Wenn Jobcenter arbeitslose Menschen in die Insolvenz treiben. Ein Blick auf Überschuldung und ein „professionalisiertes Inkasso-Unternehmen“

70 Prozent der arbeitslosen Menschen werden von den Jobcentern mehr oder weniger betreut, weil sie im Hartz IV-System gelandet sind. Und der normale Bürger nimmt an, dass es die Hauptaufgabe der Jobcenter sei, diese Menschen oder wenigstens so viele wie möglich von ihnen wieder in eine Erwerbsarbeit zu bringen, mit der sie sich ganz oder zumindest teilweise aus der Hilfebedürftigkeit verabschieden können. Nun weiß man seit langem, dass ein veritables Vermittlungshindernis bei einem Teil der Arbeitslosen im Tatbestand der Überschuldung vorliegt, dessen Begleitfolgen wie Lohnpfändung, aber auch die Auswirkungen auf die Arbeitsbereitschaft der Betroffenen dazu führen, dass eine Vermittlung oftmals scheitert oder gar nicht erst zustande kommt. In diesem Kontext ist allein schon die Überschrift eines solchen Artikels mehr als irritierend: Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Insolvenz drängen. Darin berichtet Kristiana Ludwig: »Wer der Arbeitsagentur Geld schuldet, darf nicht auf Milde hoffen. Das Bundesarbeitsministerium verbietet in der Regel außergerichtliche Einigungen über die Ausstände. Seit Jahresbeginn hat die Behörde sogar einen eigenen Inkassodienst beauftragt. Dabei sind gerade Arbeitslose besonders häufig von der Privatinsolvenz betroffen – und finden dann auch noch schwerer einen neuen Job.«

Die Fakten sind seit langem bekannt und das Statistische Bundesamt hat am 1. Juli 2016 einen Überblick veröffentlicht zum Thema „Überschuldung privater Personen 2015“.

»Im Jahr 2015 haben in Deutschland rund 647.000 Personen wegen finanzieller Probleme die Hilfe einer der 1.400 Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in Anspruch genommen. Im Rahmen der freiwilligen Überschuldungsstatistik hat das Statistische Bundesamt anonymisierte Daten zu 113.000 beratenen Personen mit deren Zustimmung ausgewertet. Damit lassen sich umfangreiche strukturelle Aussagen zu den Überschuldeten treffen. Zudem stehen Angaben zu den Auslösern der Überschuldung, zur Schuldenhöhe und zu den Gläubigern zur Verfügung.« (Vgl. auch die Hintergrundinformationen zur Überschuldungsstatistik).

Die Frage nach den Ursachen von Überschuldung behandelt das Statistische Bundesamt unter der Überschrift: „Hauptauslöser der Überschuldung liegen überwiegend außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten“ (vgl. dazu das Statement von Präsident Dieter Sarreither vom 1. Juli 2016, S. 8):

„Wer überschuldet ist, ist selbst schuld.“ Das ist eine landläufig verbreitete Meinung. Für Schuldnerberater/-innen zeichnet sich ein anderes Bild. Sie erhalten im Zuge ihrer Tätigkeit viele Informationen über die finanzielle Situation der beratenen Person sowie über deren Weg in die finanziellen Schwierigkeiten. Auf Basis dieser Angaben geben die Beraterinnen und Berater im Rahmen der Überschuldungsstatistik ihre Einschätzung über den jeweiligen Hauptauslöser der Überschuldung an. Dabei fällt auf, dass in der Regel unplanbare und gravierende Änderungen der Lebensumstände als Hauptauslöser genannt werden, die außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten liegen. Unter den sechs häufigsten Angaben für neu angelegte Beratungsfälle im Jahr 2015 fanden sich Arbeitslosigkeit (19 %), Erkrankung, Sucht und Unfall (15 %) sowie Trennung, Scheidung beziehungsweise Tod der Partnerin/des Partners (14 %). Überschuldung durch unangemessenes Konsumverhalten („unwirtschaftliche Haushaltsführung“) wurde lediglich in 11 % aller Fälle genannt. Bei 7 % der beratenen Personen waren die Schuldnerberater/-innen davon überzeugt, dass die auf lange Sicht unzureichende Einkommenssituation trotz einer wirtschaftlichen Haushaltsführung zu den finanziellen Problemen geführt hat („längerfristiges Niedrigeinkommen“).

Den doppelten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Überschuldung stellt auch Kristiana Ludwig in ihrem Artikel heraus:

»Wer seinen Job verliert und plötzlich auf sein Gehalt verzichten muss, der macht schnell Schulden. Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Ursache für Überschuldung, für jeden fünften deutschen Schuldner war sie im vergangenen Jahr der Hauptauslöser für ihre finanzielle Notlage, erhob das Statistische Bundesamt. Zugleich verhindern Schulden oft, dass ein Arbeitsloser wieder einen Job findet: Arbeitgeber schreckt es meist ab, wenn ihr Bewerber in einem Insolvenzverfahren steckt. Dies sei „natürlich ein absolutes Vermittlungshemmnis“, sagt eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Nicht umsonst schicken viele Jobcenter die Hartz-IV-Empfänger zur Schuldnerberatern.«

Da sollte man annehmen, dass man in den Agenturen und Jobcentern höchst sensibilisiert ist für die miteinander verwobenen Fragen von Arbeitslosigkeit und Überschuldung vor allem hinsichtlich einer anzustrebenden Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Und die gerne in Anspruch genommene Schuldnerberatung für die eigenen „Kunden“ seitens der Agenturen und vor allem der Jobcenter scheint das ja auch zu bestätigen, denn die Aufgabe der Schuldnerberater ist ja auch Sicht der Jobcenter recht eindeutig: Sie sollen die betroffenen Menschen wieder vermittlungsfähig machen, in dem sie das vorgelagerte Problem der Überschuldung bearbeiten und einer wenigstens perspektivischen Lösung zuführen.

Aber nicht immer scheint das die Jobcenter zu leiten, vor allem dann nicht, wenn die Arbeitsagentur selbst die Gläubigerin ist und auf einen Teil ihres Geldes verzichten müsste, um einem überschuldeten Arbeitslosen zu helfen. Und das gibt es schriftlich, so Ludwig in ihrem Artikel:

»Ein Papier aus dem Haus von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreibt der Agentur vor, dass sie sich nicht mehr auf außergerichtliche Einigungen einlassen darf – außer in besonderen Härtefällen. Damit ist bei allen verschuldeten Arbeitslosen, die auch bei der Arbeitsagentur in der Kreide stehen, ein Insolvenzverfahren programmiert. Denn bei diesen vorgerichtlichen Einigungen gilt: Entweder machen alle Gläubiger mit – oder keiner.«

Und die Gläubigerposition der Arbeitsagenturen und Jobcenter ist keine vernachlässigbare, sondern sie hat Gewicht und nimmt zu:

»Dabei verleihen gerade die Jobcenter immer mehr Geld an Arbeitslose. Im vergangenen Jahr erreichten die Darlehen, die Hartz-IV-Empfänger für Anschaffungen wie etwa einen Kühlschrank bekamen, eine Rekordsumme von 86,4 Millionen Euro – vor neun Jahren waren es noch 33 Millionen Euro. Auch die Summe, die einzelne Arbeitslose im Schnitt bekommen und dann an das Jobcenter zurückzahlen müssen, hat sich seitdem verdoppelt, auf 430 Euro. Auch Aufstocker häufen oft Schulden beim Jobcenter an, weil ihr Einkommen und damit die Unterstützung vom Amt schwankt und sie ihm zeitverzögert Geld zurückzahlen müssen. Aufstocker, errechnete das Statistische Bundesamt, seien „überproportional häufig überschuldet“.«

Über die Verschuldungsinstanz Jobcenter hat O-Ton Arbeitsmarkt bereits am 20. April 2016 berichtet unter der Überschrift Hartz-IV-Empfänger machen 86 Millionen Euro Schulden bei den Jobcentern. In diesem Beitrag wurde auch auf den Rückzahlungsaspekt hingewiesen: »Darlehen müssen aus dem Hartz-IV-Regelsatz zurückgezahlt werden. Monatlich bis zu 10 Prozent werden vom Jobcenter einbehalten – von bis zu drei Darlehen gleichzeitig. Das kann ein Minus von bis zu 30 Prozent des Regelsatzes bedeuten. Seit Ende März hat sich das zumindest geändert. Neue Weisungen der Bundesagentur für Arbeit veranlassen die Mitarbeiter in den Jobcentern, mehrere Darlehen nur noch nacheinander und nicht mehr parallel zu tilgen.«

Während es also bei den Bedingungen der Rückzahlungen eine leichte Verbesserung gegeben hat, werden in einem anderen Bereich die Daumenschrauben angezogen, wie Kristiana Ludwig beschreibt:

»Seit Anfang dieses Jahres hat die Arbeitsagentur einen eigenen Inkasso-Dienst aktiviert, der sich verstärkt um solche Forderungen kümmern soll. Die Behörde verspricht sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro im Jahr. Bundesweit machen Schuldnerberater seither die Erfahrung, dass sich Jobcenter nun auf keine Verhandlungen mehr einlassen.«

Die Einsicht in das Dokument, mit dem Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) solche Einigungen einschränkt, konnte nur unter Anwendung juristischen Zwangs ermöglicht werden, konkret von Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg, der das unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erstritten hat.
Und was sagt das Bundesarbeitsministerium dazu?

»Nahles‘ Sprecher erklärt, man werde weiterhin jeden Einzelfall prüfen. Wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen ernsthaft bedroht sei oder die Überschuldung ihn „dauerhaft demotiviert und ihn unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten“ lasse, sei eine Einigung noch immer möglich. Nach Einschätzung des Rechtsanwalts Marcus Köster von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen wird es für Arbeitslose jedoch schwer, eine solch starke Belastung zu beweisen. „Für so einen Beleg müsste man einen Arzt einschalten und ein Attest liefern“, sagt er.«

Man muss das an dieser Stelle leider so bilanzieren: Die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerium leistet erneut einen Beitrag zu einer Rechtsverschärfung zuungunsten einige Betroffener im Hartz IV-System und die „Lösung“ ihres Hauses würde neben der Tatsache, dass die nur für Einzelfälle gelten würde, einen Rattenschwanz an zusätzlichen Arbeiten (bei Ärzten, in den Jobcentern, bei den Gerichtet im Gefolge von Widersprüchen und Klagen usw.) auslösen – in Zeiten, in denen in den Sonntagsreden von Bürokratieabbau fabuliert wird. Und damit nicht genug: »Den Preis für die harte Linie von Andrea Nahles zahlen nicht nur die Arbeitssuchenden, sondern auch die Bundesländer. Etwa 2000 Euro kostet ein Insolvenzverfahren, das den Menschen bei einer gescheiterten Einigung bevor steht – bei mittellosen Bürgern müssen die Länder diese Kosten übernehmen. Eigentlich will das Bundesjustizministerium diese teuren Verfahren vermeiden, eben deshalb gibt es eine Verhandlungspflicht«, so Kristiana Ludwig ergänzend in ihrem Artikel.

Übrigens – der eine oder andere aufmerksame Leser dieses Blogs wird sich erinnern, dass bereits am 23. November 2015 in dem Beitrag Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in „Telefoninkasso“ schult auf den damals vor der Einführung stehenden Inkasso-Dienst der BA hingewiesen wurde: Die Bundesagentur für Arbeit setzt auf eine „Professionalisierung“ hin zu einem „modernen Inkasso-Unternehmen“. Als Grundlage fungiert ein neues „Fachkonzept Inkasso“, mit dem die BA künftig einen „besseren Einziehungserfolg“ erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen – auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen. Und auch den folgenden Passus aus dem damaligen Beitrag sollte man wieder in Erinnerung rufen: »Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden.«

Die Zukunft des Wohlfahrtsstaats aus der Umfrage-Sicht der Bevölkerung: Mehr wollen, zahlen sollen die da oben und eine Hierarchie der Wohlfahrtsbedürftigkeit

»Die deutsche Bevölkerung plädiert in ihrer übergroßen Mehrheit für einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Dieser Befund ergibt sich aus einer von TNS Infratest im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten repräsentativen Umfrage, bei der insgesamt 2.000 Wahlberechtigte ab 18 Jahren zu ihren reformpolitisch relevanten Präferenzen und Einstellungen befragt wurden.« Das berichtet die Friedrich-Ebert-Stiftung unter der Überschrift Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Man hat eine repräsentative Umfrage machen lassen und verdichtet die wichtigsten Erkenntnisse der auf dieser Grundlage erstellten Studie (Roberto Heinrich, Sven Jochem, Nico A. Siegel: Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Einstellungen zur Reformpolitik in Deutschland. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2016) in fünf Punkten, die auf den ersten Blick dem Sozialpolitiker gefallen dürften.

1.) 82 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland mittlerweile ein zu hohes Ausmaß angenommen hat. Diese Wahrnehmung zieht sich durch alle sozialen Schichten und politischen Lager. Zudem sind viele der Befragten überzeugt, dass sich die zu hohe soziale Ungleichheit negativ auf die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft auswirkt.
2.) Die vollständige Gleichstellung von Mann und Frau sowie der effiziente Ausbau von wohlfahrtsstaatlichen Humandienstleistungen werden von der Bevölkerung als Prioritäten für die Reformpolitik genannt. Insbesondere in den Bereichen Bildung, Familie und Kinderbetreuung wird dringender Handlungsbedarf gesehen.
3.) Die Kerninstitutionen des deutschen Sozialstaats, die Sozialversicherungen, erfahren nach wie vor hohen Zuspruch in der Bevölkerung. Jedoch wird deutliches Verbesserungspotential auf der Leistungsseite ausgemacht: Ein Großteil der Befragten stuft das Niveau der Absicherung nur als „gerade ausreichend“ ein und bezweifelt, dass der Wohlfahrtsstaat die soziale Ungleichheit in Deutschland effektiv und nachhaltig bekämpfen kann.
4.) Die Verantwortung für eine adäquate Absicherung des Lebensstandards bei gesundheitlichen und sozialen Risiken liegt nach Überzeugung einer großen Mehrheit noch immer beim Staat. Sämtliche Bevölkerungsgruppen wünschen sich mindestens eine Konservierung des bisherigen Ausgabenniveaus und plädieren eher für eine weitere Expansion, statt für Aufgabenkürzungen.
5.) Zur Finanzierung des gewünschten Leistungsniveaus finden höhere Steuern auf Erbschaften, für Unternehmen und auf Vermögenswerte hohen Zuspruch. Sozialstaatliche Ausgabenkürzungen und eine staatliche Kreditaufnahme werden als Finanzierungsinstrumente abgelehnt. Gleiches gilt für eine Erhöhung der Einkommenssteuer und von Sozialabgaben.

Schauen wir uns den letzten Punkt einmal genauer an. Florian Diekmann hat genau hier angesetzt und das bereits in der Überschrift zu seinem Artikel auf den Punkt gebracht: Die Deutschen wollen mehr Sozialstaat – aber kaum dafür zahlen. »Der deutsche Sozialstaat soll stärker werden, allerdings sollen breite Schichten der Bevölkerung nicht dafür bezahlen müssen. Auch neue Schulden wollen die Deutschen nicht machen.« Die Ablehnung höherer Steuern gilt bei der Mehrheit selbst für eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, die aufgrund der hohen Freibeträge vor allem Vermögende zu spüren bekommen würden.

Wo aber soll dann das Geld herkommen?

Irgendwie von denen da oben, zu denen man selbst nicht gehört. In der Studie wird darauf hingewiesen, dass die große Mehrheit der Deutschen die soziale Ungleichheit im Land als zu groß empfindet. Dementsprechend gibt es nur bei höheren Steuern für Unternehmen und Vermögende Zustimmung.
Daraus resultiert aber, so Florian Diekmann, ein Dilemma: Höhere Steuern für Unternehmen und Vermögende allein würden aber wohl kaum ausreichen, den Wohlfahrtsstaat im gewünschten Ausmaß auszubauen.

Ein Verdacht liegt nahe: Die Deutschen haben ein paradoxes Verhältnis zur Solidarität. Aber das sich gleichsam aufdrängende Bewertungsschema einer „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“-Mentalität wird von Florian Diekmann selbst hinterfragt:

»Erstens sind selbst unter jenen Befragten zwei Drittel für höhere Vermögensteuern, die davon betroffen wären – nämlich die, die sich selbst in der Oberschicht oder oberen Mittelschicht verorten oder über ein Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 4000 Euro im Monat verfügen. Diese Leistungsfähigen sehen sich also durchaus in der Pflicht.
Und zweitens ist die Haltung nur logisch: Würde das nötige Geld über höhere Beitragssätze oder Einkommensteuern – oder gar über Kürzungen in anderen Bereichen der Sozialversicherung – erhoben, würde sich die Ungleichheit noch vergrößern.«

Nur: »Selbst wenn man die Vermögensteuer wieder einführt und die Unternehmenssteuern erhöht, dürfte das Geld kaum reichen, den Wohlfahrtsstaat wie gewünscht auszubauen und massiv in Bildung zu investieren.«

Hier wird auch ein Dilemma der Linken erkennbar. »DIE LINKE vertritt die Position der übergroßen Mehrheit: Mehr soziale Sicherheit durch Reichensteuern finanzieren.« So ein Tweet von Sarah Wagenknecht. Aber wie gesagt, das wird nicht reichen und zugleich blockiert so eine Position – bei aller berechtigten und notwendigen Debatte über ein anderes Maß der Umverteilung als heute – die Einsicht, dass wir angesichts der enormen Aufgabenbedarfe in Rente, Pflege, Gesundheit und anderen sozialpolitischen Bereichen eine deutliche Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage der sozialen Sicherungssysteme brauchen bis hin zu einer Diskussion über neue Finanzierungsquellen.

Ein anderer Aspekt, den man der Untersuchung entnehmen kann, wurde bislang nirgendwo thematisiert. Wieder werden wir Zeugen einer seit langem sichtbaren Hierarchisierung der Wohlfahrtsbedürftigkeit der einzelnen Handlungsfelder.

Man schaue sich die beiden Abbildungen am Anfang dieses Beitrags an, die der neuen Studie entnommen sind. Sowohl bei der Frage, wofür der Staat Verantwortung zu übernehmen hat wie auch hinsichtlich der Frage, wo der Staat denn mehr Gelder ausgeben sollte, finden wir ganz unten die Arbeitslosen und die Hartz IV-Empfänger.

Das ist einer der bedrückendsten Befunde, die man in der Umfrage finden kann. Offensichtlich werden wir hier mit dem konfrontiert, was ich als Dreiklang von „Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung“ von Arbeitslosigkeit, vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit, bezeichnet habe.

Die Abkoppelung der Langzeitarbeitslosen in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft hat sich verfestigt und man gesteht ihnen immer weniger bis gar nicht zu, von einem aktiven Sozialstaat profitieren zu können. Man kann es auch so zuspitzend formulieren: Ihnen wird die Schuld in die eigenen Schuhe geschoben. Unabhängig davon, dass das bei dem einen oder anderen durchaus nicht unberechtigt sein mag – eine ganze Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen, mit ihren ganz eigenen Geschichten, wird in die Kollektivhaft einer gesellschaftlichen Zuschreibung genommen, nach der es an ihnen liegt, sich aus der Arbeitslosigkeit zu befreien. Auf alle Fälle sieht man auf diese Menschen bezogen den geringsten Verantwortungsgrad staatlichen Handelns und zusätzliche Ausgaben will man gar nicht in Erwägung ziehen.

Nicht nur, aber auch wegen solcher Befunde sind die Ergebnisse der Studie beim genaueren Hinsehen für den Sozialpolitiker gar nicht so ohne. Und man sollte nicht vergessen – die Entsolidarisierung beginnt immer an den Rändern, die man noch gut verkaufen kann, aber sie frisst sich unaufhaltsam vor in die Mitte der Wohlfahrtswelt. Wenn sie da angekommen ist, wird es zu spät sein.

So viele sind es! Wirklich? Nicht nur bei den Arbeitslosen, auch bei der Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalten sollte man genauer hinschauen

Es ist eine Binsenweisheit – mit Zahlen macht man Politik. Und in der Politik gibt es zum einen die Angst vor dem Effekt der großen Zahlen, wenn es um Bereiche geht, bei denen diese große Zahlen nicht für Erfolg stehen, sondern Probleme anzeigen. Man denke an dieser Stelle beispielsweise an die immer wieder hochkochende Debatte über die Frage, wie viele arme Menschen es denn unter uns gibt und ob deren Zahl zugenommen hat oder nicht. Zum anderen hat Politik aber immer auch die Möglichkeit, Einfluss auszuüben auf die Frage, welche Daten erhoben werden und wie man diese ausweist. Das kann verwendet werden, um ein bislang intransparentes Feld besser auszuleuchten und damit unser Wissen zu erweitern. Es kann aber auch genutzt werden, die Augen im wahrsten Sinne des Wortes zu verschließen vor der Realität nach dem Motto, was nicht gezählt wird, das gibt es auch nicht. Zumindest nicht in der Berichterstattung, die natürlich auf Zahlen angewiesen ist. Vgl. dazu nur als ein Beispiel den Blog-Beitrag über die seit langem geforderte, vom Bund bislang stets verweigerte Obachlosen-Statistik vom 29. Juli 2015: Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik.
Und wenn man schon nicht verhindern kann, dass überhaupt gewisse Zahlen ausgewiesen werden, dann kann man versuchen, den unangenehmen Effekt der großen Zahlen (der in der Sozialpolitik dominiert) abzuschwächen, in dem man entweder das, was man zählt, kleiner macht, durch Ausschluss eigentlich zu berücksichtigender Elemente. Oder man versucht, die Zahlen in mehrere Untergruppen kleinzuschreddern und ihre (Wieder-)Zusammenführung nicht vorsieht oder erschwert.

Was abstrakt daherkommt, hat ganz handfeste Auswirkungen, die man (nicht nur) an der Zahl der Arbeitslosen illustrieren kann, sondern neuerdings leider auch bei der an sich so einfach und unschuldig erscheinenden Frage nach der Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalte.

Im Bereich der Arbeitslosenstatistik gibt es seit vielen Jahren eine fundierte Kritik an den monatlich ausgewiesenen Zahlen „der“ Arbeitslosen, die dann von den Medien verbreitet werden. Schauen wir uns das an einem aktuellen Beispiel an: Für den Mai 2016 berichtet die Bundesagentur für Arbeit (BA) von 2,66 Millionen Arbeitslosen. Das gesamte Ausmaß der Menschen ohne Arbeit bildet die offizielle Zahl jedoch nicht ab. Allein 864.000 faktisch Arbeitslose sind nicht in der Arbeitslosen-, sondern in der separaten „Unterbeschäftigungsstatistik“ enthalten, die auch von der BA zur Verfügung gestellt wird. Aber genannt wird immer zuerst die definitiv zu niedrige Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen und nicht die erheblich höhere Zahl der „Unterbeschäftigten im engeren Sinn“, die alle natürlich auch faktisch arbeitslos sind, aber durch statistische Winkelzüge rausgenommen worden sind aus der offiziellen Arbeitslosenzahl.

Auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt wird darauf seit Jahren jeden Monat immer wieder hingewiesen. Zu den zitierten Mai 2016-Zahlen kann man dort diese Erläuterung nachlesen: Unter den 864.000 faktisch Arbeitslosen befanden sich 615.000 Menschen, die an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnahmen, mehr als 85.000 am Tag der Erfassung Krankgeschriebene und rund 164.000 über 58-Jährige, die innerhalb der letzten 12 Monate kein Jobangebot erhielten.

Und das wird auch immer wieder von einzelnen Medien aufgegriffen. Am Beispiel der zitierten aktuellen Zahlen aus dem Mai 2016 beispielsweise in diesem Artikel: So viele Arbeitslose gibt es wirklich in Deutschland. Auch dort wird zutreffend auf die Differenz zwischen Unterbeschäftigten- und offizieller Arbeitslosenzahl hingewiesen.

In der Rubrik „#kurzerklärt“ hat auch die ARD das Thema aufgegriffen, so in dem Beitrag Was die Arbeitslosenstatistik verschweigt vom 31.05.2016. 
Aber bei den meisten Medien herrscht „business as usual“, man schreibt einfach ab, was aus Nürnberg zuerst verkündet wird, obgleich nun doch allen Beteiligten die angesprochenen Zusammenhänge klar sein müssen. Als Beispiel – wieder zu den Mai 2016-Zahlen – sei hier SPIEGEL ONLINE zitiert. Die überschreiben ihre Meldung (die sie von den Nachrichtenagenturen haben) so: Zahl der Arbeitslosen fällt auf 2,66 Millionen
Nun kann man an dieser Stelle einwenden – das ist doch ein schon seit Jahren bekanntes und zu Recht kritisiertes Problem. Dann liefern wir das nächste, gleichsam „frische“ Beispiel aus der Zahlenproduktionswelt und das kommt aus der Grundsicherungsstatistik:
Es geht um die scheinbar wirklich triviale Frage, wie viele Kinder den in „Hartz IV-Haushalten“ leben. Das war erst vor wenigen Tagen in vielen Medienberichten Thema und auch in diesem Blog wurde das aufgegriffen – einschließlich der Zahl, die überall zu lesen, hören oder sehen war: 1,54 Millionen Kinder unter 15 Jahren sind es. Vgl. dazu den Blog-Beitrag Ein Teil der armen Kinder im Blitzlicht der Medienberichterstattung, erneut die Abwertung von Geldleistungen und jenseits der Sonntagsreden sogar weitere Kürzungen ganz unten ante portas vom 1. Juni 2016. Dort wurde folgendes berichtet:

»Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das geht aus einer Daten-Auswertung der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann von der Fraktion DIE LINKE anlässlich des internationalen Kindertags am 1. Juni hervor.
Im vergangenen Jahr waren im Schnitt 1,54 Millionen unter 15-Jährige betroffen. Das waren gut 30.000 Kinder und Jugendliche mehr als im Vorjahr. Die Angaben stammen von der Bundesagentur für Arbeit.«

Aber in Wirklichkeit waren es im Jahresdurchschnitt 2015 nicht 1,54 Millionen Kinder, sondern 1,67 Millionen – ganz genau 126.163 Kinder mehr als offiziell ausgewiesen. Auf diese nun wirklich nicht zu vernachlässigende Differenz hat wieder einmal Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hingewiesen, der sich seit Jahren unermüdlich und äußerst aufmerksam mit dem nicht-vergnügungssteuerpflichtigen Thema der Tiefen und Untiefen der Arbeitsmarkt- und Grundsicherungsstatistik beschäftigt.

Aber wieso fallen mehr als 126.000 Kinder einfach so unter den Teppich? Paul M. Schröder sorgt für Aufklärung: Das ist eine Folge der „Revision“ der Statistik. Man hat also was an der Art und Weise, wie wer wo gezählt wird, verändert. Dazu sein grundsätzlicher Beitrag vom 25. Mai 2016: Hartz IV: Revision der Grundsicherungsstatistik – Revisionseffekte im Bund und in den Länden. Speziell zu den – auch in meinem Beitrag vom 1. Juni 2016 aus der Presse übernommenen Zahlen der Kinder in Hartz IV-Haushalten – hat er ebenfalls schon am 1. Juni 2016 diesen Beitrag veröffentlicht: Mehr als 1,54 Millionen! Kinder unter 15 in SGB II-Bedarfsgemeinschaften: Bund und Länder 2007 bis 2015.  
Machen wir uns möglichst einfach klar, was hier verändert wurde: Vor der Revision der Statistik gab es mit Blick auf die Menschen im Hartz IV-System im Grunde zwei Kategorien: 



Vor der Revision umfasste die Zahl der Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (eLb) und die nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (nEf), darunter weit überwiegend Kinder im Alter von unter 15 Jahren (nEf_u15)«, so Schröder. Das wurde dann auch ausgewiesen und man musste nur beide Zahlen addieren, um zur Gesamtzahl zu kommen. Und auf diesen Zahlen basierte dann auch die SGB II-Quote (also wie viele Menschen gemessen als Anteil in Prozent waren oder sind auf Hartz IV-Leistungen angewiesen). Und nun? Alles wird komplizierter, diese bekannte und für viele Bereiche unseres Lebens zutreffende Weisheit passt hier mehr als genau. Die tabellarische Übersicht von Paul M. Schröder illustriert das, was am Anfang dieses Blog-Beitrags als die Zahlen „kleinschreddern“ durch die Bildung von mehr und neuen Untergruppen angesprochen wurde.

Konkret am Beispiel der Kinder: Die in den Presseberichten und auch hier zitierte Zahl von 1,54 Millionen Kindern unter 15 Jahren in Hartz IV-Haushalten stimmt durchaus, ist aber eben nicht die Gesamtzahl der Kinder, sondern es handelt sich nur um „nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ (NEF_u15). Wie man auf die 1,67 Millionen Kinder kommt? Man muss hinzuaddieren:
30.743 „nicht erwerbsfähige sonstige Leistungsberechtigte“ (NESLB_u15), 89.597 „Kinder ohne Leistungsanspruch“ (KOL_u15) und 5.823 „vom Leistungsanspruch ausgeschlossene Personen“ (AUS_u15), jeweils alle unter 15 Jahre alt. 
Alles klar? Auf alle Fälle sind so mal eben mehr als 126.000 Hartz IV-Kinder „verloren“ gegangen, denn die BA übermittelt auf Anfrage eben die kleinere Zahl. Und das hat auch Auswirkungen auf die Anteilwerte, die gerne verwendet werden. Nach der neuen Statistik lag die SGB II-Quote für die Kinder unter 15 Jahren bei 14,4 Prozent. Wenn man aber richtig rechnet, erhöht sich die jahresdurchschnittlich SGB II-Quote auf 15,6 Prozent. 
Das war mal wieder ein Beitrag aus der Reihe „Gestalten mit Statistik“. Nur dass es hier nicht um irgendwelche Belanglosigkeiten geht, sondern um die Grundsicherungsstatistik, die Aufschluss geben soll über ein System, auf das Millionen Menschen angewiesen sind im Bereich des Existenzminimums.