagen sind Phasen der Arbeitslosigkeit möglich, die die Statistik nicht erfasst.«

Natürlich wird an dieser Stelle von den Kritikern sofort darauf hingewiesen, dass die Bezugsbasis mit allen erwerbsfähigen Hilfeempfängern „zu groß“ sei, denn von denen seien ja nicht alle auch wirklich arbeitsuchend. O-Ton-Arbeitsmarkt hat an anderer Stelle (auf Twitter) darauf hingewiesen, dass die monatliche Abgangsrate nur bezogen auf die Gruppe der auch offiziell als arbeitslos registrierten erwerbsfähigen Arbeitslosen mit durchschnittlich 3,2 Prozent auch nicht deutlich besser ausgefallen ist.

Außerdem wird hier auch darauf hingewiesen, dass der Abgang in irgendeine Beschäftigung keineswegs automatisch mit einer Beendigung der Hilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann und darf, denn eine solche kann weiter bestehen, wenn man beispielsweise zu wenig verdient. Auch hierzu liefern die amtlichen Daten einige Hinweise:

»Der Großteil der Hartz IV-Empfänger, die einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz fanden, konnte die Hilfebedürftigkeit nicht beziehungsweise nicht dauerhaft überwinden. Nur ein Drittel (34 Prozent) bezog an Stichtagen drei, sechs und 12 Monate nach der Beschäftigungsaufnahme keine Hartz IV-Leistungen mehr. Die übrigen Personen waren an mindestens einem der Stichtage weiterhin hilfebedürftig. Bei den Langzeitleistungsbeziehern schafft dies sogar nur jeder Fünfte.«

Fazit: Man kann es drehen und wenden wie man will. Was wir hier erkennen müssen ist das, was man als „Verfestigung“ und „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit bezeichnet und was auch zum Teil erklären kann, warum trotz der an und für sich günstigen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen die Beschäftigungschancen – nicht „der“, aber „dieser“ – Arbeitslosen schlechter geworden ist und sich erwartbar weiter verschlechtern wird, wenn man nicht anders als bislang gegenzusteuern versucht. Dies folgt einem einfachen, aber brutal wirksamen Mechanismus: Je länger die Arbeitslosigkeit anhält und gleichzeitig je weniger für und mit den Betroffenen gemacht wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen keinen Zugang mehr bekommen werden zu irgendeiner Form der Beschäftigung.

Viele von ihnen werden gleichsam auf Dauer „passiviert“, also faktisch stillgelegt im Leistungsbezug und wenn etwas getan wird, dann oftmals nur noch Spielarten dessen, was man zynisch als „Aktivitätssimulationen“ bezeichnen muss. Mit nicht selten verheerenden Auswirkungen auf die Betroffenen und auch auf die Sache, um die es doch eigentlich gehen soll: Wenn man beispielsweise von den Betroffenen verlangt, jeden Monat eine vorgegebene Anzahl von x Bewerbungen nachzuweisen, von denen man weiß, dass sie erfolglos bleiben werden und dass noch nicht einmal eine Absage zurückkommt, dann wird das die Motivation der Arbeitsuchenden sicher nicht erhöhen, ganz im Gegenteil. Und wenn dann die „Fallmanager“, „persönlichen Ansprechpartner“ oder wie auch immer die genannt werden, die sich in den Jobcentern um diese Menschen kümmern sollen, noch nicht einmal mehr einen – in anderen Zusammenhängen häufig kritisierten – „Ein-Euro-Job, also eine Arbeitsgelegenheit für einige wenige Monate, anbieten können, weil die Fördermittel in den vergangenen Jahren um mehr als 50 Prozent eingedampft worden sind, dann wird für jeden, der vorurteilsfrei an die Sache rangeht, klar erkennbar, dass sich die vorhandenen Problemlagen kumulativ verstärken werden müssen. Wenn „Förderung“ passiert, dann handelt es sich – haushaltsbedingt, aber auch aufgrund des völlig restriktiven und lebensfremden Förderrechts – um nur punktuelle, fragmentierte Interventionen, die im Ergebnis oftmals dazu führen, dass die Betroffenen danach in ein noch tieferes Loch fallen, was sich dann problemverschärfend auswirkt auf die eigentlich angestrebte Vermittlung in Beschäftigung.

Die zwangsläufige Konsequenz ist eine deutliche Zunahme des „verfestigten“, „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit. Wissenschaftler der Hochschule Koblenz weisen das regelmäßig nach auf der Basis einer Sonderauswertung der PASS-Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit – vgl. hierzu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem vom 6.11.2014. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2012 (im Vergleich zu 2011; die Auswertung für das Jahr 2013 läuft derzeitnoch). In der aktuellen Studie kommen die Wissenschaftler zu folgendem Ergebnis:

»… mehr als 480.000 Menschen in Deutschland sind zwar erwerbsfähig, aber gleichzeitig so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf Arbeit gegen Null tendieren. Ebenfalls von der Lage ihrer Eltern betroffen sind 340.000 Kinder unter 15 Jahren, die in den Haushalten der besonders benachteiligten Arbeitslosen leben. Besonders alarmierend: Die Lage der Arbeitsmarktfernen verschlechtert sich zusehends. Bereits im Vorjahr hatte das IBUS ihre Zahl berechnet und war zu deutlich geringeren Werten gekommen. Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Bei der Interpretation dieser Zahlen muss man berücksichtigen, dass es „nur“ um den „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II-System geht, denn hier werden Personen als arbeitsmarktfern definiert, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier Vermittlungshemmnisse aufweisen, was aufgrund vorliegender empirischer Evidenz dazu führt, dass sie so gut wie keine Beschäftigungschance mehr unter den gegebenen Rahmenbedingungen haben (werden).

Aber gibt es nicht Zeichen der Hoffnung? Flora Wisdorff schreibt in ihrem Artikel: »Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat deshalb die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem ihrer zentralen Themen gemacht.« Auch wenn das diejenigen überraschen wird, die sich intensiver mit der herrschenden Arbeitsmarktpolitik beschäftigen – hier die Aufklärung, woraus sich diese Einschätzung speist:

»Mithilfe von Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds sollen Menschen, die mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren, wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, und zwar in die Privatwirtschaft. „Betriebsakquisiteure“ der Jobcenter sollen ausschwärmen, um private Arbeitgeber zu überzeugen, Langzeitarbeitslose einzustellen.
In den ersten sechs Monaten bekommen die Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuss von 75 Prozent, der dann stufenweise nach 18 Monaten auf null sinkt. Danach müssen die Unternehmen die geförderten Arbeitnehmer sechs Monate lang weiterbeschäftigen und allein bezahlen.
Die Arbeitslosen werden intensiv von Coaches betreut. Arbeitslose, die bereits seit fünf Jahren nicht mehr gearbeitet haben, sollen noch großzügiger gefördert und intensiver betreut werden.«

Das hört sich doch erst einmal sehr gut an. Aber das „aber“ folgt sogleich: »Allerdings sollen die Mittel nur für 33.000 Arbeitslose bereit gestellt werden. Bei einer Zahl von einer Million Langzeitarbeitslosen ist das allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein weiteres Programm richtet sich an 10.000 Personen.« Und übrigens nicht pro Jahr.

Und richtig ernüchternd wird es, wenn man sich mit der Realität der Umsetzung des – geplanten – Programms beschäftigt. So berichtet die Initiative Pro Arbeit:

»Jobcenter sind nicht begeistert über hohen Verwaltungsaufwand bei dem neuen Bundes-ESF-Programm zur Eingliederung von Hartz IV-Empfängern in den allgemeinen Arbeitsmarkt, hört man aus allen Ecken des Landes. Am 9. Januar hat das Bundesverwaltungsamt interessierte Jobcenter eingeladen und die Rahmenbedingungen für dieses Programm vorgestellt. Wie bei ESF üblich, sind die Dokumentations- und Nachweispflichten sehr hoch. Jährlich müssen Zwischennachweise erstellt werden. Auch die Arbeitgeber unterliegen dieser Dokumentations- und Nachweispflicht. Es wird die Arbeitgeber freuen und unter diesen Rahmenbedingungen werden sie in Massen zu gewinnen sein, langzeitarbeitslose Menschen einzustellen. Die Mittel für dieses Programm haben mit einer sogenannten Vorwegnahme den Gesamttopf der Eingliederungsmittel der Jobcenter reduziert. Man kann es auch anderes sagen, erst wird den Jobcentern das Geld weggenommen und dann dürfen sie es mit einem hohen Verwaltungsaufwand wieder beantragen und bekommen es evtl. zurück, wenn sie einen Zuwendungsbescheid erhalten.«

Ach, so wird das nichts, das kann man schon jetzt sicher prognostizieren. Wie sind an dieser Stelle und mit Blick auf die sich verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit, die mittlerweile mehr als eine Million Menschen umfasst und weiter zunimmt, konfrontiert mit einem manifesten Systemversagen innerhalb des Grundsicherungssystem.

Viele wäre schon gewonnen, wenn man endlich in einem ersten Schritt das machen würde, was Arbeitsmarktexperten unisono mit den Praktikern vor Ort, denen es um die Menschen und um die Sache geht, seit langem einfordern: eine radikale Reform des Förderrechts im SGB II, das vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, um die gesamte Bandbreite sinnvoller, abgestufter und vor allem auch länger laufenden Förderinstrumente nutzen zu können je nach individueller Ausgestaltung der Hilfebedürftigkeit. Es geht hier um die notwendige Beseitigung zentraler „Lebenslügen“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. hierzu bereits 2010 beispielsweise Sell, S.: Die öffentlich geförderte Beschäftigung vom Kopf auf die Füße stellen. Ein Vorschlag für die pragmatische Neuordnung eines wichtigen Teilbereichs der Arbeitsmarktpolitik).

In einem zweiten Schritt muss sich dann endlich die zentrale Erkenntnis Bahn brechen, dass es allemal sinnvoller ist, individuell und auch volkswirtschaftlich gesehen, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren – auch wenn das bedeutet, dass man am Anfang deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müsste, um beispielsweise eine ordentliche öffentlich geförderte Beschäftigung aufzubauen und ans Laufen zu bringen für die, die das wollen (und das sind viele der Betroffenen entgegen weit verbreiteter Annahmen). Denn eines muss doch endlich auch in Berlin und an anderen Orten erkannt werden – unter den gegebenen Bedingungen werden Hunderttausende Menschen auf Dauer exkludiert von jeglicher Form der Erwerbstätigkeit. Und das bedeutet eben, auch wenn man es nur fiskalisch betrachtet und nicht von den Menschen her: Sie werden ihr Leben lang auf der Payroll des Staates bleiben. Es gibt – auch nur ökonomisch gesehen – keine Alternative zu ganz neuen Wegen der Förderung. Sozialpolitisch und menschlich gesehen sowieso nicht.

Psychische Erkrankungen: Von den Höhen des Streits um die großen Zahlen in die Tiefen der Realität für die Betroffenen

Im Umfeld der Veröffentlichung des „Depressionsatlas“ der Techniker-Krankenkasse wurde wieder einmal sehr kontrovers gestritten über die Frage, ob wir in Zeiten leben, in denen die Zahl der Menschen mit einer psychischen Erkrankung kontinuierlich ansteigt, was ein erster Blick auf die Daten aus den vielen Gesundheitsberichten der Krankenkassen nahezulegen scheint – oder ob das nicht vielmehr aufgebauscht ist, eine „Modewelle“, Folge einer gesellschaftlichen Entstigmatisierung des Themas, einer veränderten Etikettierung der Ärzte, die früher anders „offiziell“ diagnostiziert haben und heute eher bereit sind, psychische Krankheiten auszuweisen bis hin zu den Effekten einer angebotsinduzierten Nachfrage. Gesellschaftspolitisch – und damit zwangsläufigerweise mehr oder weniger ideologisch – aufgeladen wird das Thema durch eine Verknüpfung mit den Veränderungen und Entwicklungen in der modernen Arbeitswelt und der implizit mitlaufenden oder auch explizit vorgetragenen These, dass die modernen Arbeitsbedingungen verantwortlich seien für den tatsächlichen bzw. behaupteten Anstieg der Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das wurde in dem Blog-Beitrag Der Kapitalismus macht depressiv! Aber ist das wirklich so? Oder liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte? durchaus kritisch bis ablehnend diskutiert. Allerdings gibt es ein unauflösbares Dilemma zwischen der Diskussion allgemeiner Entwicklungen im Kollektiv beispielsweise auf der Ebene epidemiologischer Studien, die dann zu dem Ergebnis kommen (können), dass es keinen erkennbaren Anstieg der Zahl der von psychischen Erkrankungen betroffenen Menschen gegeben hat und der Realität des einzelnen Falls, also der Menschen, die von einer solchen Erkrankung betroffen sind und die sehr handfest erfahren (müssen), was mit ihnen passieren kann. Sozialpolitisch relevant auf dieser Ebene sind dann reale Versorgungsdefizite, weiter bestehende Stigmatisierungen oder eben auch gute Ansätze eines veränderten Umgangs mit ihnen. Um diese Ebene soll es nun – gleichsam in Ergänzung zum Beitrag über die großen Zahlen – gehen.

Christina Hucklenbroich greift mit Blick auf den Umgang mit Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, in ihrem Beitrag Und dann haben Sie eine F-Nummer ein auch von den Kritikern immer wieder vorgetragenes Argument auf: »Den Freunden offen von der Psychotherapie erzählen, den Kollegen vom Burnout – das scheint inzwischen Normalität. Sind psychische Krankheiten völlig „entstigmatisiert“? Stigmaforscher sagen: im Gegenteil.«

Die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Eltern verhaltensauffälliger Kinder wird mit den folgenden Worten zitiert: »Neulich sagte ein Mann, dem man ansah, dass er Medikamente nahm: ,Ich habe F20.0‘. Da ich keine Ärztin bin, musste ich sogar nachfragen, was der Diagnoseschlüssel bedeutet.“ Die Antwort kam prompt: „Paranoide Schizophrenie.“ Frauen sprächen heute offen über depressive Phasen in ihrem Leben … Aber auch Männer gäben immer häufiger von sich aus zu Protokoll, Depressionen erlebt zu haben. „Dass Männer Depressionen einräumten, gab es früher gar nicht. Und noch vor zwanzig Jahren hätte ich niemals gewagt, danach zu fragen.“ Für die Pädagogin ist klar, welche gesellschaftliche Entwicklung ihren Arbeitsalltag so verändert hat: „Die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten ist in vollem Gange“, bilanziert sie.«

Da ist es also wieder, das Stichwort „Entstigmatisierung“. Hucklenbroich berichtet von ihren Recherchen bei der Deutschen Rentenversicherung – die Zahl der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit etwa, die aufgrund psychischer Störungen bewilligt werden, stieg von 41.000 im Jahr 1993 auf 74.000 im Jahr 2012, also muss man sich dort mit dem Thema befasst haben – und landet nach etlichen Schleifen bei einem Mitarbeiter, der mit diesen Worten zitiert wird:

„Die Gewerkschaften sagen ja, es liege an der Arbeitsverdichtung, dass immer mehr Menschen sich zu einer psychiatrischen Diagnose bekennen. Aber seien wir ehrlich: Das hat alles mit der Entstigmatisierung zu tun.“

Die Autorin wendet sich an eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Frage, ob es eine Entstigmatisierung gegeben hat, professionell beschäftigt: die psychiatrische Stigmaforschung. Und aus diesen Reihen wird ein auf den ersten Blick verblüffender Befund zitiert: Zwar glauben die Deutschen, dass die Gesellschaft psychische Störungen weniger stigmatisiere als früher. »Der Einzelne aber, nach seinen eigenen Gefühlen befragt, will mehr Distanz zu psychisch Kranken als noch 1990, er will sie nicht als Nachbarn und nicht als Kollegen, er will sie niemandem als Mitarbeiter empfehlen und sie nicht zum Freundeskreis zählen.« Und hinzu kommt: »Diese ablehnenden Gefühle sind zwischen 1990 und 2011 deutlich stärker geworden, zeigt ein ganzes Bündel von Studien, das eine Gruppe deutscher Stigmaforscher um den emeritierten Leipziger Sozialpsychiater Matthias Angermeyer und Georg Schomerus von der Universität Greifswald in den Jahren 2013 und 2014 vorgelegt hat«, so Hucklenbroich. Auch interessant: Die Psychiatrie scheint von diesen Entwicklungen profitiert zu haben, denn das Stigma, das auf ihr lag, habe abgenommen – allerdings: Die Menschen erhoffen sich von ihr Schutz, also eher eine selbstbezüglich-funktionale Sichtweise, die sich ausgebreitet hat.

Dass – vor allem die strukturelle – Stigmatisierung des Einzelnen keinesfalls verschwunden ist, kann man an zwei sozialpolitisch relevanten Beispielen illustrieren, man muss gar nicht zu den ganz harten Fällen wie dem dauerhaften Wegschließen bestimmter Menschen in den Psychiatrien des Landes greifen, die hin und wieder thematisiert werden: »Eine psychiatrische Diagnose kann es unmöglich machen, bestimmte private Versicherungen abzuschließen. Und sie kann die Verbeamtung gefährden.«

Psychische Krankheiten gelten wegen der Datenlücken hinsichtlich der Verläufe bei den Versicherungsunternehmen als schwer kalkulierbares Risiko. Verschweigt der Kunde entsprechende Diagnosen, muss der Versicherer später nicht zahlen. Das führt auf der Seite der Betroffenen zu verständlichen, aber nicht unproblematischen Ausweichreaktionen:

»Manche Patienten zahlen ihre Therapie privat und schieben einen stationären Aufenthalt auf. Wer nicht privat zahlen kann oder will, weicht bisweilen auf kirchliche Beratungsstellen aus, statt eine Therapie zu machen, die von der Krankenkasse registriert wird. Das bedeutet wiederum, dass manche Erkrankten auch keine durchgeplante Therapie auf dem Stand der Wissenschaft bekommen können.«

In dem Artikel kommt auch Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation der Charité, zu Wort, der seine Kollegen zu Vorsicht beim Umgang mit Diagnosen mahnt: »Eine Diagnose geht nicht mehr weg. Das heißt: Diagnosen sind nichts Gutes. Deswegen müssen wir die Patienten auch mal bremsen. Manche Patienten wollen einfach nur eine Kur machen. Und wenn sie da wieder rauskommen, haben sie eine F-Nummer.« 2013 hatte Linden in dem Beitrag Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ im Deutschen Ärzteblatt dafür plädiert, statt der mit dem Buchstaben F kodierten psychiatrischen Diagnosen aus dem Klassifikationssystem ICD-10 häufiger die weicheren Z-Kodes zu nutzen, die für soziale Schwierigkeiten verwendet werden können.

Neben der offensichtlich weiter fortbestehenden strukturellen Stigmatisierung, mit der dann der einzelne Betroffene an möglicherweise für ihn völlig überraschenden Stellen konfrontiert werden kann, soll abschließend auch der eingangs bereits auf einer grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Ebene angesprochene Aspekt der Bedeutung der Arbeit aufgegriffen werden – allerdings weniger bzw. gar nicht mit Blick auf die möglichen krankmachenden Bedingungen der modernen Arbeitswelt, sondern hinsichtlich der positiven Bedeutung, die Arbeit hat bzw. haben kann im Prozess der Bewältigung einer psychischen Erkrankung.

Stefan Mühleisen bringt es schon in der Überschrift seines Artikels auf den Punkt, worum es hier geht: Arbeit als Therapie. Sein Beitrag beginnt mit der Geschichte des David Walm, der eine Koch-Ausbildung begonnen hatte mit der Traumvorstellung, einmal Sternekoch zu werden. Aber er steckte während dieser Zeit in der Zwangsjacke einer schweren Depression mit Suizidgedanken und wurde von den eigenen Eltern in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Nach wenigen Wochen bekam er die Kündigung von seinem Ausbildungsbetrieb. So oder ähnlich laufen viele Einzelschicksale ab. Dahinter – da ist es wieder, das S-Wort – stehe ein Stigma: »In der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in vielen Chefetagen gelten psychisch kranke Menschen als willensschwach und unberechenbar. Wer eine psychiatrische Diagnose hat, ist häufig als gefährlicher Gestörter abgestempelt – obwohl seelische Leiden weit verbreitet sind.« Allerdings, so zumindest die Beobachtung von Mühleisen, beginnt das Stigma nun zaghaft zu bröckeln. Betriebe haben Programme aufgelegt, um psychische Belastungen überhaupt zu erkennen und entsprechende Hilfen anzubieten, wenn auch noch zu wenige. Aber es sind erkennbare Veränderungen. Und eines der zentralen Erkenntnisse ist dabei auch die Einsicht, dass Arbeit eine ganz wichtige Rolle spielt.
Beispiel David Walm: Fünf Jahre nach der Zwangseinweisung steht er wieder am Herd, wenn auch nicht einem Laden der Spitzengastronomie, er hat einen Job als Koch in der Kantine der Postbank-Niederlassung an der Münchner Bayerstraße bekommen. Und an dieser Stelle wird sehr deutlich sichtbar, wie wichtig arbeitsmarktpolitische Angebote für die Betroffenen – konkret: Integrationsunternehmen – sind, denn:

»Walm ist einer von 170 Mitarbeitern der Regenbogen Arbeit GmbH, 60 Prozent von ihnen sind psychisch krank. Der gemeinnütziger Betrieb verschafft Menschen mit seelischen Leiden eine Festanstellung, sie bekommen faire Jobs mit therapeutischer Begleitung. Die Firma schließt eine Lücke in der psychiatrischen Versorgungslandschaft. Denn längst wissen Fachleute um das Problem der „Drehtürpsychiatrie“: Wenn Menschen wie Walm nach einer schweren psychiatrischen Krise die Klinik verlassen, stehen sie oft vor den Trümmern ihres Lebens: ohne Freunde, ohne Wohnung – und ohne Arbeit. So fallen sie in die nächste Krise – und landen wieder in der Klinik.«

Der Integrationsbetrieb hat sich auf Catering-Service spezialisiert. »Menschen mit Psychose, Depression oder Schizophrenie verarbeiten Frischkost, fahren sie kistenweise in fünf Großkantinen in München – etwa bei Postbank, Allianz, Infineon – und arbeiten dort im Service, als Küchenhilfe oder Koch. Arbeitstherapie und Broterwerb zugleich.«

Und David Walm, um ihm das Schlusswort zu überlassen, betont einen ganz eigenen Aspekt:
Depressive Menschen sind enorm leistungsfähig. „Denn sie müssen große Stärke aufbringen, sich nicht umzubringen.“