Die OECD kritisiert die „unsoziale Wirtschaftspolitik“ in Deutschland und ermutigt zu „Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe“

Alle zwei Jahre unternimmt die OECD eine umfassende Analyse der Volkswirtschaften ihrer Mitgliedsländer und veröffentlicht die dann als OECD Wirtschaftsberichte. Jetzt ist die neueste Version für Deutschland veröffentlicht worden (vgl. OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2014). Aber die Organisation bleibt nicht nur bei einer Bestandsaufnahme des volkswirtschaftlichen Zustandes, sondern gibt auch Empfehlungen, manche werden von ungebetenen Ratschlägen sprechen: OECD-Wirtschaftsbericht ermutigt Deutschland zu Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe, so überschreibt die OECD ihre eigene Pressemitteilung. Aus einer sozialpolitischen Perspektive interessant sind die medialen Reaktionen, was sich bereits in den Headlines bemerkbar macht: OECD kritisiert unsoziale Wirtschaftspolitik in Deutschland oder Zu arm für den Aufschwung – um nur zwei Beispiele aus der Presselandschaft herauszugreifen – das verweist auf sozialpolitisch hoch relevante Aussagen.

David Böcking bringt in seinem Artikel die kritische Dimension der OECD-Analyse für Deutschland auf den Punkt: »Riskante Rentengeschenke, wachsender Niedriglohnsektor, Energiewende auf Kosten der Verbraucher: Im neuen Wirtschaftsbericht der Industrieländerorganisation OECD für Deutschland steckt jede Menge Kritik. Vom Wachstum in der Bundesrepublik müssten mehr Bürger profitieren.«

Und auch hier steht der Arbeitsmarkt im Mittelpunkt der Problemdiagnosen: „Deutschlands Wirtschaft boomt. Doch der Arbeitsmarkt spaltet sich in Privilegierte und Prekäre“, kann man einem Artikel entnehmen, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde und der über den neuen OECD-Bericht informiert.

Damit wird explizit ein Problemfeld angesprochen, was seit Jahren beachtet und diskutiert wird – die zunehmende Polarisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der immer stärker werdenden, für nicht wenige Menschen lebenslängliche Ausgrenzung von halbwegs normaler Erwerbstätigkeit. Und vor dem Hintergrund der behaupteten Polarisierung ist es dann auch kein Widerspruch, dass wir mit der eben nur scheinbar widersprüchlichen Gleichzeitigkeit einer erheblichen „Verhärtung“ bzw. „Verfestigung“ der Langzeitarbeitslosigkeit sowie eines teilweise eklatanten Fachkräftemangels in ganz bestimmten Berufen bzw. Regionen konfrontiert werden.

Die OECD verschweigt keineswegs die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitslosenquote (gemessen an der registrierten Arbeitslosigkeit) und den erfolgreichen Abbau eines Teils der Erwerbslosigkeit in den vergangenen Jahren. Aber dann werden zahlreiche Problemstellen identifiziert:
»Problematisch seien … der stark angewachsene Niedriglohnsektor und der hohe Anteil von Menschen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Auch habe sich die stark gesunkene Arbeitslosigkeit nicht positiv auf das Armutsrisiko im Lande ausgewirkt. Insgesamt habe die Aufwärtsmobilität von Geringverdienern sogar abgenommen.«

Quelle der Abbildung: OECD (2014)

Die Abbildung verdeutlicht die Besonderheiten der Geringverdiener in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt aller EU 27-Staaten (gemessen an dem jeweiligen Anteil der Geringverdiener an den abhängig Beschäftigten). In Deutschland gibt es in den betrachteten Bereichen immer einen größeren Niedrigverdiener-Anteil an der jeweiligen Gruppe – außer bei den Hochqualifizierten, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch in der Hinsicht gut fahren. Aber für die gering Qualifizierten resultiert eine deutlich größere Betroffenheit von Niedriglöhnen als in anderen EU-Staaten.
Die OECD lobt zum einen die vorgesehene Einführung eines Mindestlohns, zum anderen gibt sie einen wichtigen Hinweis für die arbeitsmarktpolitische Debatte bei uns, denn der Bericht fordert Deutschland auf, »die noch immer relativ weit verbreitete Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem die Beschäftigungschancen für Betroffene durch gezielte Zuschüsse und Weiterbildungsanreize verbessert werden.«

Auf der Empfehlungsseite der OECD stehen weitere Vorschläge:

»Eine Möglichkeit, das Wachstumspotenzial zu steigern, sieht der Bericht darin, den Faktor Arbeit weniger zu besteuern und die Sozialabgaben, vor allem für Geringverdiener, zu senken. Zum Ausgleich schlägt er vor, die Grundsteuern auf Immobilienbesitz nach aktualisierten Wertansätzen zu erheben und Gewinne aus dem Verkauf fremdgenutzer Immobilien nicht mehr von der Steuer zu befreien. Desweiteren plädiert er dafür, Umverteilungsausgaben für Rentner aus dem allgemeinen Steueraufkommen und nicht über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren. Diese Maßnahme sei beschäftigungs- und wachstumsfreundlich und könne die Last gleichmäßiger auf alle Steuerzahler verteilen.«

Damit werden wichtige Kontrapunkte zur gegenwärtigen Regierungspolitik gesetzt.

Aber die OECD bleibt einem Teil ihres wirtschaftspolitischen Erbguts treu: Der Forderung nach mehr „Liberalisierung“ bzw. Deregulierung: »Auch Reformen im Dienstleistungssektor können helfen, das Wachstum zu stärken. Schon heute leistet der Sektor in Deutschland den größten Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Anders als im Verarbeitenden Gewerbe erhöhte sich die Produktivität bei Unternehmensdienstleistungen in den vergangenen zehn Jahren vergleichsweise wenig. Der Bericht regt daher an, die Regulierung in den Netzindustrien, in freien Berufen und in einigen Branchen des Handwerks weiter zu lockern und so zu mehr Wettbewerb beizutragen.«

Angekündigter Doppelbeschluss: Die Rente mit 63 soll mit der Arbeitslosigkeit bis 61 fusioniert werden

In der Großen Koalition wird gerungen und gestritten um die Konkretisierung der Rente mit 63 hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen. Nunmehr gibt es nach Medienberichten angeblich eine Lösung der in den vergangenen Wochen viel diskutierten – angeblich – drohenden „Frühverrentungswelle“ ab 61. Den „rollierenden Stichtag“ werden wir uns merken müssen.

Karl Doemens berichtet in der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau: Einigung bei Rente mit 63 steht bevor. Im Rücken des derzeit stattfindenden DGB-Bundeskongresses soll es angeblich eine Verständigung gegeben haben auf eine Operationalisierung der Bedingungen, unter denen man den abschlagsfreien Renteneintritt mit 63 vollziehen kann. Mit einem „rollierenden Stichtag“ sollen Arbeitslosigkeitszeiten bei der Rente mit 63 nur bis zwei Jahre vor dem Beginn des Ruhestands angerechnet werden können.

Grundsätzlich gilt als Anspruchsvoraussetzung: 45 Beitragsjahre, wobei hier Bezugszeiten des früheren Arbeitslosengeldes und des heutigen Arbeitslosengeldes I, also der Versicherungsleistung, ohne zeitliche Begrenzungen angerechnet werden können, nicht aber Zeiten der Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 des Arbeitslosengeldes II. An dieser Stelle setzt die in den vergangenen Wochen immer wieder vorgetragene Kritik aus den Reihen der Union und der Arbeitgeber an, die behaupten, es gibt dadurch einen »Anreiz für Frühverrentungspakete, die dem Arbeitnehmer die Einbußen durch eine zuvor bewusst herbeigeführte Arbeitslosigkeit ersetzen. Faktisch könnten  die Beschäftigten in Deutschland dann trotz stetig steigender Lebenserwartung schon mit 61 Jahren den Betrieb verlassen und aufs Altenteil wechseln.«

Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass diese und ähnliche Argumentationen schon recht einseitig daherkommen, um das mal vorsichtig auszudrücken. Denn hier wurde und wird ein Bild gemalt, das so aussieht: Der Arbeitnehmer kann es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu kommen (was in nicht wenigen Fällen angesichts der konkreten Arbeitsplätze vielleicht sogar durchaus der Fall sein könnte) und wenn er durch den Eintritt in die Arbeitslosigkeit mit 61 zwei Jahre lang die Möglichkeit hat, das Arbeitslosengeld I zu beziehen, dann wird er das freudig machen, um dann mit 63 in die abschlagsfreie Rente zu wechseln. Das ist gelinde gesagt eine „mutige“ Hypothese, wenn man bedenkt, dass das Arbeitslosengeld I als Lohnersatzleistung deutlich niedriger liegt als das bisherige Einkommen und zudem die späteren Rentenansprüche natürlich auch noch niedriger ausfallen werden durch die Arbeitslosigkeitszeiten. Darüber hinaus gibt es solche „Kleinigkeiten“ wie Sperrzeiten bei Eigenkündigung. Um nur eine Hürde zu nennen. Folglich kommen wir zum eigentlichen Kern der Sache: Eine „Frühverrentungswelle“ kann man im Grunde nur dann erwarten, wenn die Unternehmen da mitmachen bzw. das instrumentalisieren für ihr Anliegen, sich von älteren Mitarbeitern zu trennen,  beispielsweise in dem sie die Arbeitslosengeld I-Zahlungen aufstocken. Zugespitzt formuliert: Eigentlich warnen die Arbeitgeber vor sich selbst bei dieser Diskussion – die übrigens seitens der Experten bei einer kürzlich stattgefunden Anhörung im Deutschen Bundestag überwiegend als nicht besonders gewichtig eingeschätzt wurde. Aber irgendwie hat sich das verselbständigt.

Ursprünglich wollte die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Arbeitgeber in solchen Fällen zur  Erstattung der Sozialleistungen verpflichten – eine solche Regelung hat es schon mal bis 2006 gegeben, sie wurde dann aufgrund von Praktikabilitätsproblemen wie auch aufgrund von rechtlichen Bedenken wieder abgeschafft und auch bei der erwähnten Anhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages hatten die dort vertretenen Experten überwiegend vor einer solchen bürokratischen Regelung gewarnt, die zudem weitgehend ins Leere laufen würde.

Aber auch die ursprüngliche Lösung aus der Union wird nicht kommen: »Nach ihrer Vorstellung sollten Arbeitslosenzeiten ab dem 1. Juli 2014 generell nicht mehr angerechnet werden. Das würde aber zu einer rechtlich fragwürdigen Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die bereits in diesem Sommer in Rente gehen und solchen, die erst später die Altersgrenze erreichen, führen«, schreibt Doemens in seinem Artikel.

Jetzt also soll es den „rollierenden Stichtag“ als Kompromiss geben:

»Er orientiert sich am tatsächlichen Renteneintrittsalter des Betroffenen. Nur bis zwei Jahre davor werden eventuelle Arbeitslosenzeiten angerechnet. Wer am 1. Juli 2014 den abschlagfreien Ruhestand in Anspruch nehmen will, der muss also 45 Beitragsjahre nachweisen, deren eventuelle Arbeitslosenzeiten aber vor dem 1. Juli 2012 lagen. Damit wäre eine Frühverrentung mit 61 Jahren ausgeschlossen.«

Nur eine skeptische Anmerkung: In den vergangenen Monaten wurde von beiden Seiten – den Apologeten wie den Weltuntergangskritikern der Rente mit 63 immer wieder mit „Gerechtigkeit“ bzw. „Ungerechtigkeit“ argumentiert. Das aber sind schwere und zugleich flüchtige Begriffe. Bleiben wir bei der vorgesehenen rollierenden Stichtagsregelung. In dem Beitrag von Doemens findet sich ein interessanter Hinweis: »Diskutiert wird in der Koalition noch, ob es eine Ausnahmeregelung für Fälle geben soll, bei denen der Betrieb in dem fraglichen Zeitraum Pleite machte.«

Das verweist auf ein potenziell neues, erhebliches „Gerechtigkeitsproblem“, denn ein solcher Fall würde ja bedeuten, dass der betroffene ältere Arbeitnehmer unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verliert und er dann nicht in den Genuss der späteren abschlagsfreien Rente mit 63 kommen kann, wenn ihm vielleicht wegen wenigen Monaten die Anspruchsvoraussetzung 45 Beitragsjahre fehlt.
Wenn man jetzt aber eine Sonderregelung für die Fälle schafft, wo das Unternehmen in die Insolvenz gegangen ist, stellt sich sofort die „Gerechtigkeitsfrage“, was denn mit den Arbeitnehmern ist, denen mit 61 oder später aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde. Die fallen dann nicht unter die Sonderregelung, können aber ebenfalls nichts für ihre Arbeitslosigkeit. Man ahnt an dieser Stelle, ein weites und lukratives Feld für die Juristen tut sich hier auf.

Und zur Gerechtigkeit: Die Gerechtigkeit hat lahme Füße, kann man einem alten deutschen Sprichwort entnehmen.

Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit

Die Ausgestaltung der Familienpolitik ist eine höchst umstrittene Angelegenheit und weitaus stärker als in anderen gesellschaftspolitischen Feldern prallen hier Ideologien aufeinander – man denke nur an die aufgeheizte Debatte über das Für und Wider einer frühen außerfamilialen Kinderbetreuung, die sich oft genug in einem Entweder-Oder verengt. Hier gibt es Parallelen zum „Muttertag“, der an jedem zweiten Sonntag im Mai eines Jahres abgehalten wird. Während die einen diesen „Feiertag“ mit Blumen und einem netten Frühstück für die Mutter, zuweilen aufgrund mobilitätsbedingter Abwesenheit auch vermittels eines Glückwünsche aussprechenden Telefonats würdigen, wenden sich die anderen voller Skepsis ab und verweisen wahlweise darauf, dass es sich um eine reine Kommerzveranstaltung zugunsten des Blumenhandels und/oder um eine Erfindung der Nationalsozialisten als PR-Veranstaltung für das deutsche „Mutterkreuz“ handelt. Beides enthält zwar im Kern eine Wahrheit, ist aber eine sehr grobe Verkürzung der Geschichte und Intention des „Muttertages“. So widersprüchlich ist das auch mit der angeblich sich immer stärker durchsetzenden Selbstverständlichkeit einer Erwerbstätigkeit der Frauen und einem dem sich in den Weg stellenden Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit.

Wenn auch in diesem Beitrag ein kürzlich veröffentlichter „Lobgesang“ auf die unbezahlte Hausarbeit (der Frauen) im Mittelpunkt stehen soll, sei ein kurzer Rückblick auf die Entstehung und Umsetzung dessen, was heutzutage als „Muttertag“ begangen wird, erlaubt – kann man doch an diesem Beispiel erneut lernen, dass etwas oft mit einer bestimmten Absicht begonnen wird und im weiteren Verlauf der Dinge landet man dann ganz weit weg von den Intentionen dessen, was da ins Leben gerufen wurde.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir als „Muttertag“ besprechen. Als die Mutter 1905 starb, kam ihrer Tochter Anna der folgenreiche Gedanke, einmal im Jahr nicht nur an das Werk der eigenen, sondern aller Mütter zu erinnern. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland. Diese wurde allerdings vermengt mit einer ganz anderen ideologischen Ummantelung des Themas als in den Anfängen in den USA.

Sandra Kegel schreibt zum Import der Muttertagsidee nach Deutschland: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Es ist spannend, wenn man den Ausführungen von Kegel folgt, denn wir sehen hier ein frühes Fallbeispiel moderner PR-Arbeit:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Vor diesem spezifischen Entstehungshintergrund der Übernahme des „Muttertages“ in Deutschland ist zum einen die hervorragende Kompatibilität für die nationalsozialistische Ideologie verständlich (bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nazis zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert) wie auch die bis heute immer wieder mitlaufende ideologische Ablehnung des Muttertages als ein Symboltag für ein bestimmtes Frauenbild. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März.
Eine bittere Abrundung des Rückblicks auf Entstehung und Entfaltung des „Muttertages“ sei an dieser Stelle aus dem lesenswerten Artikel von Sandra Kegel geliefert:

»„I wanted it to be a day of sentiment, not profit“, zürnte Anna Jarvis, die einen Gedenk- nicht einen Geschenktag gewollt hatte und gegen die Blumenindustrie zahllose Prozesse führte.
Ihr Versuch, das ideelle Ereignis vor der Kommerzialisierung zu bewahren, blieb freilich erfolglos. Am Ende verlor Anna Jarvis in dem aussichtslosen Feldzug ihr gesamtes Vermögen und starb 1948 in einem Altenheim, arm und vergessen. Sie hat nie erfahren, dass die Kosten für ihren Aufenthalt dort ebenjene übernahmen, die sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens erbittert bekämpft hatte, und die ihr doch so viel zu verdanken haben: die Blumenhändler.«

Wie gesagt – bitter. Deshalb an dieser Stelle zurück in die Gegenwart. In der bekanntlich alles viel besser geworden ist als früher, als man noch um basale Rechte der Frauen kämpfen musste. Denn heute seien wir auf dem Weg in die Vollendung der Gleichberechtigung der Geschlechter, zu der  auch eine Integration der Frauen in Erwerbsarbeit gehört und dies ist angesichts der Bedeutung von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung (für die Frauen).
Das wird allerdings immer wieder angezweifelt bis bekämpft, nicht wirklich überraschend oft von Männern, die diese Entwicklung als das sehen, was sie ist – eine Infragestellung der Lebensmodelle, in denen viele von ihnen leben und in denen sie durchaus handfeste Vorteile im Alltag genießen können, wenn man sich die ungleiche Verteilung der Haushalts-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben anschaut. Aber „natürlich“ argumentiert man nicht aus seinen eigenen Vorteilen heraus, sondern versucht es von hinten herum.

Als Beispiel sei an dieser Stelle der denkwürdige Beitrag Haltet die Hausarbeit in Ehren! von Ferdinand Knauß zitiert, der in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche veröffentlicht worden ist. Die Botschaft des Verfassers wird gleich an den Anfang und das unmissverständlich platziert: »Familienpolitik hat heute vor allem ein Ziel: Häusliche Arbeit zu diskreditieren und Eltern für das Erwerbsleben „frei“ zu machen. Es wird höchste Zeit für eine neue Wertschätzung der unbezahlten Arbeit.« Knauß greift einen aktuellen Anlass für seine grundsätzliche Kritik auf: Einen Vortrag der Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) zum Thema „Familienpolitik 2.0“ im WZB, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (einen Videomitschnitt der Veranstaltung findet man in dem Beitrag „Junge Wissenschaft diskutiert mit Manuela Schwesig„). Für Knauß ist das, was hier so als „Familienpolitik“ 1.0 oder auch 2.0 daherkommt, in Wirklichkeit eine Anti-Familienpolitik, denn »das eigentliche Ziel dieser Politik ist nicht die Stärkung, sondern die Schwächung der Familie, indem sie die Wertschätzung der in keiner BIP-Statistik verzeichneten, aber für die Gesellschaft unverzichtbaren Dienstleistungen in den Familien beständig untergräbt.«
Und dann legt der Autor – offensichtlich ein ausgewiesener Frauenkenner – so richtig los, denn für ihn ist die moderne Familienpolitik nichts weiter als eine große Erzählung: »Es ist die Geschichte der Befreiung der Frau von der Fron am „Herd“. Die Familie ist in dieser Erzählung ein gesellschaftliches Gefängnis, das die Frauen daran hindert, sich frei zu entfalten – nämlich durch Erwerbsarbeit. Es ist daher auch eine sozialdemokratische, letztlich eine marxistisch-materialistische Erzählung, da sie auf der Überzeugung fußt, dass nur die Erwerbsarbeit dem Leben einen Sinn gibt.« Ah ja. Da kann es nicht überraschen, dass wieder einmal die von einigen als „Herdprämie“ bezeichnete neue Geldleistung „Betreuungsgeld“ für die semantische Beweisführung herhalten muss. Mit diesem Begriff sei der politische Diskurs „versaut“ und der »Stellenwert häuslicher Arbeit in Deutschland endgültig in den Dreck gezogen« worden.

Aber Knauß hat Steigerungsformen in seiner Argumentation: Er plädiert für eine neue Perspektive, eine neue Erzählung: Denn seiner Meinung nach könnte „gleichberechtigte Teilhabe“ an der Erwerbsarbeit ebenso gut als eine Geschichte der Unterwerfung erzählt werden. Und diese Deutungslinie ist nicht ohne, enthält sie natürlich auch Elemente, die man nicht von der Hand weisen kann (ohne allerdings die gleichen Schlussfolgerungen ziehen zu müssen): »Die Freiheit von der Familie, die die Frauen gewonnen haben, wird bezahlt durch eine neue Unterwerfung: nämlich unter die Zwänge des Erwerbslebens.«

Und wie schon immer bei konservativen Kritikern der Moderne findet man scheinbar (!) antikapitalistische Züge in der Argumentation: »Die Ausbreitung von Markt und Staat auf Kosten der Familien ist auch eine Geschichte des Verlusts von Ordnung und Sicherheit. Die meisten Menschen wünschen sich einen „Herd“, einen Ort des Rückzugs vom öffentlichen, kalten, staats- und marktbeherrschten Arbeitsleben. Einen Ort, an dem man nicht nach den ehernen Gesetzen von Angebot und Nachfrage arbeitet und verdient, sondern aus allzu menschlichen Gründen, die dem Markt unbekannt sind. Dieser Ort ist für die meisten Menschen die Familie.« Dem kann man ja grundsätzlich nicht widersprechen, wenn es denn einen solchen Ort in der konkreten Familie – außerhalb der wenigen großbürgerlichen Familien – je wirklich gegeben hätte.
Aber auch hier finden sich wieder durchaus richtige Gedanken: »In einer Volkswirtschaft, die vor allem aus Alleinernährer-Hausfrauen-Familien besteht, müssen Arbeitnehmer so gut bezahlt werden, dass sie allein Familien unterhalten können. In einer aus Zwei-Verdiener-Haushalten bestehenden Gesellschaft steigt die Marktmacht der Arbeitgeber, niedrigere Gehälter durchzusetzen.«
Ferdinand Knauß macht dann einen weiteren Strang auf, der zuerst einmal durchaus berechtigt daherkommt:

»Der Sozialstaat muss alles übernehmen, wofür die in Erwerbsarbeit drängenden und gelockten Menschen keine Zeit und keine Nerven mehr haben. Das heißt, der Staat organisiert zum Ersatz der wegfallenden Familienarbeit Kitas und andere Dienstleistungen, die das verhasste „Heimchen am Herd“ (alias die Mutter) ersetzen sollen.
Das hat den willkommenen Nebeneffekt, dass aus informeller und in keiner volkswirtschaftlichen Statistik verzeichneten Familienarbeit neue Erwerbsarbeit entsteht: Das Gehalt von Erzieherinnen geht ins BIP ein, die Erziehungsleistungen von Müttern und Vätern nicht. Die Frauen arbeiten also außerhalb der Familie, um für die Aufgaben, die ihre Mütter noch selbst übernahmen, familienfremde Dienstleistungen finanzieren zu können.«

Das liegt in der Natur der Sache und der Rechenwerke und hat immer schon eine Rolle gespielt bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den (Nicht-)Inhalten dessen, was wir im Bruttoinlandsprodukt (nicht) abbilden. Letztendlich liegen die grundsätzlichen Fragen, die hier angesprochen werden, allen Versuchen zugrunde, die eine Alternative zur herrschenden Wohlfahrtsbestimmung entwickeln wollen.

Den „vergifteten“ Charakter der Argumentation von Knauß kann man abschließend an den folgenden Ausführungen herausarbeiten, die prima facie vielen aus der Seele sprechen werden, vor allem denen, die tatsächlich eingespannt sind in Erwerbs-, Haus-, Familien- und sonstige Arbeit:

»Warum eigentlich soll eine Existenz als Sachbearbeiter in einem Großraumbüro, der für anderer Leute Kapital die Rendite erwirtschaftet, so viel erstrebenswerter sein als die Existenz von Müttern und Vätern, die ohne fremde Aufsicht eigenverantwortlich einen Haushalt führen und sich um das schönste und wichtigste auf der Welt kümmern, nämlich die eigenen Kinder? … (das) wird befördert von den immer deutlicher werdenden Anzeichen der Überforderung der Gesellschaft durch das Eindringen der Marktmechanismen in alle Ritzen des Lebens. Je stärker die Erwerbstätigen unter der zunehmenden Verdichtung und Entgrenzung der Erwerbsarbeit leiden und je größer dadurch die Zahl der unter Stress, Burn-out und Erschöpfung leidenden Erwerbsarbeiter wird, desto eher dürfte die Erkenntnis wachsen, dass Kochen, Wickeln und Wäscheaufhängen im Vergleich dazu gar nicht so furchtbare Beschäftigungen sind.«

Ja, so ist es, möchte man ausrufen – und so ist es eben doch nicht. Denn bezeichnenderweise kein Wort verliert der Verfasser darüber, wie denn dieses anzustrebende Idyll finanziert werden soll und wenn man die notwendig damit verbundene massive Umverteilung nicht thematisiert, dann macht man sich einer Illusion schuldig. Denn diese Idylle perpetuiert ein Familienmodell, das a) nur für wenige einkommensstarke Haushalte realisierbar wäre/ist und b) er verschweigt, dass die Abhängigkeiten in diesem Modell genau die gleichen, wenn nicht sogar deutlich stärkere Asymmetrien zuungunsten der Frauen schaffen wie die so schlimme Integration in das Erwerbsleben.

Nach diesem Ausflug in den Versuch, die 1950er und 1960er Jahre zu reanimieren, sei abschließend ein anderer, gleichsam widergelagerter Blick auf den „Muttertag“ zitiert, mit dem ich meinen Beitrag eröffnet habe. Auf der Facebook-Seite von Robert Reich, dem ehemaligen US-Arbeitsminister unter Bill Clinton, findet man den folgenden Beitrag gepostet:

»This is the 100th year America has celebrated Mother’s Day, but only the 35th year most mothers have been in the paid workforce. Poor mothers have almost always worked outside the home but it wasn’t until the late 1970s that large numbers of middle-class moms began moving into paid work. Contrary to popular belief, this wasn’t because of all the new opportunities open to professional women starting in the late 1970s. It was because the late 1970s marked the start of the long slide of hourly wages for male workers – and moms had to take up paid work in order to maintain family incomes. (Male hourly wages began sliding then because of the combined impacts of shrinking unions, corporate outsourcing abroad, labor-replacing technologies, and deregulation.)
Most moms didn’t get excused from family chores and child rearing, though. They went into paid work in addition to their other jobs at home — and most are still doing all these jobs. So instead of calling it “Mother’s Day,” maybe we should begin honoring the real heroes of the last three and a half decades and start calling it Working Mothers Day.«