Wenn eine Mindest- zur Normal- und unter dem Druck des Fachkräftemangels zur abzusenkenden Obergrenze wird: Die Fachkraftquote von 50 Prozent in der stationären Altenpflege

Mit Quoten ist das ja bekanntlich immer so eine Sache. In einigen Bereichen werden Quoten verteufelt als gleichsam leistungslose positive Diskriminierung, man denke hier an die Debatten über irgendwelche Frauenquoten. dabei wird dann gerne von den Gegnern solcher Vorgaben das „Argument“ ins Feld geführt, wer möchte denn schon gerne eine „Quotenfrau“ sein. In anderen Bereichen dienen Quoten vor allem dem Schutz bestimmter Standards. Also man geht davon aus, dass eine bestimmte Quote nicht unterschritten werden sollte, weil dann die Gefahr besteht, dass es zu unerwünschten Ergebnissen kommt.

In diesem Kontext ist dann auch die sogenannte „Pflegefachkraftquote“ von (mindestens) 50 Prozent in der stationären Altenpflege zu sehen. Vereinfacht gesagt beinhaltet diese Vorgabe, dass mindestens die Hälfte des Personals in einem Pflegeheim aus Fachkräften bestehen muss. Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle bereits skeptisch werden angesichts der vielen und zunehmenden Berichten über einen eklatanten Mangel an Pflegefachkräften in vielen Regionen. Wo sollen die herkommen und was macht man, wenn man gesucht, aber keinen gefunden hat? Und besteht in so einer Situation nicht die Gefahr, dass man auszuweichen versucht auf andere Arbeitskräfte, die aber nicht zu den Fachkräften gehören? Und wenn eine Quotenvorgabe das blockiert, dann muss man doch eigentlich …? Genau, man muss die Quotenvorgabe aufzuweichen versuchen.

Da wird sich der eine oder andere treue Leser dieses Blogs erinnern. Da war doch schon mal was? Genau. Am 14. Juli 2015 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht:
Fachkräftemangel in der Pflege: Eigentlich müsste man … Aber in der wirklichen Realität senkt man dann lieber die Fachkraftquote in den Heimen. Dort wurde darauf hingewiesen:

Für »die in Pflegeheimen Beschäftigten (gibt es) eine sogenannte „Fachkraftquote“, die in der aus dem Heimgesetz abgeleiteten Heimpersonalverordnung (HeimVO) verankert ist. Diese Verordnung regelt Mindeststandards für die personelle Ausstattung von Heimen für alte Menschen, für Pflegebedürftige oder für behinderte Volljährige: In § 5 wird bestimmt, wie viele Fachkräfte bei der Betreuung der Heimbewohner mindestens beschäftigt werden müssen. In Heimen, in denen mehr als 20 Bewohner leben oder in denen mindestens vier pflegebedürftige Bewohnern leben, müssen mindestens die Hälfte der anwesenden Betreuungskräfte Fachkräfte sein. In Heimen mit pflegebedürftigen Bewohnern muss auch bei Nachtwachen mindestens eine Fachkraft ständig anwesend sein. In Heimen mit weniger Bewohnern muss mindestens eine Fachkraft in der Betreuung tätig sein.
Vereinfacht kann man sich also merken: Fachkraftquote = 50%. Wer aber zählt zu den Fachkräften im Sinne der Verordnung? In der Pflege sind Fachkräfte Altenpflegerinnen und Altenpfleger oder Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpfleger. Altenpflegehelferinnen und Altenpflegehelfer, Krankenpflegerhelferinnen und Krankenpflegehelfer sowie vergleichbare Hilfskräfte sind keine Fachkräfte im Sinne der Verordnung.«

Nun muss man wissen, dass das Heimrecht 2006 von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in die der Länder übergegangen ist. Dort sind die personellen Mindestanforderungen für Heime nunmehr in Landesgesetzen geregelt, aber die Fachkraftquote taucht überall auf. Also eigentlich.

Bereits 2015 wurde auf das Beispiel Baden-Württemberg hingewiesen, denn unter der damaligen grün-roten Landesregierung hat man die Vorgaben den Personaleinsatz in Heimen betreffend neu geregelt: »So bleibe das Grundmodell des neuen Wohn-, Teilhabe-, und Pflegegesetzes des Landes (WTPG) zwar bestehen, wonach fünfzig Prozent der Beschäftigten für pflegende und sozial betreuende Tätigkeiten Fachkräfte sein müssen. Wenn im Kernbereich der Pflege aber tatsächlich Pflegefachkräfte eingesetzt werden und dazu in geringem Umfang andere Fachkräfte, wie zum Beispiel Ergotherapeuten, Heilerziehungspfleger, Pädagogen, Sozialarbeiter und Sprachtherapeuten, dann könne die Quote der Pflegefachkräfte von fünfzig Prozent künftig unterschritten werden. Sie dürfe grundsätzlich aber nicht unter vierzig Prozent fallen.«

Da hatten wir also schon eine erste Aufweichung. Und interessierte Kreise haben immer wieder Anläufe gegen die Fachkraftquote im Sinne einer angestrebten Absenkung gestartet. Auch darüber wurde hier ausführlich berichte, beispielsweise in dem Beitrag Wenn private Pflegeheimbetreiber eine „ideologiefreie Diskussion“ vorschlagen … Die Altenpflege, ihre Personalmisere und die das Geschäft störende Fachkraftquote vom 22. August 2017. Der Beitrag damals begann mit diesen Ausführungen:

»Weil in vielen Altenheimen das Personal fehlt, bleiben Pflegeplätze unbesetzt. Betreiber verlangen mehr Flexibilität.« So kann man es in einem Artikel in der Printausgabe der FAZ lesen, der am 21.08.2017 unter der bereits diskussionswürdigen Überschrift „Fachkräftequote verschärft Pflegenotstand“ veröffentlicht wurde. Bezeichnenderweise und völlig richtig auf der ersten Seite des Wirtschaftsteils platziert. Es handelt sich auch nicht um „die“ Pflegeheimbetreiber, sondern um die privaten Anbieter, von denen sich einige organisiert haben im Bundesverband privater Pflegeanbieter (bpa). Und dieser Verband beklagt »die zu strikte Auslegung der Regel, wonach die Hälfte des Pflegepersonals Fachkräfte sein müssen. Wird die Quote von in der Regel 50 Prozent unterschritten, legt der Betreiber „freiwillig“ Betten still – falls nicht, tun das die Behörden. Neue Patienten dürfen dann nicht aufgenommen werden.« Das ist schlecht fürs Geschäft, keine Frage.«

Die privaten Betreiber von Pflegeheimen und Pflegediensten haben eine klare Beschreibung dessen, was sie sich von der Politik wünschen: »Der Gesetzgeber solle den Heimbetreibern mehr Raum für die Anstellung von – in der Regel auch billigeren – Hilfskräften lassen. Dabei führe der Einsatz von mehr Hilfskräften nicht automatisch zu einer schlechteren Pflege. Es komme daher nicht auf den Stellenschlüssel an, sondern darauf, dass in der Pflege die erforderliche Qualität „zu 100 Prozent“ erreicht werde.«

Meine damalige Bewertung kann (und muss) auch heute erneut aufgerufen werden: Der Pflege-Taylorismus feiert hier eine große Party. Dahinter steht die Vorstellung, man könne die Betreuungs- und Pflegeprozesse in kleine Häppchen zerteilen und dann die Personalbemessung anhand der so gewonnenen Teilprozesse machen. Mit dem natürlich erwünschten Ergebnis, dass die examinierten Pflegekräfte einen nicht geringen Teil ihrer Arbeitszeit mit „nicht-pflegekraftrelevanten“ Tätigkeiten verbringen bzw. „verschwenden“, die eben auch von anderen, nicht-examinierten Kräften erledigt werden könnten – zu „100 Prozent der „erforderlichen“ Qualität. Und wenn man die einzelnen Arbeitsprozesse nur „richtig“ zerlegt, dann wird der Bedarf an examinierten Fachkräften deutlich eingedampft werden können, was zugleich bedeuten würde, die Quote der Nicht-Fachkräfte erhöhen zu müssen und die auch zu dürfen, weswegen natürlich die 50 Prozent-Vorgabe fallen muss. Und da die Hilfskräfte quantitativ leichter zu finden snd als Fachkräfte und zugleich auch noch billiger sind, hätte man eine „win-win-Situation“. Für die Pflegeheim-Betreiber.

Aber nun schreiben wir das Jahr 2019 und die Entwicklung geht tatsächlich sukzessive in die angestrebte Richtung einer „Flexibilisierung“ des Bisherigen, was sich natürlich irgendwie schöner anhört als Absenkung der Standards oder gar Dequalifizierung. Dazu der Beitrag Säuft in Niedersachsen die Fachkraftquote ab? von Adalbert Zehnder. Er beginnt mit einer Problembeschreibung: »Die 50-Prozent-Quote gilt bundesweit für alle vollstationären Pflegeeinrichtungen, die einen Versorgungsvertrag nach Sozialgesetzbuch XI erfüllen. Die Frage, die gerade wieder die Gemüter erhitzt, ist: Was ist eine „Fachkraft“? In einem Großteil der Heimpersonalverordnungen der 16 einzelnen deutschen Länder, die das Bundesgesetz für die Praxis ausgestalten, wurde dieser Anspruch bisher etwa so formuliert wie in Bayern: Dort wird nur der als Pflegefachkraft anerkannt, wer eine dreijährige Pflegeausbildung beziehungsweise ein Pflegestudium absolviert hat.«

Nun haben wir schon gesehen, dass vor geraumer Zeit in Baden-Württemberg eine Öffnungsklausel in das Landesheimrecht verankert wurde. Das wird auch in dem Beitrag von Zehnder aufgeführt: »Als eines der ersten Bundesländer hatte sich Baden-Württemberg bereits vom 50-Prozent-Standard bei der Fachkraftmindestquote offiziell verabschiedet. Das nach dem Land benannte „Baden-Württembergische Modell“ sieht vor, dass die Quote sogar um 10 auf 40 Prozent abgesenkt werden darf, wenn dies im Gegenzug durch die doppelte Zahl an anderweitig qualifizierten Fachkräften oder Pflegekräften mit zweijähriger Ausbildung kompensiert wird.«

Und nun wird aus Niedersachsen berichtet, dass es in die gleiche Richtung marschieren will.

»Niedersachsen könnte nun zu den ersten Bundesländern gehören, die sich von dieser Fachkraftquote leise verabschieden. Die dortige Pflegekammer, bundesweit die dritte existierende und zugleich die größte, wirft der Landesregierung in Hannover vor, die 50-Prozent-Quote „durch die Hintertür aufzuweichen“ und „kopflos zu verringern“. Die Kritik der Kammer richtet sich gegen die Anfang des Jahres in Kraft getretene Landesverordnung.«

»In dieser Landesverordung wird die Fachkraftquote an sich nicht infrage gestellt – aber im Ländervergleich sichtlich lockerer definiert. So sieht die neue Verordnung vor, dass beispielsweise Berufsbilder wie Sozialarbeiter oder Physiotherapeuten auf die Fachkraftquote angerechnet werden können. Und dass zwei Pflegeassistenten, die von Heimen als Mitarbeiter beschäftigt oder neu eingestellt werden, rechnerisch als eine Fachkraft verbucht werden dürfen.« Es geht hier um die Verordnung über personelle Anforderungen für unterstützende Einrichtungen nach dem Niedersächsischen Gesetz über unterstützende Wohnformen (NuWGPersVO) vom 25.10.2018.

»Neben einer „Aufweichung der Fachkraftquote durch die Hintertür“ befürchtet die Pflegekammer Niedersachsen mit der Neufassung der Landesverordnung auch einen Qualifikations- und damit Qualitätsverlust bis hinauf in die Führungsetagen von Einrichtungen der stationären Pflege. Der neuen Verordnung zufolge soll es ab sofort möglich sein, dass für die Besetzung von Positionen in der Heimleitung eine dreijährige Berufsausbildung im Bereich Gesundheit oder Sozialwesen mit Hochschulstudium nicht mehr zwingende Voraussetzung sind. Die Qualifikation als „Staatlich geprüfter hauswirtschaftlicher Betriebsleiter“ oder der Meister-Titel im Fach Hauswirtschaft soll den fachlichen Berufsprofilen gleichgestellt werden.«

Fazit: Wir befinden uns ganz offensichtlich in einer Phase der sich ausbreitenden Aufweichung der historischen Standards. Und auch wenn es richtig ist, wenn man darauf hinweist, dass es keine wirklich sachlogische Begründung für die 50 Prozent gibt, so kann und muss man dem dich entgegenhalten, dass es gute Gründe gibt, angesichts der erheblichen Veränderungen der Bewohnerschaft von Pflegeheimen eher deutlich mehr als nur 50 Prozent Fachkräfte einzusetzen. Man kann das auch so formulieren wie der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe in diesem 2018 veröffentlichten Positionspapier:

➔ DBfK (2018): Erhalt der Pflegefachkraftquote im SGB XI-Bereich, Berlin: Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe, Berlin, Juni 2018

Dort findet man diesen Hinweis: »Aus fachlicher, qualitativer und ethischer Sicht sind Überlegungen, ob Pflegefachkraftquoten weiter abgesenkt werden können, nicht haltbar. Eine gegenteilige Entwicklung muss jetzt beginnen: neben den Pflegefachpersonen, die eine regelhafte Versorgung übernehmen, braucht es auch hochschulisch ausgebildetes Personal, das sich auf die Versorgung hochkomplexer Fälle fokussiert und dabei die durch das Studium erworbenen zusätzlichen Kompetenzen für die Versorgung und das Team nutzbar macht.«

Und an einer anderen Stelle wird das Positionspapier mehr als deutlich: »Abgesehen von den fachlichen Risiken gilt es zu verhindern, dass der Einsatz von Assistenzkräften zum Lohndumping auf dem Rücken gut ausgebildeter und hochmotivierter Pflegefachpersonen genutzt wird.«