Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden

Ein gewichtiger Teil der Berichterstattung dreht sich überwiegend um „Arbeitslose“ und dann auch noch in Gestalt ihrer absoluten Untergrenze, also der offiziell registrierten Arbeitslosen, deren Größenordnung einmal monatlich von der Bundesarbeitslosenverwaltung in Nürnberg verkündet wird. Da erfährt man dann: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von September auf Oktober um 59.000 auf 2.649.000 gesunken.« Die meisten Journalisten brechen an dieser Stelle ab und tragen die tatsächlich quantitativ erfreulich rückläufige Zahl in die Öffentlichkeit. Wenn sie doch wenigstens die schon „richtigere“ Zahl nennen würden, die von der BA ebenfalls publiziert wird: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt … belief sich … im Oktober 2015 auf 3.476.000 Personen.«

Das sind immerhin 827.000 Menschen mehr als die Zahl, die dann über die Presse verbreitet wird – und arbeitslos sind die nun wirklich auch. Aber es geht in diesem Beitrag gar nicht um die Zahl der Arbeitslosen, sondern um eine andere, die 70% der ausgewiesenen „offiziellen“ Arbeitslosen beinhaltet: um die Zahl der Hartz IV-Empfänger. Und die liegt derzeit bei fast 6,1 Millionen Menschen. Das ist nun eine ganze andere „Gewichtsklasse“ und vielen – auch in den Medien – ist gar nicht bewusst, dass es so viele sind, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind. Immerhin zehn Prozent der Menschen in unserem Land sind auf Hartz IV-Leistungen existenziell angewiesen. Und die tragenden Säulen dieser Leistungen sind zum einen der „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ – das sind die derzeit noch 399 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden – sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Für Wohnkosten bekommt ein Alleinstehender derzeit im Durchschnitt gut 300 Euro. Am 1. Januar 2016 wird der Regelsatz um 5 Euro auf 404 Euro erhöht. Die jährlich vorzunehmende Dynamisierung hängt zu 70 Prozent von der Preisentwicklung und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung ab.

Nun gibt es allerdings einen interessanten Passus im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“: »Liegen die Ergebnisse einer bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vor, wird die Höhe der Regelbedarfe in einem Bundesgesetz neu ermittelt.« Ganz offensichtlich geht es hier um die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Man muss wissen: Die EVS wird alle fünf Jahre durchgeführt. 60.000 Haushalte führen für das Statistische Bundesamt Haushaltsbücher. Drei Monate lang halten sie penibel fest, wofür sie Geld ausgeben. Etwa 200 Positionen sind in  der EVS vorgesehen, vom Waschmittel über die Telefongebühren bis zu Essen und Trinken.

Derzeit beruhen die Hartz-IV-Sätze noch auf der EVS von 2008. Wer rechnen kann, ist bekanntlich klar im Vorteil und wird sofort erkannt haben, dass bei fünfjährigen Abständen 2013 eine neue EVS-Erhebung stattgefunden haben muss. So ist es auch. dabei wurden umfangreiche Daten erhoben, die von den Bundesstatistikern natürlich erst ausgewertet werden mussten. Das aber ist nunmehr geschehen, die Ergebnisse liegen vor. Also könnte man jetzt entsprechende gesetzgeberische Schlussfolgerungen ziehen. Aber in der bereits zitierten Vorschrift des § 28 SGB XII steht nicht, wie schnell das zu passieren hat. Insofern überrascht dann diese Feststellung von Thomas Öchsner in seinem Artikel Hartz IV ist zu niedrig – Erhöhung bleibt trotzdem aus nicht wirklich:

»Hartz-IV-Bezieher sollten sich jedoch nicht zu früh freuen: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können sie erst Anfang 2017 rechnen.«

Natürlich liegt es angesichts der Haushaltswirksamkeit einer Erhöhung der Regelsätze im Interesse der Regierung, diese auf der Zeitachse zu schieben, das bedeutet Milliarden-Einsparungen. Von daher verwundert die Auskunft des Bundesarbeitsministeriums nicht, die Öchsner in seinem Artikel zitiert:

»Zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben, sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Erst danach könne die Arbeit am Gesetz beginnen, sodass die neuen Regelbedarfshöhen auf Grund der neuen Haushalts-Stichprobe „zum 1. Januar 2017 in Kraft treten und damit im derzeitigen Anpassungsturnus liegen“. Auf Grund der „zeitlichen Abläufe“ sei es nicht möglich, den Termin auf den 1. Juli 2016 vorzuziehen. Auch sei nicht daran gedacht, die neuen Regelsätze rückwirkend gelten zu lassen.«

Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen wird in dem Artikel zitiert mit der Bewertung, dass das ein Skandal sei. So seien „die Leistungen nachweislich zu niedrig, um sich ausgewogen zu ernähren, die tatsächlichen Stromkosten zahlen oder sich eine Waschmaschine kaufen zu können“.

Offensichtlich setzt man hier auf Aussitzen. Dabei hatte sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem an sich regierungsfreundlichen Urteil  aus dem Juli 2014 – BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13) – kritisch angemerkt:
»Komme es wie zum Beispiel beim Strom zu außergewöhnlichen Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition, müsse der Gesetzgeber dies zeitnah abbilden und den Stromkostenanteil in den Regelsätzen erhöhen.«

Auch die damalige Entscheidung nimmt sogar explizit Bezug auf die EVS 2013, denn in der Pressemitteilung Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß zu dem Urteil heißt es:

»Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.«

Der in diesem Beitrag bereits zitierte Martin Künkler hatte bereits im September nach der Ankündigung der Mini-Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar 2016 in einem Interview ausgeführt:

»Die Bundesregierung will den Hartz-IV-Satz der Preis- und Lohnentwicklung anpassen. Sie ist aber in der Pflicht, die Hartz-IV-Leistung grundsätzlich neu zu ermitteln und deutlich zu erhöhen …  Nahles kommt ihren gesetzlichen Pflichten nicht nach: Hartz-IV-Beträge sind alle fünf Jahre aufgrund des Ausgabeverhaltens unterer Einkommensgruppen festzusetzen, sobald die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorliegen.«

Der Handlungsbedarf sei offensichtlich, so Künkler:

»Die Stromkosten sind seit 2008 um 38 Prozent in die Höhe geschossen, viele können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen …  Anderes Beispiel: Für ein 13jähriges Kind sind pro Tag für Essen und Trinken 3,53 Euro vorgesehen. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund hat festgestellt: Wer das ansatzweise hinbekommen will, müsste täglich vier Discounter abklappern, um jeweils die günstigsten Angebote herauszupicken. Hartz-IV-Bezieher als Schnäppchenjäger – aber sollen sie nicht eigentlich Arbeit suchen? Daran ist nicht zu denken, zumal im ländlichen Raum, wenn man kein Auto hat! Die Mobilität ist dort ein Problem wie auch in Großstädten. Der Gesetzgeber hat bei der letzten Festsetzung die Kosten dafür auf üble Weise kleingerechnet; zum Maßstab hat er Personen in Stadtzentren erklärt, die ihre Wege meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen.«

Natürlich wurde er auch gefragt, in welcher Größenordnung sich ein „richtig“ bemessener Regelsatz bewegen müsste: Um die 500 Euro, so die Antwort angesichts der vielen bestehenden Mängel.

Aber bereits die embryonal daherkommende Erhöhung um fünf Euro hat auf der anderen Seite wütende Reaktionen hervorgerufen. Ein »Anreiz zur Nichtarbeit« sei die Erhöhung, wird Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, in einem Artikel zitiert. Und Christian Freiherr von Stetten, CDU-Bundestagsabgeordneter sowie Präsidiumsmitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, wittert gar ein »Geschäftsmodell Hartz IV«. Es sei »kein Wunder«, dass »angebotene Arbeit konsequent abgelehnt« werde, so Susan Bonnet in ihrem Artikel Neoliberale Legenden. Minierhöhung von Hartz IV.

Und sie verweist kontrastierend darauf, um welche Beträge es hier in der Realität geht:

»Laut Regelsatztabelle darf ein Alleinstehender derzeit für 142 Euro monatlich essen und trinken, ein Jugendlicher für 107 Euro, für ein Kleinkind müssen 83 Euro reichen. Für Strom und Wohnungsreparaturen sind nur 33,36 Euro vorgesehen, für die Pflege eines Babys stehen Eltern inklusive Windeln ganze zehn Euro zur Verfügung. Und genau 1,01 Euro monatlich sollen für häusliche Bildung eines Schulkindes reichen.«

Vor kurzem gab es einen Vorstoß der Linken im Bundestag für ein höhere Existenzminimum. Ihr Antrag »für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum« fand keine Resonanz bei den Regierungsfraktionen. In einem Artikel kann man dazu lesen:

»Kaum wurde der Tagesordnungspunkt aufgerufen, verließen Dutzende Abgeordnete der Koalition den Plenarsaal. Linke-Vorsitzende Katja Kipping forderte eine Kommission, die das Existenzminimum neu berechnen und dafür ein Verfahren entwickeln solle, das die Armutsrisikogrenze und das »Warenkorbmodell« berücksichtige.«

Das zumindest wäre mal zu diskutieren. Statt dessen wird man mit so was konfrontiert: »Stephan Stracke (CSU) befand, Kippings Forderung falle »aus der Zeit«. Dann spielte er Arme gegen Arme aus: Das Land sei voller Flüchtlinge, da sei an eine Erhöhung von Hartz IV nicht zu denken.«

Zwischen Ad hocerie-Dominanz und Masterplan-Illusion: Die Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Segeln auf Sicht und viele Köche rühren in der Suppe

Es kommen immer mehr Menschen als Flüchtlinge nach
Deutschland. Darunter viele, die hier werden bleiben dürfen, beispielsweise
Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Aber auch immer noch viele, beispielsweise aus
den Staaten des Westbalkans, die mit über 99 prozentiger Sicherheit keine
Chance bekommen werden, hier Asyl zu erhalten. Viele von ihnen werden wieder
zurück gehen oder auch abgeschoben, andere tauchen schlichtweg unter und
verschwinden von der offiziellen Bildfläche, leben aber als Illegale unter uns.
Und dann sind da auch noch die Flüchtlinge, die eigentlich zurück müssten, weil
ihr Asylantrag abgelehnt worden ist, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen
als „Geduldete“ hier bleiben dürfen, da man sie nicht abschieben kann. Bereits
diese noch vollkommen grobschlächtige Aufzählung verdeutlicht einerseits, dass
es eben nicht „die“ Flüchtlinge gibt, sondern eine Vielzahl an
unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Konstellationen zu bedenken sind. Die
andererseits auch deshalb von Bedeutung sind, weil mit ihnen ganz
unterschiedliche Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit, eine Arbeit oder
Ausbildung aufzunehmen, verbunden sind.

Wer sich da vertiefend mit beschäftigen will, der kann sich
beispielsweise die an Arbeitgeber gerichtete Informationsbroschüre Potenziale
nutzen – geflüchtete Menschen beschäftigen
der Bundesagentur für Arbeit
heranziehen. Da wird darauf hingewiesen, dass es Asylsuchende mit einer
Aufenthaltsgestattung, anerkannten Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis oder
eben Geduldete gibt.
Nun wird nicht nur darüber diskutiert, wie viele Menschen
eigentlich zu uns kommen werden – wer erinnert sich nicht daran, wie
„beweglich“ diese Größe ist: Anfang des Jahres hieß es, es könnten 450.000
Menschen sein, die im laufenden Jahr kommen werden. Dann wurde bzw. musste die
Prognose auf 800.000 angehoben werden und mittlerweile gibt es gar Stimmen aus
der Bundesregierung, die eine Million Zuwanderer für möglich halten. Eines der
zentralen Probleme in den vor uns liegenden Monaten der kalten Jahreszeit wird
die existenzielle Frage sein, wie und wo man diese Menschen überhaupt halbwegs
erträglich unterbringen kann. Darüber hinaus läuft aber eine Diskussionslinie
parallel, die sich mit der Frage der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge
beschäftigt. Aber auch die steht vor einem vergleichbaren Problem wie bei der
Unterbringungsfrage: Letztendlich ist es immer eine (quantitative) Frage von
Angebot und Nachfrage und dann in einem zweiten Schritt eine (qualitative)
Frage der Passungsfähigkeit von konkreten Stellen und den Einzelpersonen.

Die in den Medien geführte Debatte über die
Arbeitsmarktperspektiven der Flüchtlinge ist vor diesem zweifachen Hintergrund
auffällig unterkomplex. Während die eine Seite die Gefahren und Probleme
herausstellt bis hin zu der Warnung, dass es eine gefährliche Mixtur werden
würde, wenn sich »Dienstleistungsproletarier und prekär Wohlhabende … in
einem diffusen Misstrauen gegen das gesellschaftliche System in Deutschland
verbünden«, so der Soziologe Heinz Bude in seinem Gastbeitrag für die FAZ unter
der Überschrift Die
Koalition der Angst
, wird an anderer Stelle die Vision eines „neuen
Wirtschaftswunders“ durch die vielen Zuwanderer in den Raum gestellt, so
beispielsweise Daimler-Chef
Zetsche hält neues Wirtschaftswunder für möglich
.  In der Meldung wird er so zitiert:

»Mehr als 800.000 Menschen aufzunehmen, sei eine
Herkulesaufgabe, sagte Zetsche … „Aber im besten Fall kann es auch eine
Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden – so wie die
Millionen von Gastarbeitern in den 50er und 60er Jahren ganz wesentlich zum
Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben.“ Natürlich sei nicht jeder
Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer, sagte
Zetsche. Aber wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert. „Genau
solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land.“«

Sie
steigern das Bruttosozialprodukt!
, so die scheinbar folgerichtige
Überschrift eines Artikels von Ingo Arzt in der taz, der allerdings sogleich
anmerkt: »Doch der Ökonomisierung von
Menschen sind Grenzen gesetzt.« Auch Kristiana Ludwig arguemntiert in die
ökonomische Richtung. In ihrem Artikel in der Print-Ausgabe der Süddeutschen
Zeitung vom 17.09.2015 unter der Überschrift „Flüchtlinge als Wirtschaftsmotor“
schreibt sie: »Zuwanderer helfen der Konjunktur – weil sie öffentliches Geld
ausgeben.« Sie bezieht sich auf Ferdinand Fichtner, der die Abteilung
Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) leitet. »Wenn dieses Jahr zu Ende geht,
werden voraussichtlich 800000 Menschen nach Deutschland gekommen sein.
Zuwanderer, die Lebensmittel kaufen und zum Friseur gehen. Die Kleidung
brauchen und Decken, Möbel und Mietwohnungen. Flüchtlinge bringen nicht viel
mit, aber sie bekommen Geld vom Staat und werden es ausgeben – für deutsche
Produkte. Die „konsumnahen Unternehmen“ werden am meisten von Flüchtlingen
profitieren.« Das DIW schätzt, dass Bund, Länder und Kommunen im kommenden Jahr
insgesamt 9,2 Milliarden Euro in die Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen investieren werden.


Und dann kommt vom DIW auch was zum hier besonders
interessierenden Arbeitsmarkt:
Das DIW »schätzt, das dem Arbeitsmarkt in diesem Jahr
zusätzlich 47.000 erwerbstätige Flüchtlinge zur Verfügung stehen werden. In den
kommenden zwei Jahren seien es jeweils etwa 120.000. Zusammen mit den
Zuwanderern aus den europäischen Nachbarstaaten glichen sie den demografischen
Wandel aus.« Was sich hinter dieser Formulierung verbirgt, mag die folgende
Abbildung verdeutlichen, die ich erstellt habe auf der Grundlage der jährlichen
Arbeitsmarktberichte des IAB, in dem immer auch die Arbeitsangebotsseite
behandelt wird, also wie viele Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen, was nicht bedeutet, dass sie auch arbeiten (können).

Für das laufende Jahr schätzt das IAB, dass der Verlust an
Arbeitsangebot durch die demografische Entwicklung, also dadurch, dass mehr
Menschen altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen als „unten“ an jungen
Erwerbspersonen nachkommen, vor allem durch den Migrationseffekt, also aus der
Zuwanderung, kompensiert werden kann.
Aber das sind erst einmal nur nackte Zahlen über
Größenordnungen. Angebot und Nachfrage müssen nicht immer zueinander passen und
bekanntlich ist genau dieses Auseinanderfallen auf dem Arbeitsmarkt ein
zentrales Problem. Mit Blick auf die Flüchtlinge wird das offensichtlich: Auch
wenn man zeitweise den Eindruck hatte, es kommen nur noch hoch qualifizierte
Kräfte nach Deutschland, vor allem aus Syrien, so muss man doch konstatieren,
dass der syrische Neurochirurg eher die absolute Ausnahme ist.
Umso erstaunlicher bzw. entlarvender ist die Tatsache, dass
Ökonomen in der Debatte gerne die eine oder die andere Seite der angeblichen
Qualifikation heranziehen, um ganz andere, nämlich ihre Interessen unter das
Volk zu bringen. Zwei Beispiele dazu:
Da gibt es zum einen die Vorreiter derjenigen, denen es vor
allem darum geht, das Arbeitsangebot – das wie gezeigt allein aus
demografischen Gründen stark rückläufig ist – wieder zu erhöhen, denn
bekanntlich gilt die Regel, dass der Preis steigen müsste, wenn das Angebot zurück
geht, die Nachfrage aber gleich bleibt oder gar steigen sollte. Der Preis auf
dem Arbeitsmarkt sind die Löhne. Protagonist dieser Richtung ist Michael
Hüther: »Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft fordert die
Politik auf, Flüchtlinge und Zuwanderer stärker nach den Bedürfnissen des
Arbeitsmarktes zu steuern. Er hält jährlich 500.000 Zuwanderer für verkraftbar«,
verkündet er in einem Interview.
Und dann legt er richtig los: » Keiner muss wegen der Flüchtlinge um seinen Job
fürchten – … Sogar der Bundeshaushalt mit seiner schwarzen Null bietet
derzeit genug Spielraum, um die Integration zu finanzieren.« Dann ist ja alles
gut. Arbeitsmarktlich besonders relevant ist dann so eine Äußerung: »Viele
Zuwanderer sind hoch qualifiziert. Zehn Prozent aller erwachsenen Zuwanderer
haben einen Hochschulabschluss in einem MINT-Fach. In der Gesamtbevölkerung
Deutschlands sind es nur sechs Prozent.« Punkt.

Nun wird sich der eine oder
andere kritische Geist vielleicht trauen zu fragen: Woher weiß er das
eigentlich? Ist es nicht vielmehr so, dass wir keine wirklich validen
Erkenntnisse haben, wie der Qualifikationsstand der Flüchtlinge, die es zu uns
geschafft haben, ist?

So ist das. Was wir derzeit haben sind alles nicht
repräsentative Daten dazu. Das IAB der Bundesagentur für Arbeit hat die
Qualifikationsstruktur der Flüchtlinge zusammengestellt. Hier die Ergebnisse,
die sich auf Befragungsdaten des SOEP aus dem Jahr 2013 (!) und auf
Asylbewerber und Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis, die sich schon relativ
lange in Deutschland aufhalten, beziehen:
Hochschulabschluss 13%, mittlerer Bildungsabschluss 24%,
kein Berufsabschluss 58%
Bei den erst vor kurzem eingereisten Flüchtlingen ist die
Lage noch ungünstiger. Eine Befragung unter 20.000 Teilnehmern am ESF-
geförderten „Bleiberechtsprogramm“ ergab folgendes:
24 Prozent haben eine berufliche Bildung abgeschlossen. 18
Prozent haben eine Hochschule besucht, unter ihnen haben 40 Prozent ihr Studium
abgeschlossen. Rund zwei Drittel der Befragten verfügten über keine
abgeschlossene Berufsausbildung. Eine Befragung unter den Teilnehmern an Early
Intervention kam zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. IAB: Asyl- und
Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland
. Aktuelle Berichte
8/2015, Nürnberg 2015). So viel dazu.
Und auch andere Interessenvertreter rühren fleißig in der
Suppe. So die Ökonomen, die lange gegen einen gesetzlichen Mindestlohn  gewettert haben und jetzt – bei ausbleibenden
Katastrophenmeldungen vom Arbeitsmarkt, die sie vorhergesagt haben (vgl. dazu
meinen Beitrag Es
tut doch gar nicht weh … Gewerkschaften zwischenbilanzieren den – natürlich
erfolgreichen – Mindestlohn und die Gegenseite greift auf Flüchtlinge zurück,
um es noch mal zu versuchen
vom 15. September 2015) – versuchen, über die
Flüchtlinge den zum Leben erweckten gesetzlichen Mindestlohn  wieder zu kippen. Protagonist dieser Seite
ist Hans-Werner Sinn. In einem Artikel mit der knackigen Überschrift Ohne
Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit
doziert er:
»Viele Migranten sind schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme. Damit sie
trotzdem eine Arbeit finden, bedarf es einer stärkeren Lohnspreizung in
Deutschland.« Ja was denn nun, wird sich der eine oder andere an dieser Stelle
völlig zu Recht fragen. Und man wird sich daran erinnern, was Zetsche und
Hüther gesagt haben, wenn man diese Zeilen liest:

»Die Menschen, die kommen, sind jung und arbeitswillig, aber
im Durchschnitt nur wenig gebildet. So ist der Anteil der Analphabeten unter
ihnen sehr viel höher als unter der in Deutschland ansässigen Bevölkerung. Deutschland
wird viel Geld aufwenden müssen, um die Flüchtlinge auszubilden und
einzugliedern. Daher ist die Bedeutung, die die Zuwanderer für die deutsche
Wirtschaft haben, nicht vergleichbar mit der Rolle der Flüchtlinge nach dem
Zweiten Weltkrieg, die dank ihres Könnens damals ganz erheblich zum
wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands beitrugen.«

Und es ist für den Mainstream der deutschen
„Volkswirtschaftslehre“ nicht verwunderlich, dass sich dann bei der
Legitimation der eigentlichen Zielsetzung, also den Mindestlohn wieder
aufzubohren, die betriebswirtschaftliche Denke Bahn bricht:

»Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt
zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr
Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen
nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen
arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden
sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Die gleiche
Argumentation haben wir im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen
Mindestlohnes hören müssen.

Das führt uns nicht wirklich weiter. In der Realität sind
wir hingegen mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich daraus
ergeben, dass die gewachsenen Regelsysteme 
enorme Probleme haben, mit dieser Ausnahmesituation klar zu kommen.
Zahlreiche Beispiele findet man in solchen Artikeln: Heute
Flüchtling, morgen Arbeitsloser?
von Kolja Rudzio  So
schwer ist es, Jobs für Flüchtlinge zu schaffen
von Timo Stukenberg oder Flüchtlinge
einstellen ist kompliziert
von Stefan Sauer.
Fazit: Wenn es einem um wirkliche Arbeitsmarktintegration
geht, dann muss man aktuell klare Prioritäten setzen – und bei denen steht an
erster Stelle der Aspekt der Sprach- und Integrationskurse. Und die so schnell
wir möglich. Auch wenn davon möglicherweise Flüchtlinge profitieren, die nicht
hier werden bleiben können. Egal. Aber die Sprachkenntnisse – in Verbindung mit
einer Einführung und Heranführung an unser Gesellschaftssystem – sind das A und
O einer Gelingensmöglichkeit von echter Arbeitsmarktintegration. Dazu müsste
man jetzt sehr viel Geld in die Hand nehmen – aber wenn man überlegt, was die
Betroffenen später an Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abdrücken, wenn
sie eine Ausbildung und eine Arbeit bekommen, dann ist das eine richtig
spannende Investition. Von oben betrachtet, nicht vom Einzelfall. Zugleich sind
diese Kompetenzen, die man erst einmal schaffen muss, unabdingbare
Voraussetzung für eine Integration in Berufsausbildung, gerade im Handwerk und
der klassischen Facharbeit in der Industrie. Und die muss man ebenfalls
fördern, beispielsweise durch das 3+2-Modell bei den geduldeten Flüchtlingen,
also man garantiert den Menschen, die eine Ausbildung machen, dass sie diese
absolvieren können und nicht abgeschoben werden. Und wenn sie die bestanden
haben, dann können sie noch (mindestens) zwei Jahre arbeiten. Das alles wird
aber erst einmal erhebliche Investitionen erforderlich machen, man stelle sich
einfach mal mit Blick auf die Sprache vor, wir würden in den arabischen Raum
flüchten müssen und sollen nun die dortige Sprache erlernen. So geht es gerade
vielen Flüchtlingen. Auch den besser Qualifizierten.
Aber da beißt die Maus keinen Faden ab – man muss darauf
hinweisen, dass sich die Konkurrenzsituation vor allem in den unteren Etagen
des Arbeitsmarktes in der vor uns liegenden Zeit massiv verschärfen wird. Und
nicht nur das: Wir werden einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit unter
den Flüchtlingen erleben. Auch der BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der heute „in
Personalunion“ auch noch Präsident des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge geworden ist (vgl. dazu meine kritischen Anmerkungen in dem Beitrag
Aber
selbst einer, der Herkules wäre, kann nicht zugleich noch Odysseus sein. In
Deutschland wird gerade genau das mal ausprobiert
auf der Facebook-Seite
dieses Blogs), sieht das, was auf uns zukommt: Vielen
Flüchtlingen droht Arbeitslosigkeit
. Daraus:

»Für das laufende Jahr hält Weise an der Prognose von knapp
2,8 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt fest, da die Konjunktur gut
sei und viele Flüchtlinge wegen des Registrierungsprozesses in der
Arbeitsmarkt-Statistik schlicht noch nicht auftauchten. 2015 verzeichnet die
Arbeitsagentur bislang rund 380 000 neue Arbeitssuchende aus den klassischen
Herkunftsländern Afrikas oder des Nahen Ostens. Genauso viele Menschen aus
diesen Regionen seien schon in Deutschland sozialversichert beschäftigt … Eine
… Hürde ist die geringe Qualifikation vieler Flüchtlinge. Laut erster Daten
der Agentur dürfte mehr als die Hälfte keine abgeschlossene Berufsausbildung
haben …  Selbst bei vorhandener
Qualifikation stehen einer erfolgreichen Vermittlung an Arbeitgeber häufig noch
mangelnde Deutschkenntnisse im Weg, sagt Weise … „Die vielen
Geringqualifizierten bringen mehr Druck in die Arbeitswelt“, schätzt Weise.«

 Mehr Druck in die Arbeitswelt – das lassen wir mal so im
Raum stehen. 

Auf der Rutschbahn direkt in Hartz IV. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte ist davon bei Arbeitslosigkeit betroffen. Was ein wenig helfen würde und wo die (System-)Grenze ein Dilemma ist

Also „normalerweise“ sollte es so sein, dass das Risiko der Erwerbsarbeitslosigkeit durch „vorrangige“ Sicherungssysteme aufgefangen wird, also durch die Arbeitslosenversicherung und nicht durch eine bedürftigkeitsabhängiges Fürsorgesystem wie Hartz IV. Mittlerweile haben sich diese Verhältnisse umgekehrt und fast 70% der registrierten Arbeitslosen befinden sich im Grundsicherungssystem (SGB II), während etwas mehr als 30% im Versicherungssystem (SGB III) abgesichert sind. Das hängt auch damit zusammen, dass aufgrund der Veränderungen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes seit Mitte der 1990er Jahre – vor allem deren Ausbreitung und der für viele dauerhaften Exklusion von stabileren Formen der Beschäftigung – die Voraussetzungen für den Bezug von Versicherungsleistungen nicht oder immer seltener erfüllt werden (können), wie beispielsweise die notwendige Vorbeschäftigungszeit innerhalb einer vom Gesetzgeber festgelegten Rahmenfrist, um beim Eintritt des „Schadensfalls“ Arbeitslosigkeit Leistungen zu bekommen.
Das führt dann zu solchen Meldungen, die auf eine neue Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit beruhen, die vom DGB in regelmäßigen Abständen vorgenommen wird: Jeder fünfte Beschäftigte rutscht bei Arbeitslosigkeit sofort in Hartz IV: »Demnach waren in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 264.000 Beschäftigte schon zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit auf Hartz IV angewiesen. Das waren 21,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Jobverlust. Besonders angespannt ist die Lage in der Zeitarbeitsbranche. Dort wurden im ersten Halbjahr 183.000 Arbeitkräfte entlassen. Davon waren rund 68.000, also 37 Prozent, direkt im Anschluss auf staatliche Grundsicherung angewiesen.«

Wer das Original lesen möchte, kann die Auswertung der Zugangsdaten in Arbeitslosigkeit und vor allem die sozialpolitischen Schlussfolgerungen des DGB hier als PDF-Datei abrufen:

Wilhelm Adamy: 12 Monate mehr: Wie die Arbeitslosenversicherung besser vor Verarmung schützen kann. Auswertung aktueller Arbeitsmarktzahlen (1. Halbjahr 2015), Berlin 2015.

»Der Weg vom Beschäftigten zum Hartz-IV-Empfänger kann sehr kurz sein«, so Wilhelm Adamy in seiner Analyse: »Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten, die sich neu arbeitslos melden müssen, haben eine berufliche Ausbildung oder waren als Spezialist oder Experte (z.B. Ingenieur) beschäftigt. Das Hartz IV-Risiko bei Eintritt der Arbeitslosigkeit nimmt zwar mit dem Qualifikationsniveau ab, liegt bei ehemaligen Fachkräften aber immer noch bei knapp einem Fünftel. Bei den arbeitslosen Helfern sind nach einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt sogar 42 Prozent auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen.«

Und jetzt kommt ein Problem, auf das die derzeitige Debatte zielt:

»Viele mit und ohne Berufsabschluss haben zwar gearbeitet und ein ganzes Jahr Beiträge zur Versicherung gezahlt. Sie haben es aber nicht innerhalb der letzten zwei Jahre (der gesetzlichen Rahmenfrist) schaffen können, weil sie befristet oder unstetig beschäftigt waren. Infolge der zu kurzen Beitragszahlungen oder einer länger zurück liegenden Beschäftigung führt dies zum sofortigen Sturz in das Hartz-IV-System. Insbesondere prekär Beschäftigte, kurzfristig Beschäftigte und Leiharbeitskräfte kommen oftmals gar nicht in den Schutz der Versicherung.«

„Beeindruckend“ im negativen Sinne sind hier die für die Leiharbeit präsentierten Daten:

»Im Verleihgewerbe sind im ersten Halbjahr 2015 bereits 183.000 Leiharbeitskräfte arbeitslos geworden, rund 68.000 davon sind direkt auf Hartz IV angewiesen. Diese Zugänge aus Leiharbeit in Arbeitslosigkeit entsprechen fast einem Viertel des Beschäftigungsbestandes dieser Branche. Heuern und Feuern ist hier immer noch an der Tagesordnung, wenn im Schnitt ein Viertel der Belegschaft im Verleihgewerbe innerhalb eines halben Jahres Erfahrung mit Arbeitslosigkeit machen muss. Rund 37 Prozent der vormaligen Leiharbeitskräfte sind bei Eintritt der Arbeitslosigkeit zugleich auf Hartz IV angewiesen.«

Hinsichtlich des diskutierten und vom DGB auch geforderten Veränderungsbedarfs muss man darauf hingewiesen, dass es sich um den Vorschlag handelt, eine alte, also früher schon mal bestehende Regelung in der Arbeitslosenversicherung wieder einzuführen, also nichts wirklich Neues oder gar Revolutionäres. Dem DGB-Papier können wir dazu entnehmen:

»Laut Koalitionsvertrag sollen Beschäftigte künftig wieder 36 Monate Zeit haben, um zwölf Monate Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Dieser Zeitraum ist die Voraussetzung, um Arbeitslosengeld I zu beziehen. Von dieser Reform würden insbesondere Menschen profitieren, die häufig nur für kurze Zeit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Die so genannte Rahmenfrist lag vor 2006 ebenfalls bei 36 Monaten und wurde dann auf 24 Monate verkürzt.«

Der DGB „erinnert“ nun die Bundesregierung lediglich an das eigene Vorhaben, das man im Koalitionsvertrag beschlossen hat:

»Der DGB fordert, die gesetzliche Rahmenfrist endlich zu verlängern (im Koalitionsvertrag war Anfang 2015 als Start genannt worden). Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen, die Ausgaben würden pro Jahr um rd. 300 Mio. Euro steigen. Gleichzeitig würde das Hartz-IV- System schrumpfen. Bund und Kommunen würden jährlich um fast 100 Mio. Euro entlastet.«

Man sollte aber vor dem Hintergrund der Gesamtzahl an Arbeitslosen und an Zugängen in Arbeitslosigkeit den Effekt einer solchen Veränderung nicht überbewerten – für die einzelnen Betroffenen wäre das sicher eine wichtige Verbesserung, aber das angesprochene Grundproblem einer seit vielen Jahren beobachtbaren Verschiebung der „Absicherung“ von Phasen der Erwerbslosigkeit aus der (eigentlich zuständigen) Arbeitslosenversicherung in die (eigentlich nur als letztes Auffangnetz vorgesehene) Fürsorge wird dadurch nur in einer überschaubaren Art und Weise etwas korrigiert.

Zu den Zahlen: Im 1. Halbjahr 2015 haben 1,238 Mio. Menschen ihren sozialversicherten Job verloren und sind arbeitslos geworden.  Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 2015 den Job verloren, sind schon zu Beginn der Arbeitslosigkeit in Hartz IV gerutscht. Absolut waren dies 264.000 bzw. 21,3 Prozent der sozialversichert Beschäftigten mit Jobverlust.
Was würde nun die eigentlich vereinbarte Verlängerung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre bringen? Hier werden zwei Zahlen genannt: Im DGB-Papier findet man dazu den Hinweis: »Das würde im Jahresschnitt die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I um etwa 50.000 erhöhen.« In dem Artikel der Saarbrücker Zeitung wird eine etwas andere Zahl genannt: »Nach Angaben des DGB-Arbeitmarktexperten Wilhelm Adamy könnten dadurch im Jahresschnitt bis zu 35.000 Personen vor dem sofortigen Abdriften in Hartz IV bewahrt werden.«

35.000 bis 50.000 sind eine Menge. Aber nur ein Teil der Betroffenen:

Für die große Mehrheit der Arbeitslosen, die derzeit direkt „weitergereicht“ werden in das Hartz IV-System, bleibt das beschriebene Dilemma erheblicher Sicherungslücken in dem „eigentlich“ für ihr Problem zuständigen Versicherungssystem bestehen. Das Dilemma resultiert aus dem Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung, die zwar eine Sozialversicherung ist, aber eben auch Versicherungsprinzipien folgen muss. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitslosenversicherung ist ein geeignetes Aufgang- und (bei entsprechender Höhe der Leistungen) Absicherungssystem für die betroffenen Arbeitnehmer, wenn der Schadensfall der Arbeitslosigkeit nur als Ausnahmefall und dann temporär eintritt, also nach einer überschaubaren Zeit wieder beendet werden kann durch die Aufnahme einer neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Die Versicherung als solche stößt an ihre (System-)Grenze, wenn die Arbeitslosigkeitsphasen oft und dann auch noch lange anhaltend auftreten. Vor diesem strukturellen Problem stehen alle – grundsätzlich wichtigen und eigentlich notwendigen – Ansätze einer Weiterentwicklung der „tradierten“ Arbeitslosen- hin zu einer modernen „Beschäftigungsversicherung“, seit Jahren richtigerweise gefordert, aber bislang noch nicht wirklich überzeugend konzeptualisiert. Das ist keineswegs ein Plädoyer, darüber nicht weiter zu diskutieren. Aber derzeit bleibt hier ein großes Fragezeichen.

Eine „Beschäftigungsversicherung“ würde nicht nur vor dem Problem stehen, dass die Fälle besser abgesichert werden müssen, um die es bislang in diesem Beitrag ging, die also häufig und länger anhaltend arbeitslos werden aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die ganze „Aufstocker“-Thematik aus dem Grundsicherungssystem müsste hier berücksichtigt werden, also die Mischung aus Erwerbstätigkeit und einer aufstockenden Leistungsgewährung angesichts der nicht ausreichend hohen Einkommen aus der Erwerbstätigkeit, sei sie nun sozialversicherungspflichtig, als geringfügige Beschäftigung oder in Form der Selbständigkeit ausgeübt.