Ein Erste-Hilfe-Kurs oder ein Integrationskurs dient der „Freizeitgestaltung“. Da kommt jetzt die Umsatzsteuer oben drauf. Aus den niederen Niederungen des Steuerrechts

Generell gilt ja bekanntlich die Lebensweisheit: Achten Sie auf das Kleingedruckte. Und wir kennen aus dem Alltag zugleich: Das liest kaum jemand. Und grundsätzlich ist das mit den vielen kleinteiligen Regelungen in Gesetzen – vor allem, wenn sie sozialpolitisch relevante oder bzw. hier und steuerrechtliche Aspekte betreffen – auch so. Man sieht selbst als geübter Leser den Wald vor lauter Verweisungsbäumen nicht mehr.

Und nun bekommen wir erneut ein Beispiel dafür serviert. Das bezieht sich auf den in Sonntagsreden vielbeschworenen Aspekt der Weiterbildung, der ja die Zukunft gehören soll, in Verbindung mit der aus Sicht des Staates „schönsten“ Steuerart, also der Umsatzsteuer, umgangssprachlich Mehrwertsteuer. „Schön“ deshalb, weil die Einnahmen aus dieser Steuer bei jedem Verkauf am Ende anfallen und abgeführt werden müssen. Selbst Schwarzarbeiter bekommt man am Ende zumindest umsatzsteuermäßig wieder eingefangen, wenn sie ihre Einnahmen in den normalen Wirtschaftskreislauf einspeisen. Die Einnahmen aus der Umsatzsteuer sprudeln kräftig.

Nun gibt es nicht „die“ Umsatzsteuer, sondern den „Normalfall“ mit 19 Prozent Steuersatz und die abgesenkte Umsatzsteuer mit einem Steuersatz von 7 Prozent. Und die Frage, ob ein Produkt oder eine Dienstleistung normal oder reduziert besteuert wird, ist Ausgangspunkt für aufgeheizte Debatten, bei denen es immer auch um Gerechtigkeitsfragen geht, so dass man sich über die Emotionalität der Auseinandersetzung nicht wundern muss. Man kann ganze Regalwände mit Artikeln füllen, die unter solche Überschriften gesetzt werden: So irrsinnig sind die deutschen Mehrwertsteuer-Sätze, ein Beitrag von Berrit Gräber aus dem Jahr 2016, der sich an einer damaligen Neuerung angehängt hat:

»Wer einen professionellen Redner für seine bevorstehende Hochzeit, eine Geburtstags- oder Trauerfeier engagiert, kann sich über einen neuen Steuervorteil freuen. Seit Kurzem sind die Experten für das geschliffene Wort steuerlich als „ausübende Künstler“ eingestuft. Für ihre maßgeschneiderten Reden fallen damit nur noch sieben statt der vollen 19 Prozent Mehrwertsteuer an, hat der Bundesfinanzhof entschieden (Az.: V R 61/14).« Und die Autorin nutzt das als Steilvorlage für einen Exkurs in die Tiefen und Untiefen der differierenden Umsatzbesteuerung:

»Kommt etwa ein Schnitzel vom Kalb oder Schwein auf den Tisch, werden Fleischliebhaber dafür nur mit dem geringeren Steuersatz zur Kasse gebeten. Fürs Sojaschnitzel dagegen gibt es die Vergünstigung nicht. Veganer und Vegetarier müssen dafür volle 19 Prozent berappen. Auch Fisch ist fiskalisch wohl nur schwer in den Griff zu kriegen. In Öl eingelegt, wird er nicht begünstigt. Dafür aber, wenn er in Dosen gepresst wird. Geräuchert wieder nicht. Nehmen wir den Nahverkehrszug oder ein Taxi, sind die Fahrten steuerlich ermäßigt. Die Bahncard oder das ICE-Ticket sind es nicht … Theaterabende, Konzerte und Kinderbücher zum Ausmalen sind mit sieben Prozent besteuert, Kinderbücher zum Ausschneiden dagegen voll. Alles klar?«

Sehr beliebt ist vor dem demografischen und familienpolitischen Hintergrund immer auch der Verweis auf die Tatsache, dass Windeln für die ganz kleinen zukünftigen Steuerzahler mit dem vollen Mehrwertsteuersatz belegt sind, das Hundefutter hingegen mit einer umsatzsteuerlichen Reduktionsbehandlung gepampert wird.

Dabei muss man sehen, dass am Anfang der Differenzierung der Mehrwertsteuerlast ein wichtiges sozialpolitisches Motiv stand. Dazu aus dem Artikel von Berrit Gräber: »Auch Kleinverdiener sollten sich Lebensmittel leisten, Zeitung lesen, Bus fahren und am kulturellen Leben teilnehmen können. Deshalb verlangt der Staat auf bestimmte Waren und Dienstleistungen nur sieben statt des regulären Satzes von aktuell 19 Prozent.«

Sozialpolitisch am Anfang sicher gut gemeint ist mittlerweile ein steuerliches Wirrwarr entstanden, das die seltsamsten Blüten ans Tageslicht treibt: »Dass Leitungswasser, Äpfel und frische Pilze mit sieben Prozent begünstigt sind, Mineralwasser, Apfelsaft, und Pilze im Glas aber nicht – da kennen sich nur Schlaumeier und Sparfüchse aus … Reitpferde (sind steuerlich privilegiert) …. Zirkuspferde wieder nicht. Maulesel: ja. Hausesel: nein. Besonders intensiv beschäftigt sich der Fiskus auch damit, wie und wo der Mensch isst: Fußballfans dürfen im Stadion beispielsweise eine begünstigte Bockwurst verspeisen, im Kino müssen sie dafür den vollen Satz berappen. Dafür geht dort Popcorn ermäßigt über die Theke. Wird die Pizza geliefert: sieben Prozent. Wird sie auf Klappstühlen vor dem Imbissstand verputzt: 19 Prozent … Auch Currywurst und Pommes im Stehen sind steuerlich günstiger als die im Sitzen.«

Dabei müssen wir an dieser Stelle – auch und gerade mit Blick auf die gewünschte und sozialpolitisch motivierte Entlastungsfunktion – darauf hinweisen, dass es nicht nur zwei, sondern drei Mehrwertsteuersätze gibt: Neben dem Normalsatz von 19 Prozent und dem reduzierten Satz in Höhe von 7 Prozent gibt es noch den Mehrwertsteuersatz von null Prozent. Dazu wieder Berrit Gräber: »Arztbesuche sind beispielsweise komplett steuerfrei. Für Kronen aus dem Zahntechnikerlabor müssen wir aber sieben Prozent berappen, für Medikamente sogar 19, für Tierarznei wieder nur sieben. Auf Herzschrittmacher, Prothesen und Rollstühle kassiert der Staat nur den „halben“ Satz, für Krankenhausbetten oder einen Treppenlift den vollen.« Und nicht nur Arztbesuche sind komplett von der Umsatzsteuer befreit, auch die Mieten, um ein weiteres sozialpolitisch höchst brisantes Feld anzuleuchten.

Die Welt der Umsatzsteuerbefreiung wird in Umrissen erkennbar, wenn man einen Blick auf den § 4 Umsatzsteuergesetz (UStG) wirft, der unter der einschlägigen Überschrift „Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen“ steht. Im unteren Bereich der 28 Unterpunkte umfassenden Liste findet man zahlreiche sozialpolitisch relevante Dienstleistungen aufgeführt.

Nun erreicht uns eine solche Meldung vom Redaktionsnetzwerk Deutschland: Scholz will Steuerfreiheit von Erste-Hilfe-Kursen streichen: »Auch Integrationskurse und Fortbildungsangebote für ehrenamtlich Tätige wären betroffen. Bislang sind derartige Angebote steuerfrei.« Tim Szent-Ivanyi erläutert dazu unter der Überschrift Versteckte Steuererhöhung: Das sind die Pläne von Olaf Scholz: »Der Koalitionsvertrag von Union und SPD ist in diesem Punkt eindeutig: „Keine Erhöhung der Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger“, heißt es im Arbeitsprogramm der großen Koalition. Bisher unbemerkt von der Öffentlichkeit verfolgt Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nun aber Pläne, die dieser Zusicherung widersprechen: Nach Informationen des RedaktionsNetzwerkes Deutschland (RND) plant er Steuererhöhungen, die viele Bürger betreffen würden.«

Was genau ist geplant? »Geht es nach dem Willen von Scholz, sollen künftig Bildungsangebote für Erwachsene, die nichts mit dem Beruf zu tun haben, umsatzsteuerpflichtig werden. Dazu gehören zum Beispiel Erste-Hilfe-Kurse zum Erwerb des Führerscheins, Computerkurse für Senioren, Schulungshilfen für Menschen mit Behinderung, Integrationskurse, Vortragsreihen für Diabetes-Kranke oder Fortbildungsangebote für ehrenamtlich Tätige. Bislang sind derartige Angebote steuerfrei. Wird die Umsatzsteuer künftig fällig, steigen die Gebühren für die Teilnehmer.«

Woher haben die das? Hier werden wir wieder Zeugen eines dieser komplizierten Vorgänge in Gesetzgebungsverfahren, bei denen sich die Änderungen in Gesetzentwürfen finden, bei denen kein normaler Mensch darauf kommen würde, dass die erwähnten Änderungen hier zu finden sind: »Die bisher nur Steuerexperten aufgefallene Änderung ist in einem Gesetzentwurf enthalten, den das Bundeskabinett bereits im Sommer beschlossen hat. Darin geht es im Wesentlichen um die steuerliche Förderung der Elektromobilität.« What? Was hat die steuerliche Förderung der stromfressenden Autos mit der umsatzsteuerlichen Behandlung von Erste-Hilfe-Kursen zu tun? Man muss an dieser Stelle den vorschnell empörten Leser auf den genauen Titel des Gesetzentwurfs verweisen, denn der hat einen hier relevanten Annex:

➔ Entwurf eines Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, BR-Drucksache 356/19 vom 09.08.2019

Da haben wir den Hinweis schon im Titel: „und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Darunter kann man dann alles andere packen. Bei der Problem- und Zielbeschreibung auf der ersten Seite des Gesetzentwurfs findet man dann diesen Hinweis: »Außerdem hat sich in verschiedenen Bereichen des deutschen Steuerrechts fachlich notwendiger Gesetzgebungsbedarf – auch für Erleichterungen beim Bürger – ergeben. Dies betrifft insbesondere Maßnahmen zur Verfahrensvereinfachung sowie zur Umsetzung von EU-Recht.«

Das Finanzministerium habe dem Redaktionsnetzwerk Deutschland die geplanten Änderungen bestätigt. »Künftig sollten Bildungsleistungen generell nur dann steuerbefreit sein, wenn sie nicht der „reinen Freizeitgestaltung“ dienten. Begründet werden die Pläne mit einer notwendigen Anpassung an europäisches Recht.«

Schaut man in den Gesetzentwurf, dann ist es gar nicht so leicht, die entsprechenden Änderungen nachzuvollziehen. Im Begründungsteil zu den Einzeländerungen findet man dann diesen Schlüsselsatz: »Insgesamt ist damit weiterhin gewährleistet, dass die Hauptaufgaben der anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege und deren Mitglieder unverändert von der Umsatzsteuer befreit sind.« (S. 167). Man achte auf die Formulierung: „die Hauptaufgaben“ bleiben weiterhin umsatzsteuerbefreit, die anderen eben nicht (mehr).

Hier findet man auch den Hinweis, dass „EU-Recht“ zu den Änderungen zwinge: »Unionsrechtliche Grundlage der Neuregelung des § 4 Nummer 18 UStG ist Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (sog. Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie – MwStSystRL).« (S. 165)

Wie das oft so ist, muss man in Gesetzestexten das Negative in den positiv daherkommenden Definitionen suchen: »Mit der Neufassung werden eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen von der Umsatzsteuer befreit, soweit sie nicht bereits in anderen Nummern dieses Paragraphen genannt sind. Voraussetzung hierfür ist, dass diese Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen mit sozialem Charakter erbracht werden.« (S. 165). Der entscheidende Punkt: Nur noch „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen“ werden von der Umsatzsteuer befreit, die anderen nicht (mehr).

➞ Der Gesetzgeber bemüht sich in seinen Erläuterungen, beim (angeblichen) Handlungsbedarf auf die europäische Ebene zu verweisen:
»Mit Urteil vom 15. November 2012, C-174/11 (Zimmermann), hat der EuGH in Bezug auf die Anwendung des jetzigen Artikels 132 Absatz 1 Buchstabe g MwStSystRL entschieden, dass es der unionsrechtliche Grundsatz der Neutralität erfordert, dass für alle dort genannten Kategorien privatrechtlicher Einrichtungen in Bezug auf die Erbringung vergleichbarer Leistungen die gleichen Bedingungen für ihre Anerkennung gelten müssen.« (S. 165).

➞ Aber auch der deutsche Bundesfinanzhof wird herangezogen: »Die Neukonzeption ist auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der Rechtsprechung des BFH zu sehen. Nach den Ausführungen des BFH hat der nationale Gesetzgeber Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe g MwStSystRL bisher nur unvollständig dadurch „umgesetzt“, dass er die bereits bei Inkrafttreten der Richtlinie 77/388/EWG vorhandenen, teilweise bereits im UStG 1951 enthaltenen Steuerbefreiungstatbestände im Wesentlichen unverändert weitergeführt hat (vgl. BFH-Urteil vom 18. August 2005, V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl 2006 II S. 143).«

Folglich sei man nun gezwungen, eine „Bereinigung“ durchzuführen. Und die wird Folgen haben, worauf die Kritiker verweisen:

Das »Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) … (hat) vor einer Schwächung und Gefährdung der Erwachsenenbildung durch die Neuregelung des Umsatzsteuerrechts gewarnt. Der bisherige Gesetzentwurf würde zu einer erheblichen Einschränkung der derzeitigen Steuerbefreiung von vielen Angeboten der Weiterbildung führen und damit zu einer deutlichen Verteuerung der Angebote«, so wird der ZdK-Präsident Thomas Sternberg zitiert. Und auch von anderen Seiten wird Kritik vorgetragen, wie Tim Szent-Ivanyi berichtet:

»Die führenden Wohlfahrtsorganisationen machen jedoch in einem Schreiben an das Finanzministerium darauf aufmerksam, dass die nationalen Regierungen in dieser Frage einen Ermessensspielraum hätten. Dieser müsse genutzt werden. Ansonsten drohe eine Verteuerung der von den Sozialverbänden angebotenen Leistungen.
Auch der Bundesrat hat die drohende Steuererhöhung inzwischen kritisiert. In einem in der vergangenen Woche gefassten Beschluss des Gesundheitsausschusses, der von der Mehrheit der Länder unterstützt wurde, wird die Bundesregierung aufgefordert, die Pläne zu überdenken. Der Wegfall der Steuerbefreiung und die daraus resultierenden Gebührenerhöhungen würden den Zugang zur Weiterbildung deutlich erschweren oder sogar verstellen, wird argumentiert.«

Und schlussendlich könnte man jetzt wirklich mal darüber nachdenken, was man offenbar alles für ein „reines Privatvergnügen“ hält. Fortbildungen für pflegende Angehörige sind aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive alles andere als ein reines Privatvergnügen – die pflegenden Angehörigen stabilisieren das deutsche Pflegesystem, das ohne sie wohl kaum (übrigens aus den lohnbezogenen Beiträgen) finanzierbar wäre und in Minuten zusammenbrechen würde, wenn nur ein Teil der pflegenden Angehörigen das Handtuch schmeißen würde. Und selbst den Erste-Hilfe-Kurs, der verpflichtend ist, um einen Führerschein machen zu dürfen, kann man mit guten Argumenten angesichts der arbeitsmarktlichen Bedeutung eines Führerscheins hinsichtlich der Zuordnung als reines Privatvergnügen anders definieren.

Es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung den von den Kritikern behaupteten Ermessensspielraum sieht und in Anspruch nehmen wird.