Irrungen und Wirrungen der Diskussion über „den“ Arbeitsmarkt, „die“ Arbeitslosen – und natürlich darf „die“ Armut nicht fehlen

Jetzt muss auch mal eine positive Botschaft kommen, bei all den sozialpolitischen Problemen, die in diesem Blog ansonsten so ausgebreitet werden. Also erfüllen wird den Wunsch des einen oder der anderen und zitieren voller anfänglicher Zufriedenheit: »Kommt eine Deutsche, die jahrelang im Ausland lebte und drei Jahre für ihre Töchter daheim blieb, zurück nach Deutschland. Bewirbt sich auf die erste Stelle, die ihr passend erscheint, und – zack! – sie hat den Job. Kommt ein arbeitsloser Spanier nach Deutschland, bewirbt sich auf drei Stellen und – oha! – bekommt drei Angebote. Fast jeder Deutsche kennt derzeit so eine Geschichte, und viele Europäer kennen sie auch. Den Jugendlichen der Krisenländer gilt Deutschland längst als gelobtes Land der Arbeit.« So Lisa Nienhaus in ihrem gleichsam als Predigttext daherkommenden Artikel Freut euch doch endlich!

Allerdings begrenzt sie ihre klar daherkommende Botschaft sogleich mit einer missbilligend klingenden Anfrage an das lesende Publikum: »Deutschland erlebt ein Wunder am Arbeitsmarkt. Wieso trauen wir ihm nicht?« Die Dame ist wirklich verschnupft mit „den“ Deutschen: »Man muss es den Deutschen … noch einmal ganz deutlich sagen: In Deutschland gibt es mehr Arbeit, als es sich vor zehn Jahren die kühnsten Optimisten vorherzusagen trauten.« Nein, es soll hier gar nicht die Frage aufgeworfen werden, was das denn für eine Arbeit im Detail ist – obwohl man schon geneigt ist, darauf hinzuweisen, dass dazu auch solche Arbeit gehört, die der Artikelschreiberin wahrscheinlich nicht direkt vor Augen ist, was sie aber der eigenen Zeitung, für die sie schreibt, entnehmen kann: Verkauft an den Meistbietenden, so ein lesenswerter Beitrag von Leonie Feuerbach: »Leiharbeitsfirmen locken junge Rumänen auf Arbeitssuche nach Deutschland. Hier werden sie ausgenutzt und ausgebeutet – mitunter jahrelang. Zwei rumänische Krankenpfleger erzählen, was sie in deutschen Pflege- und Altenheimen erlebten.«

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Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.

Die faktische Kraft des Formalen auf dem Arbeitsmarkt und die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen

Jeder, der sich nur ein wenig auskennt im Bereich der Arbeitsvermittlung, weiß um den Stellenwert des formalen Berufsabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die hier agierenden Arbeitgeber sind sehr stark abschlussorientiert, was bedeutet, dass das Vorhandensein eines, zuweilen irgendeines Berufsabschlusses als Flaschenhals beim Zugang zu einer, zuweilen irgendeiner Beschäftigung fungiert. Das ist dann nicht nur ein  Problem für die Arbeitsuchenden, die keinen solchen Abschluss haben, sondern auch für die, die beispielsweise während einer mehr oder weniger langen Zeit der Arbeitslosigkeit an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben, die mit einem Zertifikat des Maßnahmeträgers abgeschlossen wurden, denn viele (potenzielle) Arbeitgeber werten diese Zertifikate unterhalb eines formalen Berufsabschlusses sehr niedrig. Insofern kann ein fehlender Berufsabschluss auf dem deutschen Arbeitsmarkt wie ein – notwendigerweise ungerecht wirkendes – statistisches Ausschlussmerkmal den Zugang zu einem neuen Job blockieren, selbst wenn der Betroffene eigentlich über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. Aber er kommt gar nicht in die Nähe einer Chance, diese überhaupt zeigen zu können. Eine Studie aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat diesen an sich seit langem bekannten Sachverhalt neu aufgerufen und mit Daten zu belegen versucht.

»Eine Stelle findet leichter, wer einen formalen Abschluss vorweisen kann. Wie viel jemand tatsächlich kann, spielt dagegen oftmals eine überraschend geringe Rolle«, so die zutreffende Zusammenfassung des Hautergebnisses der neuen WZB-Studie  in dem Artikel Abschluss schlägt Können.

Die WZB-Studie im Original: Jan Paul Heisig und Heike Solga: Ohne Abschluss keine Chance. Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus. WZBrief Arbeit 19, Berlin, Januar 2015

Amory Burchard beschreibt die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie in dem Artikel Rechnen gut, Jobaussichten schlecht so: Ausgangspunkt ist die 2013 veröffentlichte OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), umgangssprachlich zuweilen als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet. PIAAC »misst, wie gut weltweit Menschen im erwerbsfähigen Alter lesen, rechnen und mit digitalen Medien umgehen können. Getestet wurden alltägliche Fähigkeiten, wie man sie etwa beim Einkaufen braucht, zur Interpretation von Statistiken oder um sich im öffentlichen Nahverkehr zurechtzufinden.« Ob nun 15-jährige Schüler untersucht werden oder eben Erwachsene – immer greift die OECD auf das gleiche Kompetenzstufenmodell zurück:

»Wer nur auf der ersten von fünf Kompetenzstufen lesen oder rechnen kann, also nicht in der Lage ist, etwas komplexere Aufgaben zu lösen, gehört der „Risikogruppe“ an, die weder im Alltag noch im Berufsleben gut zurechtkommen kann. In Mathematik gehören aktuell knapp 17,7 Prozent der deutschen Schüler dieser Gruppe an, beim „Erwachsenen-Pisa“ waren es 18,5 Prozent.«

Dass die Zugehörigkeit zu der „Risikogruppe“, bei der elementare Fähigkeiten fehlen, oftmals mit einer sehr hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit korreliert, überrascht nicht wirklich, sind doch in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Arbeitsplätze wegrationalisiert worden, auf denen früher diese Menschen Arbeit gefunden haben. Dazu findet man in die Studie die folgenden allgemeinen Hinweise:

»Seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren ist der Anteil an formal gering qualifizierten Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium in der Bevölkerung stark gesunken: 1978 waren noch etwa 36 Prozent der 25- bis 55-Jährigen in Westdeutschland gering qualifiziert. 2012 traf dies nur noch auf 17 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe zu. Zugleich haben sich die Arbeitsmarktchancen von formal gering Qualifizierten seitdem dramatisch verschlechtert – in Deutschland wie in fast allen Industrieländern. In Westdeutschland erhöhte sich die Arbeitslosenquote von Erwachsenen ohne Berufsausbildung oder Hochschulabschluss zwischen 1980 und 2010 von 5,9 auf 19,1 Prozent. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote von Personen mit Berufsausbildung von 2,1 auf 4,5 Prozent, die von Menschen mit Studienabschluss von 1,8 auf 2,0 Prozent an.« (Heisig/Solga 2015: 2)

Die Wissenschaftler vom WZB haben nun einen ganz besonderen Ausschnitt aus der in PIAAC untersuchten Gruppe der Erwachsenen betrachtet und bei diesen dann einen besonderen Blick geworfen auf deren mathematische Kompetenzen. Die WZB-Forscher schauten nur auf die Erwachsene, die keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und daher als formal gering qualifiziert gelten. Und dabei nur auf die Männer (zwischen 24 und 54 Jahren), denn die Arbeitsmarktchancen der Frauen ohne Berufsausbildung sind stark von ihrer familiären Situation beeinflusst und nicht nur bzw. weniger von der (formalen) Qualifikationsfrage. In dem Artikel Abschluss schlägt Können können wir lesen:

»Die formal Geringqualifizierten verfügen nicht alle zwangsläufig auch über geringe Kompetenzen in Mathematik. Im Durchschnitt erreichten sie in diesem PIAAC-Testbereich zwar schlechtere Ergebnisse, mit 17 Prozent kamen in dieser Gruppe der Geringqualifizierten jedoch relativ viele auf ein Kompetenzniveau, das eigentlich mit eher anspruchsvollen Tätigkeiten verbunden ist. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass sich in der Gruppe auch Studienabbrecher finden können, die keine Lehre angefangen haben.«

Wenn die Arbeitgeber kompetenzorientiert einstellen würden, dann müsste zumindest diese Untergruppe der formal Geringqualifizierten bessere Jobchancen haben, verfügen sie doch mit der Zuordnung zur Kompetenzstufe 3 über Fähigkeiten auf einem Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung zur Ausübung durchaus anspruchsvollerer Tätigkeiten ausreicht (Stufe 3 bedeutet, dass sie damit ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und räumliches Vorstellungsvermögen haben, sie können etwa Daten und Statistiken in Texten, Tabellen und Grafiken interpretieren und analysieren).

Die Realität sieht aber anders aus – zumindest in Deutschland: Denn »das Risiko der mathematisch Kompetenten, arbeitslos zu sein, (ist) mit 30 Prozent ebenso hoch wie bei den anderen Gruppen. International seien Deutschland und auch die USA damit Sonderfälle, betonen die Forscher. In allen anderen 22 Ländern, die an PIAAC teilgenommen haben, hätten Männer mit niedriger Qualifikation, aber besseren alltagsmathematischen Fähigkeiten, mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt«, so Amory Burchard in seinem Artikel. Wer keinen Berufs- oder Studienabschluss vorweisen kann, hat in Deutschland offenbar kaum Chancen, das mit seinem Können aufzuwiegen.

Die faktische Kraft des (Nicht-)Abschlusses wird auch an diesem besonderen Befund deutlich, den die Wissenschaftler herausstellen:

»Die Nichtbeschäftigungsquote von Männern mit Berufsausbildung, die höchstens die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist mit 24 Prozent ähnlich hoch wie die von gering qualifizierten Männern auf dieser Kompetenzstufe … Männer mit beruflichem Abschluss profitieren jedoch trotz ihrer geringen alltagsmathematischen Kompetenzen von ihren höheren Bildungsabschlüssen: Wenn sie erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt geschafft haben, arbeiten sie deutlich seltener als Un- oder Angelernte als formal gering qualifizierte Männer mit gleichen oder sogar höheren allgemeinen Kompetenzen.« (Heisig/Solga 2015: 5 f.)

Zusammenfassend bilanzieren Heisig/Solga (2015: 6): »Die Befunde unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Höhere alltagsmathematische Kompetenzen gehen für formal gering qualifizierte Männer in Deutschland – anders als in anderen Ländern – kaum mit besseren Arbeitsmarktchancen einher. Andererseits scheint auch der Nutzen von beruflichen Abschlüssen begrenzt zu sein, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Lesen wir zuerst die Schlussfolgerungen der beiden Wissenschaftler vom WZB:

»Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht. Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten, da deren Nutzen offenbar begrenzt ist, wenn die Grundkompetenzen sehr gering sind. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.«

Genau an diesen beiden Stellen zeigen sich erhebliche Defizite in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, denn diese ist vor allem mit Beginn der Umsetzung der so genannten „Hartz-Gesetze“ einem ganz anderen Entwicklungspfad gefolgt: „quick and dirty“, so könnte man zuspitzend die Ausgestaltung vieler „Aktivierungsbemühungen“ charakterisieren. Vor allem der Bereich der Förderung der beruflichen Weiterbildung war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man länger laufende und erst einmal kostspieligere Qualifizierungsmaßnahmen, die mit einem formalen Berufsabschluss enden, massiv nach unten gefahren hat zugunsten kurzer, billigerer Maßnahmen, die – wenn überhaupt – mit irgendeinem oftmals kaum oder gar nicht verwertbaren Zertifikat des Bildungsträgers abgeschlossen werden. Erst am aktuellen Rand beginnt auch die Bundesagentur für Arbeit, die Zahl der abschlussorientierten Maßnahmen langsam wieder nach oben zu treiben. Es stellen sich zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, deren derzeitige Nicht- oder Rudimentär-Bearbeitung auf das große schwarze Loch verweisen, mit dem wir hier konfrontiert sind:

  • Wir haben über eine Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die über keinen formalen Berufsabschluss verfügen. Hierbei handelt es sich oftmals um die, die am Anfang ihrer (Nicht)Erwerbsbiografie einen Ausbildungsplatz gesucht haben, damals aber aufgrund des Überangebots an Ausbildungsuchenden keinen Zugang haben finden können. Sie sind dann eben als Un- und Angelernte auf dem Arbeitsmarkt gelandet und pendeln oftmals zwischen irgendeiner Erwerbsarbeit und Phasen der Arbeitslosigkeit hin und her bzw. ein Teil von ihnen ist im Langleistungsbezug des Grundsicherungssystems gelandet. Hier müsste man – übrigens verstärkt durch den absehbaren Bedarf an Menschen auf der mittleren Qualifikationsebene – mit einem wirklich seinen Namen verdienenden Qualifizierungsprogramm ansetzen. Dafür muss man nur einmal den Blick zurück richten auf die Anfangsjahre des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), denn bis Mitte der 1970er Jahre gab es ein im Vergleich zu heute traumhaft attraktives Qualifizierungsprogramm für Erwachsene mit einem Unterhaltsgeld von bis zu 90% des letzten Nettoentgelts, wenn die Betroffenen bereit waren, in einen als zukunftsträchtig wahrgenommenen Beruf umzuschulen bzw. einen ersten Abschluss zu erwerben. Genau diesen Mut zur Investition müsste die Politik jetzt auch wieder aufbringen und entsprechend Geld in die Hand nehmen. Denn volkswirtschaftlich (und gesellschaftspolitisch) würde sich eine solche Investitionsoffensive in das Humanvermögen der Menschen mehr als lohnen, es würde sich um ein Vielfaches auszahlen, wenn man auf dem Schirm hätte, was die zu Facharbeitern, Handwerkern usw. umgeschulten bzw. qualifizierten Menschen über Jahrzehnte an Steuern und Sozialbeiträgen leisten werden bzw. könnten. Allerdings verweist das auf die Notwendigkeit einer „richtigen“ volkswirtschaftlichen Perspektive, denn der „return on investment“ wird eben nicht im nächsten Haushaltsjahr realisiert, sondern wir sind hier mit time-lags von mehreren Jahren zwischen Investition und den Rückflüssen konfrontiert. Aber: Noch nie war die Zeit an sich so günstig für einen solchen Paradigmenwechsel, wenn man sich anschaut, mit welchen Verwerfungen beispielsweise der Ausbildungsmarkt derzeit aufgrund der Umkehrung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert ist.
  • Darüber hinaus muss man aber auch angesichts der veränderten Zusammensetzung der Betroffenen inhaltliche Paradigmenwechsel bei der Qualifizierungsförderung vornehmen. Dies stellt vor allem auf den Faktor Zeit und auf den Faktor Lernarrangements ab. Viele der betroffenen Menschen brauchen – auch vor dem Hintergrund der in vielen Berufsausbildungen gestiegenen Anforderungen – mehr Zeit als bisher für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung. Die muss man auch förderrechtlich ermöglichen. Und gerade mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im SGB II benötigen wir eine Aufhebung der immer noch stark ausgeprägten Versäulung der Arbeitsmarktpolitik in entweder Beschäftigung oder Qualifizierung. Viele der hier Betroffenen können sehr wohl qualifiziert werden, allerdings nicht in den tradierten Lernsettings, de im Wesentlichen immer noch einer primär kognitiv, also schulisch determinierten Ausrichtung folgen. Qualifizierung durch echte Arbeit müsste irr der konzeptionelle Ansatzpunkt lauten. Dazu gibt es gerade aus der Praxis eine jahrzehntelange Evidenz, die allerdings gebrochen wird an der Realität des Förderrechts und der durch dieses bedingten Ausgestaltung der Maßnahmen. 

Summa summarum zwei richtig große Baustellen. Aber sie sind weitgehend leer, es sind derzeit keine größeren Aktivitäten erkennbar. Und wenn sich das nicht bald ändert, werden weiterhin viele Menschen aus dem bestehenden System ausgespuckt und auf Dauer auf ein Abstellgleis gestellt werden.