Mittlerweile sollte es bei jedem angekommen sein: In den Pflegeberufen herrscht Mangel. Überall offene Stellen, die über Monate nicht oder nie besetzt werden können. In der Hierarchie der Not steht die Altenpflege ganz oben. Und während die Politik immer noch darüber rätselt, wie sie ihrem Versprechen beispielsweise auf höhere Löhne in der Altenpflege echtes Leben einhauchen kann, halluzinieren andere, vor allem die Funktionäre der privatgewerblichen Träger von Pflegeheimen, von unzähligen gut qualifizierten Pflegekräften aus allen Ländern der Welt, die nur darauf warten, hier bei uns den Pflegenotstand zu lösen, wenn man sie nur endlich rein lassen würde.
Derweilen saufen viele derjenigen, die in den Pflegeheimen, den ambulanten Diensten und den Kliniken den Betrieb am Laufen halten, ab. Das kann man beispielsweise daran erkennen, dass selbst die teilweise mehr als fragwürdig niedrig angesetzten Pflegepersonaluntergrenzen in vielen Krankenhäusern nicht eingehalten werden können – dazu der Beitrag Krankenhäuser zwischen Volksbegehren gegen den Pflegenotstand und unsicheren Pflegebudgets im kommenden Jahr vom 18. Juni 2019. Und die Flucht aus der Pflege wird dann für einen Teil derjenigen, die noch da sind, immer attraktiver, weil sie nicht auf Dauer verschlissen werden wollen durch die Überlast, die gefahren werden muss mit denen, die da sind. Ein offensichtlicher Teufelskreis. Und das hat auch Folgen für die eigene Gesundheit, wie man nun an den neuen Daten aus dem Gesundheitsreport 2019 der Techniker Krankenkasse zeigen kann.
»Sie arbeiten häufig im Schichtdienst, haben eine hohe körperliche und psychische Belastung und leiden oft unter engen Dienstplänen aufgrund von Personalnot: Kein Wunder, dass der Nachwuchs in der Pflegebranche fehlt. Rund 40.000 Stellen sind derzeit unbesetzt, Fachkräfte werden händeringend gesucht. Doch wie geht es den Pflegenden in Deutschland wirklich? Geht es ihnen tatsächlich schlechter als den Berufstätigen in anderen Branchen? Der Gesundheitsreport 2019 zeigt: Ja, es geht ihnen schlechter. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sind Menschen in Pflegeberufen überdurchschnittlich oft und auch länger krankgeschrieben.«
»Pflege geht auf die Gesundheit. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sind Menschen in Pflegeberufen überdurchschnittlich oft und auch länger krankgeschrieben. Kranken- und Altenpflegekräfte fallen im Schnitt jährlich für rund 23 Tage krankheitsbedingt aus. Das sind acht Tage – und über 50 Prozent – mehr als in der Vergleichsgruppe aller Beschäftigten (15 Tage). Dabei sind die Berufstätigen speziell in der Altenpflege noch stärker betroffen. Mit einem Krankenstand von 6,94 Prozent haben sie höhere Fehlzeiten als ihre Kolleginnen und Kollegen in der Krankenpflege mit 6,02 Prozent. Beide Ergebnisse liegen deutlich über dem Durchschnitt aller Berufstätigen von 4,09 Prozent«, berichtet die Techniker Krankenkasse und sie bezieht sich dabei auf diese Veröffentlichung:
➔ Techniker Krankenkasse (Hrsg.) (2019): Gesundheitsreport 2019. Pflegefall Pflegebranche? So geht’s Deutschlands Pflegekräften, Hamburg, Juni 2019
Die überdurchschnittlich hohen Werte für die Pflegeberufe ziehen sich wie ein roter Faden durch fast alle Kategorien, die im Gesundheitsreport beleuchtet werden – von den Fehltagen bis hin zu den Arzneiverordnungen.
Besonders viele Fehltage in den Pflegeberufen gehen auf das Konto von psychischen Störungen und Krankheiten des Bewegungsapparats. Während berufsübergreifend jeder Beschäftigte durchschnittlich 2,47 Tage letztes Jahr aufgrund einer psychischen Diagnose krankgeschrieben war, beliefen sich die Fehltage in den Pflegeberufen auf durchschnittlich 4,63 Tage. Das sind rund 87 Prozent mehr. Aufgrund von Muskelskeletterkrankungen fehlte jeder Beschäftigte letztes Jahr 2,61 Tage – bei den Menschen in Pflegeberufen waren es mit 4,78 Tagen 83 Prozent mehr. Sehr auffällige Ergebnisse findet man bei den Erkrankungen des Bewegungsapparats. Dort haben Frauen in Pflegeberufen doppelt so hohe Werte, wie die Vergleichsgruppe. Das deutet auf die hohen körperlichen Anforderungen in der Pflege hin.
Die erhöhte Morbidität von Pflegekräften schlägt sich auch im Arzneimittelverbrauch nieder: Im Jahr 2004 lagen die Arzneiverordnungen für Pflegekräfte und für den Durchschnitt aller TK-Versicherten mit 164 und 165 definierten Tagesdosen (DDD) noch gleichauf. Bis 2018 nahm der Verbrauch der Pflegekräfte mit jedoch 74 Prozent auf 286 DDD deutlich stärker zu als der aller TK-Versicherten (48 Prozent).
Auch hier zeigt sich ein genereller Befund: Fast alle Kennzahlen bei Berufstätigen in der Altenpflege sind höher als bei Berufstätigen in der Krankenpflege. So erhalten Altenpflegekräfte mit 314 Tagesdosen pro Kopf 28 Prozent mehr Medikamente als der Durchschnitt der Berufstätigen (244 Tagesdosen). Krankenpflegekräfte erhalten im Schnitt 278 Tagesdosen, das sind 14 Prozent mehr.
Neben Medikamenten gegen Bluthochdruck und Magensäureblockern werden Menschen in Pflegeberufen im Vergleich zu den Berufstätigen insgesamt erheblich größere Mengen an Arzneimitteln zur Behandlung des Nervensystems verschrieben – insbesondere den Männern. So erhalten Männer fast doppelt so viele Antidepressiva (21 Tagesdosen) wie berufstätige Männer insgesamt (11 Tagesdosen). Frauen in Pflegeberufen bekamen letztes Jahr 23 Tagesdosen Antidepressiva pro Kopf verschrieben, das sind 32 Prozent mehr als der Durchschnitt berufstätiger Frauen (17 Tagesdosen).
Summa summarum werden wir hier – erneut – mit erschreckend schlechten Werten für den Gesundheitszustand in den Pflegeberufen konfrontiert. Das sind nicht nur bedrückende Befunde für die Gegenwart, denn sie stehen stellvertretend für das viele Pflegekräfte beschädigende Belastunsgprofil der bestehenden Arbeitsstrukturen und das wird dazu führen, das weitere Abgänge aus dem Berufsfeld zu erwarten sind – bzw. die Gewinnung von Berufsrückkehrerinnen erschwert bis verunmöglicht wird. Das wiederum treibt den Personalmangel weiter nach oben.
Zugleich aber müssten längst alle Alarmglocken läuten angesichts der dreifachen Herausforderung, mit der wir in den vor uns liegenden Jahren vor allem in der Altenpflege konfrontiert sein werden:
➔ Zum einen steigt die Nachfrage nach zusätzlichen Pflegekräften allein aufgrund der demografischen Entwicklung kontinuierlich an, die vielen zusätzlichen Pflegebedürftigen, die kommen werden, müssen versorgt werden. Das bedeutet, das bestehende Personal muss in zweierlei Hinsicht aufgestockt werden – zum einen angesichts der heute schon als gravierend zu bezeichnenden Unterdeckung mit Pflegekräften in den Diensten und Heimen, zum anderen um das Mehr als pflegebedürftigen Menschen zu versorgen (und drittens – wenn man pessimistisch gestimmt ist – auch dadurch, dass die bislang erhebliche Entlastungsfunktion durch die häusliche Pflege abnehmen wird mit entsprechenden Bedarfssteigerungen im professionellen System).
➔ Zum anderen werden offensichtlich – wie die Daten zeigen – im bestehenden System zahlreiche Pflegekräfte vernutzt und ausgebrannt und einige von ihnen fallen dann dauerhaft aus bzw. weg.
➔ Und drittens werden in den kommenden Jahren viele der heute noch an Bord befindlichen Pflegekräfte schlichtweg altersbedingt durch den Übertritt in den Ruhestand ersetzt werden, ohne dass damit ein Wachstum verbunden wäre. Wie groß die Herausforderungen alleine hinsichtlich des erforderlichen Erstazbedarfs sein werden, kann ein Blick auf die Altersstruktur der Pflegekräfte in den ambulanten Pflegediensten sowie den Pflegeheimen verdeutlichen: 40 Prozent des Personals in den Pflegediensten und sogar 42 Prozent des Personals in den Pflegeheimen waren am Jahresende 2017 bereits über 50 Jahre alt.