Schlagzeilen-Politik und die Notwendigkeit, genauer hinzuschauen: Rumänen und Bulgaren in Hartz IV – und auf dem deutschen Arbeitsmarkt

Es ist ja eine Binsenweisheit: Mit Schlagzeilen macht man Politik – vor allem, wenn man berücksichtigt, dass viele Leser oftmals über die Headline nicht hinauskommen bzw. diese bewusst-unbewusst als zentrale Botschaft mitnehmen auf ihrem weiteren Lebensweg. Die BILD-Zeitung beherrscht dieses Metier – gleichsam potenziert mit einer entsprechenden Schriftgröße – wie kaum eine andere Zeitung, aber die gerne seriöser daherkommenden Ableger des Springer-Konzerns können das auch. Ein Beispiel: Zahl der Hartz-IV-Bezieher aus Bulgarien und Rumänien hat sich verdreifacht, so ist ein Artikel der WELT überschrieben. Schafft man es dann noch unter die Überschrift, dann wird man mit dieser Botschaft versorgt: »Von einer gezielten Einwanderung ins Sozialsystem will ein Migrationsforscher nicht sprechen. Dennoch beziehen heute deutlich mehr Bulgaren und Rumänen in Deutschland Hartz IV als noch vor fünf Jahren.« Und so mancher Leser wird sich bestätigt fühlen.

Denn seien wir ehrlich: Wenn man die Bürger befragen würde, was sie mit Rumänen und Bulgaren assoziieren, dann werden viele antworten: „Problemhäuser“ im Ruhrgebiet und einigen anderen Städten, „Armutszuwanderung“, „Kindergeld-Missbrauch“, um nur einige zu nennen. Nur sehr wenigen wird möglicherweise einfallen, dass tausende Ärzte und Ärztinnen aus diesen beiden Armenhäusern der EU in deutschen Krankenhäusern den Laden mit am Laufen halten. Und dass viele Produkte des primären Sektors wie Spargel und andere Leckereien niemals ohne die Saisonarbeiter aus diesen Ländern den deutschen Boden verlassen würden.

Aber schauen wir uns zuerst einmal den weiteren Gang der Berichterstattung an: »Fünf Jahre nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Bulgaren und Rumänen hat sich einem Zeitungsbericht zufolge die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus diesen Ländern auf gut 150.000 mehr als verdreifacht … Die Quote der Hartz-IV-Bezieher aus Bulgarien und Rumänien ist dem Bericht zufolge damit seit Ende 2013 um gut 2,6 Prozentpunkte auf derzeit knapp zwölf Prozent der erwerbsfähigen Menschen aus diesen Ländern gestiegen. Unter den Zuwanderern aus den 28 EU-Ländern insgesamt beziehen demnach dagegen nur knapp acht Prozent Arbeitslosengeld II.«

Der Artikel bezieht sich auf einen anderen Artikel, aus der Rheinischen Post, und der ist so und bereits in der Headline mit einer „etwas“ anderen Ausrichtung überschrieben: Mehr Osteuropäer bekommen Hartz IV – noch mehr einen Job: »Fünf Jahre nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Bulgaren und Rumänen hat sich die Zahl der Hartz.IV-Empfänger aus diesen Ländern mehr als verdreifacht. Sie stieg von rund 45.000 Ende 2013 bis November 2018 auf gut 150.000, wie aus neuen Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht. Noch stärker nahm in den fünf Jahren der Arbeitnehmerfreizügigkeit aber die Zahl der in Deutschland beschäftigten Bulgaren und Rumänen zu: Sie stieg von gut 130.000 im Dezember 2013 auf deutlich über eine halbe Million Ende 2018. Die Beschäftigung von Bulgaren und Rumänen hat sich damit in nur fünf Jahren vervierfacht.«

Und der Beitrag wird noch genauer: »Noch aussagekräftiger als die absoluten Zahlen sind die Quoten. Wie aus Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur hervorgeht, kletterte die Quote der Hartz-Bezieher aus Bulgarien und Rumänien seit Ende 2013 um gut 2,6 Prozentpunkte auf heute knapp zwölf Prozent der erwerbsfähigen Menschen aus diesen Ländern. Unter den Ausländern aus den 28 EU-Ländern insgesamt beziehen dagegen nur knapp acht Prozent das Arbeitslosengeld II. Gleichzeitig ist aber die Beschäftigungsquote – der Anteil der Erwerbstätigen unter allen erwerbsfähigen Bulgaren und Rumänen in Deutschland – um eindrucksvolle 25 Prozentpunkte auf heute 60 Prozent in die Höhe geschnellt. Unter den Ausländern aus allen EU-Ländern sind dagegen nur 55 Prozent beschäftigt.«

Die BA-Daten zeigen, dass der Zugewinn an neuen Arbeitskräften in den fünf Jahren weitaus größer war als der Anstieg an Sozialleistungsempfängern. Die schnelle Integration Hunderttausender Bulgaren und Rumänen in den Arbeitsmarkt „ist eine absolute Erfolgsgeschichte und in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einmalig“, wird der IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker zitiert. Sie seien vor allem im Dienstleistungssektor, in der Bau- und in der Landwirtschaft tätig.

Wer sich die Zahlen genauer anschauen möchte, der wird hier fündig:

➔ Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Ehsan Vallizadeh (2019): Zuwanderungsmonitor Februar 2019, Nürnberg 2019

Wire immer im Leben ist eine Differenzierung notwendig. So wird darauf hingewiesen, dass der Migrationsforscher Brücker für eine differenzierte Betrachtung plädiert, da man zur Kenntnis nehmen muss, »dass zugleich die Zahl der Hartz-IV-Bezieher vor allem aus Bulgarien deutlich gestiegen ist. „Wir müssen zwischen Rumänen und Bulgaren unterscheiden: Während heute nur sieben Prozent der erwerbsfähigen Rumänen Hartz IV beziehen, sind es bei den Bulgaren fast 22 Prozent“, sagte Brücker. Ende 2013 lag der Anteil der Hartz-IV-Bezieher unter den erwerbsfähigen Bulgaren dagegen erst bei knapp 14 Prozent. „Bei den Bulgaren haben wir eine Polarisierung: Da gibt es gut integrierte Gruppen – aber andererseits auch eine Gruppe, die dauerhaft nicht in den Arbeitsmarkt integriert ist“, sagte der IAB-Forscher. Viele dieser Menschen seien zwar schon vor der Freizügigkeit in Deutschland gewesen, hätten jedoch damals noch keine Sozialleistungen bezogen. „Jetzt aber sind sie im Hartz-IV-Bezug.“

»Dass heute über 60 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung aus Bulgarien und Rumänien einer Beschäftigung nachgehen, ist eine Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt – von der viele bisher noch gar nichts wissen«, kommentiert Birgit Marschall ebenfalls in der Rheinischen Post unter der Überschrift Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt. »Heute arbeiten rund 1,5 Millionen Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern in Deutschland. Sie füllen Lücken, lindern den Fachkräftebedarf und zahlen Steuern und Beiträge. Bereits über eine halbe Million von ihnen stammen aus Bulgarien und Rumänien, dabei wurde der Arbeitsmarkt für sie erst vor fünf Jahren geöffnet … die öffentliche Diskussion wird weiterhin beherrscht von der Annahme, gerade aus Rumänien und Bulgarien seien besonders viele ins deutsche Sozialsystem eingewandert. Tatsächlich hat sich die Zahl der Hartz-IV-Bezieher aus beiden Ländern in den fünf Jahren Arbeitnehmerfreizügigkeit verdreifacht. Bezogen auf die rumänische und bulgarische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nahm sie aber nur um 2,6 Prozentpunkte zu. Der Anstieg machte damit nur ein Zehntel des Beschäftigungszuwachses aus.«

Auch Marschall plädiert für eine Differenzierung und schreibt: »Während die Rumänen zu den am besten in den Arbeitsmarkt integrierten Ausländergruppen gehören, gibt es unter den erwerbsfähigen Bulgaren einen hohen Anteil an Hartz-IV-Beziehern von fast einem Viertel.« Das ist richtig – was aber an dieser Stelle auch in anderen Berichten nie erwähnt wird ist die Tatsache, dass das ja nicht unbedingt die „Schuld“ der betroffenen Arbeitnehmer ist, sondern dahinter stehen teilweise extrem ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse von in Deutschland agierenden Arbeitgebern. Diese Seite der Beschäftigungsmedaille darf man nicht ausblenden. Ansonsten bleiben die wahren Profiteure immer im Dunkeln.

Das Fazit von Marschall geht so: »Dringende Aufgabe der Regierungen und Parteien ist es, Vorurteile und Behauptungen von Rechtspopulisten über Migranten systematisch durch Fakten zu widerlegen. In Wahrheit erledigen in Großbritannien wie auch in Deutschland Arbeitnehmer aus Osteuropa typischerweise die anstrengenden und gering bezahlten Jobs am Bau, in der Landwirtschaft oder im Handel, für die sich Deutsche oder Briten zu schade sind. Der Zugewinn der Volkswirtschaften durch die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration und mehr Steuer- und Beitragszahler aus Osteuropa ist um ein Vielfaches höher als die Kosten für zusätzliche Sozialausgaben.«