Tarifbindung mit Schwindsucht und einige Bundesländer, die was gegen die Rutschbahn nach unten tun wollen

Über die rückläufige Tarifbindung (wie auch die abnehmende Zahl an Betriebsräten in den Unternehmen) in unserem Land wurde immer wieder berichtet. Beispielsweise in dem Beitrag Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden vom 24. Mai 2018. Die Daten sind hier mehr als eindeutig.

Und in einer neuen Studie wurde am Beispiel des Bundeslandes Sachsen gezeigt, wie tief man fallen kann. Dazu berichtet die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: »In Sachsen sind nur 39 Prozent aller Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. Damit ist der Freistaat mit erheblichem Abstand Schlusslicht in Deutschland. In den übrigen ostdeutschen Bundesländern liegt die Tarifbindung im Durchschnitt bei 46 Prozent, in Westdeutschland profitieren im Schnitt 57 Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag. Bei den Betrieben sind in Sachsen noch 15 Prozent an einen Tarifvertrag gebunden, gegenüber 20 Prozent in den übrigen ostdeutschen Bundesländern und 29 Prozent in Westdeutschland. Dabei hat Sachsen aufgrund einer günstigen Wirtschaftsstruktur mit einer starken Industrie eigentlich gute Startbedingungen. Die Leidtragenden sind die Beschäftigten in tariflosen Unternehmen, die deutliche Lohneinbußen hinnehmen müssen.« Die Studie im Original:

➔ Thorsten Schulten, Malte Lübker und Reinhard Bispinck (2019): Tarifverträge und Tarifflucht in Sachsen. Study Nr. 19, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, Mai 2019

Analysen gibt es viele, die das Problem der abnehmenden Tarifbindung nachzeichnen. Was aber tun? Kann man überhaupt etwas tun? Dazu ein Blick in die Studie von Schulten/Lübker/Bispinck (2019):

„Die sächsische Politik ist lange dem Leitbild des Billiglohnlandes Sachsen gefolgt“, schreiben die Forscher. „Um dieses Bild zu verändern, ist eine Stärkung der Tarifbindung unabdingbar.“ Hierzu könne die Politik die Allgermeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern und verbindliche Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen und in der Wirtschaftsförderung machen. Darüber hinaus müssten auch die Tarifvertragsparteien gestärkt werden. Während die Gewerkschaften wieder mehr Mitglieder gewinnen müssen, sollten die Arbeitgeberverbände vor allem die Legitimation von Tarifflucht über die OT-Mitgliedschaften beenden. OT steht für „ohne Tarifbindung“. Dabei können Unternehmen zwar Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sein, sind aber nicht an Tarifverträge gebunden.

Hier wird wieder einmal an eine Handlungsoption seitens des Staates appelliert: die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Zu diesem Instrument finden sich in diesem Blog zahlreiche Beiträge. Derzeit fokussiert die Debatte über allgemeinverbindliche Tarifverträge vor allem auf den Bereich der Altenpflege, für den die Politik so etwas in Aussicht gestellt hat – und nun sucht man seit Monaten einen (rechtlich) gangbaren Weg, um das auch zu realisieren, was nicht nur, aber auch aufgrund von Besonderheiten in dieser Branche wesentlich schwieriger ist als viele denken werden. Vgl. dazu ausführlicher Ein flächendeckender Tarifvertrag für die stationäre und ambulante Altenpflege? Es ist und bleibt kompliziert vom 19. Januar 2019 sowie mit Blick auf die enormen Widerstände aus dem Arbeitgeberlager der Beitrag Viele haben die Absicht, Tarifverträge in der Altenpflege allgemeinverbindlich zu erklären (wenn es welche geben würde)? Feuer frei von Seiten der privaten Arbeitgeber vom 30. März 2019.

Aus diesem offensichtlich verminten Gelände wird nun berichtet, dass sich der Bundesrat mit dem Thema beschäftigt hat: Länderinitiative zur Stärkung der Tarifautonomie, so ist der Bericht der Länderkammer überschrieben: »Bremen, Brandenburg, Thüringen, Berlin und Hamburg möchten der zunehmenden Schwächung von Gewerkschaften und dem wachsenden Bedeutungsverlust von Arbeitgeberverbänden entgegenwirken. In einem Entschließungsantrag fordern sie eine Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung. Die Initiative wurde am 17. Mai 2019 im Plenum vorgestellt.« Und weiter erfahren wir: »Im Kern geht es den Ländern darum, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern, über die der Geltungsbereich ein Tarifvertrags auf alle Firmen und Betriebe eines Wirtschaftszweiges sowie die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erweitert wird. So solle insbesondere dafür gesorgt werden, dass Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärungen nicht am Widerstand einer Seite im Tarifausschuss scheitern. Zwar habe der Gesetzgeber die Allgemeinverbindlicherklärung 2014 neugeregelt, ihre Zahlen seien in den letzten Jahren jedoch nicht gestiegen, begründen die Antragsteller ihre Forderung.« Wer ein Blick in das Original dieser Länderinitiative werfen möchte, der wird hier fündig:

➔ Entschließung des Bundesrates „Funktionsschwäche der Tarifautonomie: Problem benennen, Strategie entwickeln, Gestaltungswillen bezeugen“. Antrag der Länder Bremen, Brandenburg, Thüringen, Bundesrat-Drucksache 212/19 vom 09.05.2019.

Dem Antrag der drei Bundesländer liegt eine Problembeschreibung zugrunde, die auf vier Punkte abstellt (Hervorhebungen nicht im Original):

(1) Die Tarifautonomie leidet an einer Funktionsschwäche. Ein System, das die Regelung der Arbeitsbedingungen weitgehend den Sozialpartnern überlässt, funktioniert dann nicht mehr, wenn diese die ihnen vom Verfassungsgeber zugeschriebene Mitverantwortung nicht in ausreichendem Umfang wahrnehmen und die tarifliche Ordnung ihre gestaltende Kraft verliert.

(2) Der verfassungsrechtliche Rang der Tarifautonomie kann eine Untätigkeit des Gesetzgebers nicht rechtfertigen. Es ist nicht nur „irgendein“ Tarifvertragssystem zur Verfügung zu stellen, sondern eines, das seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben auch gerecht wird. Wenn es erforderlich wird, hat der Gesetzgeber den Rahmen entsprechend auszugestalten.

(3) Das Tarifautonomiestärkungsgesetz war wichtig, um dem im Jahr 2014 bereits vorangeschrittenen Bedeutungsverlust der Tarifautonomie – vor allem im Niedriglohnsektor – zu begegnen. Es ist jedoch eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen erforderlich. Dies betrifft insbesondere die Regelungen des Tarifvertragsgesetzes zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.

(4) Korrekturen im Bereich der Allgemeinverbindlichkeit reichen in der gegenwärtigen Situation allein nicht aus. Vielmehr sind die Rahmenbedingungen für Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft insgesamt in den Blick zu nehmen.

Was also tun? Die Bundesregierung, so der Entschließungsantrag, soll „eine Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung“ erarbeiten. Dazu werden Vorschläge unterbreitet, die im Kern auf die angesprochene Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen abstellen sowie auf (mögliche) Anreize, sich in Gewerkschaften (und Arbeitgeberverbänden) zu organisieren.

➔ Wenn an dieser Stelle der eine oder andere die Frage aufwirft, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte (also die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen mit Anreizen, sich zu organisieren), dann schauen wir in die Begründung zu dem Antrag der drei Bundesländer. Dort wird ausgeführt: »Bereits im Jahr 2014 sollte die tarifliche Ordnung durch eine Neuregelung der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragsgesetz mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz abgestützt werden. Ausweislich der Begründung der damaligen gesetzlichen Neuregelung ist es ausdrückliches Ziel gewesen, die Allgemeinverbindlicherklärung „zu erleichtern“ und eine Situation zu überwinden, in der „die Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung gehemmt“ war. In den seither vergangenen Jahren wurde jedoch die Zahl der jährlich vorgenommenen Allgemeinverbindlicherklärungen nicht gesteigert. Im Jahr 1992 wurden 205 Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt, im Jahr 2015 waren es 38; im Jahr 2018 gingen bei den obersten Arbeitsbehörden 26 Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung ein, von denen ein Antrag abgelehnt wurde.« Offensichtlich haben die 2014 vorgenommenen Neuregelungen keinen Effekt gezeigt. Aber es kommt als weiterer Punkt hinzu, »dass das Tarifautonomiestärkungsgesetz ein Dilemma berührt, das seiner Auflösung harrt: Werden wesentliche Arbeitsbedingungen aufgrund gesetzesähnlicher Wirkungserstreckung von Tarifverträgen verbindlich vorgegeben, sinkt auf Seiten der Beschäftigten der Anreiz, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, weiter. Etwas anderes gilt nur dann, wenn derartige Maßnahmen zumindest begleitet werden durch Anreize zum Zusammenschluss in Koalitionen und zur Wahrnehmung der Tarifautonomie, wie sie gedacht ist: Als staatsferne Selbsthilfe der Betroffenen, die ihre Angelegenheiten am besten selbst regeln können.«

Zum Thema Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen findet man in dem Antrag die folgenden Ansätze:

➞ Es solle geprüft werden, »ob es aussichtsreich und zulässig wäre, künftig wieder auf eine gemeinsame Antragstellung beider Tarifvertragsparteien zu verzichten und die Antragstellung durch nur eine Tarifvertragspartei zuzulassen.«
Dazu muss man wissen: Nach der bis zum Jahr 2014 geltenden Fassung reichte es aus, wenn der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung von nur einer der beiden Tarifvertragsparteien gestellt wurde. Diese alte Regelung will man also wiederbeleben.

➞ Es solle geprüft werden, »auf welche Weise unter Beachtung der maßgeblichen Rolle der Sozialpartner im Tarifausschuss gewährleistet werden kann, dass Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung nicht an der einseitigen Blockadehaltung einer Seite scheitern. Insoweit könnte u.a. in Betracht kommen, ein wirksames Veto an eine ablehnende Mehrheit im Tarifausschuss zu knüpfen und in Pattsituationen der obersten Arbeitsbehörde die Entscheidungsbefugnis zu übertragen.«

Diese ersten beiden Punkte verweisen auf das strukturelle Problem, dass durch die gegenwärtige rechtliche Ausgestaltung ein faktisches Arbeitgeber-Veto eingebaut wurde, so dass bei einer wie auch immer motivierten Blockade-Haltung der Arbeitgeber diese nicht überwunden werden kann.

Es geht aber noch weiter. Die Antragsteller wünschen sich eine Präzisierung der (zulässigen) Ziele, die man mit einer Allgemeinverbindlichkeit erreichen möchte. Dazu finden wir im Antrag diese Forderungen:

➞ Es ist – nach dem Vorbild von § 7a Abs. 1 Arbeitnehmer-Entsendegesetz – im Tarifvertragsgesetz klarzustellen, welche Ziele mit einer Allgemeinverbindlicherklärung insbesondere verfolgt und im Rahmen der allgemeinen Abwägung berücksichtigt werden können. Es bedarf einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, dass dazu die Abwendung der Gefahr einer Schädigung tarifvertraglicher Strukturen aufgrund eines Wettbewerbs über die Arbeitsbedingungen gehört.

Und die Reichweite dessen, was über eine AVE abgedeckt und damit für alle Arbeitgeber verbindlich wird, soll umfassend ausgestaltet sein (und beispielsweise nicht nur auf einen Mindestlohn in einer bestimmten Branche und damit „nur“ auf die Festschreibung der Geltung einer Lohnuntergrenze für alle Arbeitgeber begrenzt werden):
➞ Im Tarifvertragsgesetz bedarf es der Klarstellung, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nicht auf untere Entgeltgruppen eines Lohngitters beschränkt ist, sondern sämtliche Tarifvertragsinhalte umfassen kann.

§ 5 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 1 Tarifvertragsgesetz ist dahin zu ändern, dass künftig die maßgebliche Vergleichszahl zur Feststellung „überwiegender Bedeutung“ anhand des tarifvertraglichen Geltungsbereichs zu ermitteln ist, auf den sich der Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit ausdrücklich bezieht. Wird der Antrag mit Einschränkungen hinsichtlich des tarifvertraglichen Geltungsbereiches gestellt, muss diese Einschränkung künftig auch bei Ermittlung der sog. „großen“ Zahl zugrunde gelegt werden.

Und der Vorschlagskatalog der drei Bundesländer wird dann noch abgerundet mit diesem Prüfauftrag: „Anreize für Mitgliedschaft in Koalitionen“ sollen gesetzt werden können:

»Es ist zu prüfen, ob eine nachhaltige und zukunftsträchtige Stärkung der Tarifbindung durch Setzung von Anreizen zum mitgliedschaftlichen Zusammenschluss in Koalitionen erreicht werden kann. Insoweit sind insbesondere aktuelle Vorschläge der Wissenschaft zur steuerlichen Freistellung tarifgebundenen Arbeitsentgelts zu berücksichtigen.« So steht das im Antrag. Was damit genauer gemeint ist, kann man in diesem Beitrag vom 21. Dezember 2018 ausführlicher nachlesen: Die Besserstellung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer in einem Tarifvertrag ist verfassungsrechtlich zulässig.

Ganz offensichtlich adressiert der Entschließungsantrag der drei Bundesländer offensichtliche Regelungslücken, wenn man vom Ziel der Sinnhaftigkeit einer Ausweitung der Allgemeinverbindlicherklärungen ausgeht.

Und was passiert nun mit diesen Forderungen und Vorschlägen? Dazu berichtet der Bundesrat selbst: »Nach der Vorstellung im Plenum ging die Initiative in die Ausschüsse. Sobald diese abschließend beraten haben, kommt der Entschließungsantrag zur Abstimmung zurück ins Plenum.«

Da werden wir also warten und weiter beobachten, ob das zu etwas führen oder aber in den unendlichen Weiten des Parlaments verloren gehen wird.