Aus den Zwischenwelten der Euthanasie: Tötung auf Verlangen – oder doch nicht? Ein Fall aus den Niederlanden und fundamentale Fragen darüber hinaus

Wie so oft kann ein Begriff ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Nehmen wir als Beispiel die Euthanasie, ein in Deutschland aus historischen Gründen höchst belasteter Terminus, steht er doch als Euphemismus für die systematische Tötung kranker bzw. behinderter Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus – deshalb wird er hier auch nicht verwendet bzw. gemieden. Man kann allerdings auch darauf verweisen, dass der Begriff ursprünglich ein aus der Sicht des Sterbenden und seiner Angehörigen „guten Tod“ zum Ausdruck bringen soll. Heutzutage wird Euthanasie – zumindest in anderen Ländern als in Deutschland – assoziiert mit passiver und aktiver Sterbehilfe, also die Unterstützung von Sterbenden in der letzten Lebensphase oder bei der vom Sterbenskranken gewünschten Herbeiführung des Todes.

Und über die Sterbehilfe, vor allem die Frage nach einer Zulassung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland, wird seit langem diskutiert und gestritten. Dazu wurden hier zahlreiche Beiträge veröffentlicht, in dem es neben der durchaus verständlichen individuellen Dimension der Befürworter aktiver Sterbehilfe immer auch um mögliche negative gesellschaftliche Folgewirkungen ging. Das muss notwendigerweise spekulativ bleiben. Dagegen liefert der Blick zu unseren Nachbarn in den Niederlande nicht nur ganz handfestes Zahlenmaterial, wie es aussieht, wenn die Tötung auf Verlangen zugelassen ist.

Man kann und muss die Niederlande als weltweiten Vorreiter bezeichnen, denn dort gilt seit dem 1. April 2002 ein Sterbehilfegesetz, mit dem erstmals in einem Land die aktive Sterbehilfe zugelassen wurde (die offizielle Bezeichnung des umgangssprachlich „euthanasiewet“ („Sterbehilfegesetz“) genannten Gesetzes lautet „wet toetsing levensbeëindiging op verzoek en hulp bij zelfdoding“, in deutscher Übersetzung: „Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“). Dem niederländischen Vorbild sind dann im gleichen Jahr Belgien und später Luxemburg gefolgt.

Die Abbildung verdeutlicht den erheblichen Anstieg der Fallzahlen in den Niederlanden – ungebrochen bis zum Jahr 2017. Im vergangenen Jahr gab es erstmals einen Rückgang der an die staatliche Kontrollkommission (Regionale Toetsingscommissies Euthanasie) gemeldeten Fälle auf 6.126. Ausgehend von 153.328 Gestorbenen in den Niederlanden im Jahr 2018 lag der Anteil der Sterbehilfefälle an allen Todesfällen bei 4 Prozent.

Florian Staeck berichtet in seinem Artikel Tötung auf Verlangen – Zahlen in Holland sinken über einige Details die Sterbehilfefälle betreffend, die man genau lesen sollte:
➞ Die weit überwiegende Zahl der Menschen, die auf eigenen Wunsch getötet wurden, hatte Krebs (4013), Parkinson, Multiple Sklerose oder ALS (382), Herzkreislauf-Erkrankungen (231, Lungenkrankheiten (189) oder eine Kombination davon.
67 Patienten, die im vergangenen Jahr in den Niederlanden um Tötung baten, waren psychisch krank.
144 Menschen mit einer beginnenden Demenz haben im Vorjahr den Antrag auf Tötung gestellt, bei zwei Patienten mit fortgeschrittener, schwerer Demenz bildeten frühere, schriftliche Willensbekundungen offenbar die Grundlage für ihre Tötung, heißt es im Jahresbericht der staatlichen Kontrollkommission.

»Sterbehilfe begann vor 40 Jahren in den Niederlanden als Bewegung für mehr Selbstbestimmung von Patienten – doch inzwischen steht das Land vor einer Frage, die zugespitzt lauten könnte: Treibt mehr Individualismus beim Sterben eine Gesellschaft in einen kollektiven Flirt mit dem Suizid?« Und Merle Schmalenbach untermauert das in ihrem Artikel Die Lebensmüden mit diesem Hinweis: »Längst ist die aktive Sterbehilfe dort nicht nur Menschen vorbehalten, die terminal krank sind. Auch jedes nicht tödliche Leiden kann sofort beendet werden. Es muss nur als unerträglich diagnostiziert werden. Demenzkranke lassen sich töten, Depressive, Menschen mit Borderline-Störung, Behinderte.« Das könne man den Berichten der Regionalen Kommissionen zur Sterbehilfe-Kontrolle entnehmen – und auch hier wurde schon über diese Entwicklung berichtet.

Und die Kriterien, nach denen aktive Sterbehilfe zulässig ist, erscheinen eindeutiger, als sie sich dann in der wirklichen Wirklichkeit darstellen: Der Patient muss unerträglich leiden. Alle Behandlungsmethoden müssen ausgeschöpft sein. Ein zweiter Arzt muss den Patienten beraten haben. Und: Der Patient muss die Sterbehilfe selbst verfügen.

»Im Jahr 2015 starben dem RTE zufolge in den Niederlanden 109 Demenzpatienten durch Sterbehilfe. 2016 stieg die Zahl auf 141. Doch darf man einen Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium töten, nur weil er vor Jahren eine Verfügung erstellt hat?«, so die Frage von Merle Schmalenbach in ihrem Artikel. Dass das keine abstrakte Fragestellung ist, belegt dieser aktuelle Fall aus den Niederlanden: »Erstmals steht in den Niederlanden eine Ärztin wegen rechtswidriger Tötung auf Verlangen vor Gericht«, berichtete Florian Staeck Ende August dieses Jahres unter der Überschrift „Sterbehilfe“-Prozess startet in Holland. Eine 68-jährige Ärztin soll gegen Vorgaben des niederländischen Sterbehilfegesetzes verstoßen haben.

Zum Sachverhalt: »Am 22. April 2016 hat die beklagte Ärztin eine damals 74-jährige demenzkranke Frau mutmaßlich auf ihren Willen hin getötet … Beim vorliegenden Fall soll die Ärztin indes gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen haben. Zunächst hatte die Patientin in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, dass sie Sterbehilfe wünsche, wenn sie aufgrund ihrer fortschreitenden Demenz in ein Pflegeheim eingewiesen werden müsse. Nach der Aufnahme im Heim gab die Patienten indes „gemischte Signale über ihren Todeswunsch“ ab. Dennoch wurde sie von der Ärztin getötet, nach Darstellung des Gerichts erfolgte dies im Einvernehmen mit der Familie der alten Dame.«

Die Umrisse des beschriebenen Sachverhalts rufen die Skeptiker auf den Plan: „Gemischte Signale über ihren Todeswunsch“? Was ist da passiert? Eine etwas genauere Darstellung des Sachverhalts findet man in dem Artikel „Wann ist die Zeit reif?“ von Oliver Tolmein, der am 16. September 2019 in der FAZ veröffentlicht wurde (online unter Sterbehilfe wider Willen). Tolmein führt darin aus: »In der Debatte über die Zulässigkeit von Tötung auf Verlangen ist das Selbstbestimmungsrecht ein zentrales Thema. „Mein Tod gehört mir“ wird mit einer Selbstverständlichkeit eingefordert, als ginge es dabei um einen liebgewordenen Wertgegenstand, den jemand Fremdes ungehörigerweise für sich beanspruchte … Der vor zwei Jahren im offiziellen Jahresbericht des Regionalen Euthanasie-Überprüfungskomitees veröffentlichte „Fall 2016-85“, der vor wenigen Tagen auch das Landgericht in Den Haag beschäftigte, verlief weniger idyllisch.«

Und die nun folgende Beschreibung dessen, was vor der Tötung „auf Verlangen“ (?) passiert ist, lässt die Grauzonen der scheinbar eindeutigen Kriterien erkennen, in der Gesamtschau muss man wohl besser von Tragik sprechen:

»Im Zentrum der rechtlichen Auseinandersetzung steht das Sterben einer vierundsiebzigjährigen Frau, die vor einigen Jahren an Alzheimer’scher Demenz erkrankt war. Ihre gesundheitliche Situation verschlechterte sich im letzten Jahr vor ihrem Tod rapide, so dass sie, was sie immer verhindern wollte, in ein Pflegeheim umziehen musste. Kurz vor der Demenz-Diagnose hatte sie noch eine Patientenverfügung verfasst, die sie ein Jahr vor ihrem Tod noch mal erneuerte und modifizierte. Ein Arzt solle ihrem Leben ein Ende setzen, „wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist“, hieß es dort.
In der Folge äußerte sie zu Hause zwar öfter den Wunsch zu sterben, erklärte dann aber stets, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei. Kurze Zeit vor ihrem Umzug ins Pflegeheim führten Hausarzt und Ehemann ein Gespräch mit ihr über die mögliche Umsetzung ihres in der Patientenverfügung niedergelegten Euthanasie-Wunsches. Die Patientin reagierte abweisend. Nachdem der Hausarzt ihr daraufhin erläuterte, dass sie möglicherweise in ein Pflegeheim umziehen müsse, wenn ihre Gesundheit sich weiter verschlechtere, entgegnete sie, dass dann vielleicht der richtige Zeitpunkt für Euthanasie gekommen sei. Beim Aufnahmeinterview ins Pflegeheim bat der Ehemann den dort tätigen Arzt, seine Frau auf Grundlage ihrer Patientenverfügung zu töten. Der Arzt kam zu der Überzeugung, dass die Frau zwar die Bedeutung der Worte „Demenz“ und Euthanasie“ nicht mehr verstehe, aber ihr Todeswunsch virulent sei. Allerdings lehnte die Patientin auch in der Pflegeinrichtung bei verschiedenen Gelegenheiten die Tötung ab, wenn darüber gesprochen wurde – so schlimm sei es noch nicht. Zwei ärztliche Spezialisten für Euthanasieberatung, die hinzugezogen wurden, kamen dennoch zu dem Ergebnis, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Euthanasie vorlagen: unerträgliches Leiden ohne Behandlungsmöglichkeit und ein freiwilliger und wohldurchdachter Wunsch. Also entschied die Familie der Patientin schließlich, dass die Tötung vollzogen werden sollte.«

Und dann wird es wahrhaft tragisch: »Die behandelnde Ärztin mischte im Beisein des Ehemannes und der Tochter ohne Wissen der Patientin ein Beruhigungsmittel in deren Kaffee, injizierte später eine weitere Dosis des Sedativums und dann das tödlich wirkende Betäubungsmittel. Während dieser letzten Injektion wachte die Patientin auf und wehrte sich, die Angehörigen hielten sie schließlich fest, bis die Frau gestorben war.«

Ist das „noch“ Tötung auf Verlangen oder Mord?

»Das Regionale Euthanasie-Überprüfungskomitee gelangte zu der Auffassung, die Ärztin, die die tödliche Medikation verabreicht hatte, habe die Grenzen des Zulässigen überschritten. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, weil auch sie der Auffassung war, dass die Ärztin in der Situation mit der Patientin ihren aktuellen Sterbewunsch hätte klären müssen.« Und Tolmein berichtet uns, wie das ausgegangen ist vor Gericht: »Das Landgericht in Den Haag … sprach die Ärztin frei: Die Patientin sei in so erheblichem Ausmaß dement gewesen, dass sie sich an ihre früheren Überlegungen nicht mehr habe erinnerte. Daher habe der Arzt auf Basis der Patientenverfügung Euthanasie ausüben dürfen.«

Daran kann man erhebliche Zweifel anmelden, denn war es nichts so, dass die Verfügung der Patientin davon ausging, dass sie selbst um Euthanasie bitten werde, „wenn die Zeit reif ist“? »Mehr noch: Sie wehrte sich sogar gegen die Injektion des tödlich wirkenden Betäubungsmittels. Diesen natürlichen Willen durch tätliches Eingreifen zu überwinden erscheint ethisch äußerst bedenklich, zumal die Patientenverfügung Angehörige und Ärzte zu so einem physischen Eingriff nicht ermächtigt hat.«

Man muss das auch vor diesem Hintergrund sehen: Die Staatsanwaltschaft hatte einen Schuldspruch gefordert allerdings ohne weitere Strafe. Die Ärztin hätte zunächst ein Gespräch mit der Patientin führen müssen. Offensichtlich geht es um eine grundsätzliche Klärung der rechtlichen Begrenzungen der „Tötung auf Verlangen“ – und in dem hier beschriebenen Fall geht es letztendlich auch um die Frage, ob das „Verlangen“ der betroffenen Person durch das Verlangen seiner Angehörigen substituiert werden kann. Wenn die Staatsanwaltschaft nicht bis zum 26. September 2019 Einspruch gegen die Entscheidung des Landgerichts erhebt, dann wird das Urteil rechtskräftig.

Auch aus dem Nachbarland Belgien, die ebenfalls wie die Niederlande im Jahr 2002 die aktive Sterbehilfe freigegeben haben, erreichen uns irritierende Nachrichten. Dabei geht es auch wie bei dem Fall aus Holland um die Angehörigen – diesmal allerdings in umgekehrter Richtung:

»Tom Mortier sieht in der belgischen Regelung hingegen alles andere als Freiheit. Seine depressive Mutter habe 2012 ohne sein Wissen um Sterbehilfe gebeten – erst am Tag nach ihrem Tod sei er darüber informiert worden. „Das Problem in unserer Gesellschaft ist offensichtlich, dass wir die Bedeutung des Umeinander-Kümmerns vergessen haben“, sagt Mortier. Seine Mutter habe seit vielen Jahren an Depressionen gelitten, aber sei ansonsten gesund gewesen. Derzeit prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Fall.«

So Michel Winde in seinem im Februar dieses Jahres veröffentlichten Beitrag Praxis der Sterbehilfe bewegt immer noch die Gemüter. Die Situation in Belgien ist aber in einem weiteren Punkt mehr als diskussionsbedürftig: In den Niederlanden ist Tötung auf Verlangen ab zwölf Jahren erlaubt, in Luxemburg nur bei Volljährigen. Die belgische Regelung ist in der EU hingegen einmalig: Vor fünf Jahren hat Belgien die sogenannte „aktive Sterbehilfe“ auf Minderjährige ausgeweitet, ohne Altersgrenze. „Tötung auf Verlangen“ auch bei Kindern? Ja, so ist das. Und das ist keine theoretische Option: »Ein Kind wurde neun Jahre alt. Ein zweites starb mit elf. Und das dritte wurde 17. Sie alle waren unheilbar krank. Und sie alle entschieden sich bewusst fürs Sterben.« Unter der zutreffenden Überschrift Drei Kinder in Belgien getötet wurde im August des vergangenen Jahres gemeldet: »Tötung auf Verlangen ist in Belgien auch bei Minderjährigen erlaubt. Drei Fälle gab es 2016/17, heißt es in einem Kommissionsbericht.« Bei den bislang bekannten Minderjährigen-Fällen litt ein Patient an der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose, ein anderer hatte bösartige Tumore im Kopf und der Dritte litt an der Duchenne-Muskeldystrophie, einer bestimmte Art des Muskelschwunds.

Ein neunjähriges Kind, das sich „bewusst“ für den Tod entscheidet? Nicht wenige werden an dieser Stelle mehr als den Kopf schütteln. Als 2016 der erste Fall einer Kindstötung in Belgien bekannt wurde, gab es viel Protest. Die Regelung, die auch die Tötung von Kinder ermöglicht, sei »sinnvoll, heißt es in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr. So hätten Minderjährige die freie Wahl und ein Mitspracherecht beim Ende ihres Lebens. „Das Wichtigste ist, dass das Kind die Entscheidung trifft“, sagt die Anwältin Jacqueline Herremans, die der Kommission angehört. Für diese Entscheidung sei zwar nicht jedes Kind reif genug. Aber: „Wir sprechen über Kinder, die Wochen oder Monate im Krankenhaus verbringen. Die sind reifer als andere.“ Herremans ist grundsätzlich für „aktive Sterbehilfe“. „Das sollte die Freiheit jedes Einzelnen sein“, sagt sie«, berichtet Michel Winde in seinem Artikel.

»Seitdem Sterbehilfe in Belgien 2002 eingeführt wurde, steigen die Fallzahlen kontinuierlich. 2004 waren es 349 Fälle, 2017 schon 2309. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, kritisiert, dass die belgische Gesellschaft sich an Sterbehilfe gewöhnt habe – dazu habe auch die Diskussion darüber geführt. Allein von 2012 auf 2013, als über die Ausweitung auf Minderjährige diskutiert wurde, sei die Fallzahl um fast 400 auf 1807 gestiegen.« Zugleich zeigt der Blick auf Belgien, dass die vermeintlich ausschließlich individuelle Entscheidung, sich töten zu lassen, eben nicht singulär im Raum steht, sondern immer auch eingebettet ist in die gesellschaftlichen Umstände, die dann auch mit dazu beitragen können, dass es solche regionalen Unterschiede gibt: »Während die „aktive Sterbehilfe“ von französischsprachigen Patienten in Belgien vergleichsweise wenig genutzt wird – 2017 gab es 517 Fälle –, ist das bei den Flämisch sprechenden Patienten anders (1.792).«

Was an dieser Stelle bleibt ist die Wiederholung des Fazits aus dem Beitrag Aktive Sterbehilfe in den Niederlanden im Nachfrage- (oder Angebots-?)Boom. Zwischen Hilfe zur Selbstbestimmung und Ausdifferenzierung einer Tötungsmaschinerie?, der hier am 24. April 2017 veröffentlicht wurde:

»Die immer wieder … aufgeworfene Frage: Wo soll das enden?, hat nichts von ihrer Berechtigung verloren. Ganz im Gegenteil. Sie stellt sich immer drängender.«