Ein (angeblich) stabiles Integrationsklima in Deutschland. Und die Umrisse eines Einwanderungsgesetzes

»Nicht nur die Ereignisse in Chemnitz, auch Alltagsdebatten, Medienberichte und die Einschätzungen von Teilen der Politik etwa im Bundestag lassen den Eindruck entstehen, um das Integrationsklima in Deutschland sei es nicht zum Besten bestellt. Doch eine wissenschaftliche Studie liefert den gegenteiligen Befund. Seit 2010 untersucht der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), wie es um die Erwartungen und die Urteile der Bevölkerung zu Themen bestellt ist, die mit Integration und Migration zusammenhängen. Jährlich gibt der SVR ein Jahresgutachten heraus«, berichtet Uwe Kalbe in seinem Artikel Integration gehört zu Deutschland. Bestandteil der Jahresgutachten ist das alle zwei Jahre in einer repräsentativen Studie ermittelte Integrationsbarometer. Der Sachverständigenrat selbst fasst die neuen Befunde, die aus einer telefonischen Befragung von 9.300 Personen resultiert (vgl. dazu auch den Methodenbericht zum Integrationsbarometer), so zusammen:

»Neben den Einschätzungen zum Integrationsklima in Deutschland wurden auch die Haltungen zu Flüchtlingen erhoben. Darüber hinaus wurde ermittelt, welche Faktoren aus Sicht der Befragten wichtig sind, um in Deutschland Erfolg zu haben, und wie die Frage des Kopftuchs in Schulen und Behörden bewertet wird.
Das SVR-Integrationsbarometer zeigt: Das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft wird überwiegend positiv wahrgenommen und zwar in allen Bevölkerungsgruppen. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die kulturelle Vielfalt im Alltag erfahren. Eingetrübt hat sich das Integrationsklima in den Jahren 2016 und 2017 dort, wo der Integrationsalltag nicht persönlich erlebt wird. Die Haltungen zu Flüchtlingen sind differenziert: Die meisten Befragten mit wie ohne Migrationshintergrund sind im Grundsatz weiterhin dafür, Flüchtlinge aufzunehmen. Gleichzeitig meint die Mehrheit, dass der Zuzug von Flüchtlingen begrenzt werden muss. Ob es Muslimas in Schulen und Behörden erlaubt sein soll, ein Kopftuch zu tragen, ist weiterhin umstritten. Muslimische Zuwanderer und Zuwanderinnen sind überwiegend dafür. Die Mehrheitsbevölkerung dagegen sieht das besonders an Schulen kritisch.« Die Langfassung des Integrationsbarometers ist so überschrieben: Stabiles Klima in der Integrationsrepublik Deutschland. Dass die Diskussion über Flüchtlinge den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig gefährdet habe, sei aus den Ergebnissen nicht herauszulesen, so die positive Botschaft der Wissenschaftler.

Uwe Kalbe berichtet weiter über einige Befunde aus dem Intragtionsbarometer: »Integration wird im Alltag also deutlich positiver beurteilt, als man annehmen könnte. Eine Mehrheit findet, dass Flüchtlinge positiv zur wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands beitragen werden, eine Mehrheit findet, dass Deutschland weiterhin Flüchtlinge aufnehmen sollte. Gleichzeitig ist eine Mehrheit von 57 Prozent der Deutschen (ohne Migrationshintergrund) für eine Begrenzung der Zahl der Zuwanderer. Skeptischer als andere blicken Ostdeutsche und Männer im Westen Deutschlands auf das Thema.
Interessant ist, dass unter den Migranten in Deutschland Spätaussiedler am skeptischsten auf Zuwanderung blicken. Beispielsweise sind sie mehrheitlich und über die Werte anderer Gruppen hinaus überzeugt, dass Flüchtlingszuzug die Kriminalität erhöht. Und mehrheitlich dagegen, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.
Als wichtigsten Grund für eine misstrauische Haltung haben die Forscher mangelnden Kontakt zu Zuwanderern identifiziert. Im Osten des Landes wirke dieser Effekt am deutlichsten, weil hier anteilmäßig die wenigsten Menschen mit Migrationshintergrund leben.«

Aber das Jahresgutachten 2018 hat einen weit über die Bestandsaufnahme von Stimmungen und Einstellungen hinausreichenden Anspruch, was man auch schon an dem Titel erkennen kann:

➔ Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2018): Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten? Jahresgutachten 2018, Berlin, September 2018

Die besondere Stoßrichtung des diesjährigen Jahresgutachtens wird in dieser Überschrift eines Beitrags von Panajotis Gavrilis im Deutschlandfunk erkennbar: Sachverständigenrat befürwortet Einwanderungsgesetz: »Für den Sachverständigenrat, dem neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angehören, ist klar: Der Staat sollte Zuwanderung und Integration gestalten. Zum Beispiel über ein neues Einwanderungsgesetz.«

Der Sachverständigenrat hat seine zentralen Aussagen in mehreren Kernbotschaften verdichtet. Sieben, um genau zu sein – die zugleich auch die Tiefen und Untiefen anzuleuchten vermögen, die mit einem Einwanderungsgesetz verbunden sind:

1.) Einwanderungs- und Integrationsgesetze dienen (auch) der gesellschaftlichen Selbstverständigung: »Jenseits der konkreten Steuerungsfunktion haben solche Gesetze eine Signal- und Symbolwirkung, und gerade darin kann ihr Wert liegen. Dem Begriff der symbolischen Politik haftet ein negativer Beigeschmack an – zu Unrecht. Gerade in Politikfeldern wie Migration und Integration, die politisch sensibel sind und gesellschaftlich oft sehr emotional diskutiert werden, können und dürfen sich staatliche Aktivitäten nicht darin erschöpfen, einfach einen widerspruchsfreien rechtlichen Rahmen bereitzustellen. Vielmehr gilt es, die Bevölkerung einzubinden und über das Thema parlamentarisch wie öffentlich zu diskutieren.« Der (erhoffte) „Prozess der Reflexion und Selbstvergewisserung“ sei „auch notwendig, schließlich ist Deutschland auf gesteuerte Migration angewiesen, schon aus demografischen Gründen.“

2.) Ein Einwanderungsgesetz schafft Übersicht über Zuwanderungsoptionen und hat Signalfunktion nach außen und innen: »Über die Jahre ist aus den verschiedenen Normen zu Einwanderung ein wahrer Dschungel aus verschiedenen Gesetzen und Verordnungen geworden. Ein Einwanderungsgesetz könnte diesen ein Stück weit lichten und neu ordnen.« Der Sachverständigenrat spricht sich für ein »Einwanderungsgesetzbuch (EGB) aus. Ein Vorbild dafür könnte das Sozialgesetzbuch (SGB) sein, das die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung in jeweils eigenen Büchern regelt. In ähnlicher Weise könnte ein EGB jeweils die verschiedenen Wege zusammenstellen, auf denen Drittstaatsangehörige nach Deutschland kommen können.«

3.) Die Zuwanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte sind gut, die für beruflich Qualifizierte sollten dagegen ausgebaut werden: »Die hiesigen Zuwanderungsregelungen für hoch qualifizierte Fachkräfte gehören mittlerweile zu den liberalsten weltweit. Weitreichende Reformen für diese Gruppe hält der SVR entsprechend für unnötig … Im Bereich der beruflich qualifizierten Fachkräfte sollten die Zuwanderungsmöglichkeiten dagegen erweitert werden.«

4.) Ein flexiblerer Umgang mit dem Gleichwertigkeitskriterium kann es beruflich Qualifizierten erleichtern, nach Deutschland zu ziehen: »Zuwanderungswillige müssen schon vor der Einreise nachweisen, dass eine im Ausland erworbene Berufsausbildung deutschen Standards entspricht. Dies hat sich als zentrale Zuzugsbarriere für beruflich qualifizierte Fachkräfte erwiesen. Hier steht Deutschland vor einem Dilemma: Einerseits will es aus nachvollziehbaren Gründen nicht ohne Weiteres auf seine Ausbildungsstandards im Bereich der beruflichen Ausbildung verzichten, die international bewundert werden. Andererseits sind genau diese Ausbildungswege in wichtigen Herkunftsländern von Zuwandernden kaum ausgeprägt.« Der SVR schlägt nun drei Optionen vor, mit denen sich das Dilemma auflösen oder zumindest erheblich reduzieren ließe: <<
➞  Erstens könnten Ausbildungskooperationen geschlossen werden, um deutsche Ausbildungsstandards in den Herkunftsländern der Zukunft stärker zu verankern.
➞  Zweitens könnten die bereits bestehenden Möglichkeiten für Drittstaatsangehörige erweitert werden, für eine Ausbildung einzuwandern. Damit würden im Bereich der Ausbildung Zuzugsmöglichkeiten geschaffen, die denen im Bereich der Hochschulbildung entsprechen.
➞  Drittens empfiehlt der SVR, die Nachweispflicht in Bezug auf die Gleichwertigkeit einer im Ausland erworbenen Qualifikation flexibler zu gestalten; dies könnte das Herzstück einer Reform der erwerbsmigrationspolitischen Rahmenbedingungen sein.

Was meinen die genau mit Herzstück einer Reform der erwerbsmigrationspolitischen Rahmenbedingungen?

»Als Grundlage für eine Neuregelung sollte das „Nimm 2+“-Modell dienen: Danach könnte die Gleichwertigkeitsvoraussetzung durch eine Kombination anderer Kriterien ersetzt werden (z. B. Sprachkenntnisse, ein finanzielles Kriterium oder die Ausbildung in einem Mangelberuf). Eine Fachkraft könnte dann auch ohne Gleichwertigkeitsnachweis einreisen, wenn sie in Deutschland eine Arbeitsstelle gefunden hat, sofern sie zwei oder mehr alternative Qualifikationskriterien geltend machen kann. Dies wäre ein sinnvoller Mittelweg zwischen dem Status quo, dass das Gleichwertigkeitskriterium im deutschen Recht als Ausschlusskriterium wirkt, und seiner vollständigen Abschaffung.«

5.) Die Politik sollte für realistische Erwartungen an ein Einwanderungsgesetz sorgen. Sie muss Grenzen im Recht und Grenzen des Rechts beachten: Der SVR warnt explizit davor, die Erwartungen an ein reformiertes Einwanderungsrecht zu groß werden zu lassen, denn: »Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass z. B. die im Land gesprochene Sprache oder andere Faktoren, vom Klima bis zum Steuersystem, für die Zuwanderungsentscheidung oft wichtiger sind als das Einwanderungsrecht.« Und noch ein weiterer Punkt: Neben den Grenzen des Rechts gibt es auch Grenzen im Recht: »Hier sind vor allem Vorgaben der Europäischen Union zu beachten, denn das Migrationsrecht ist mittlerweile weitgehend europäisiert. So entziehen sich Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten den Regelungen eines nationalen Einwanderungsgesetzes, da sie Freizügigkeit genießen. Dabei ist gerade diese Zuwanderungsgruppe für Deutschland überaus wichtig, wenn sie auch medial kaum beachtet wird. Auch für Drittstaatsangehörige gibt es mittlerweile einen dichten europarechtlichen Rahmen. Vor allem für den Bereich Flucht und Asyl sowie für hoch qualifizierte Fachkräfte ist Brüssel als Ort der Normsetzung mittlerweile wichtiger als Berlin. Nationale Alleingänge sind damit vielfach ausgeschlossen, die nationale Gesetzgebung hat hier nur noch wenig Spielraum.«

6.) Um Integration zu gestalten, ist eine Anpassung der Regelsysteme wichtiger als spezifische Integrationsgesetze: »Nicht nur der Bund hat im letzten Jahr ein Regelwerk erlassen, das als Integrationsgesetz bezeichnet ist (de facto ist es freilich eher ein neues Asylpaket). Auch mehrere Bundesländer haben in den letzten Jahren spezifische Integrationsgesetze verabschiedet; weitere wollen nachziehen. Eine andere Option bilden Integrationskonzepte, die vor allem auf Länder- und kommunaler Ebene genutzt werden.« Man sollte aber die Wirkungen von Gesetzen nicht überschätzen: »Vielmehr müssen hier Dienstleistungen bereitgestellt werden, vor allem Kurse, Qualifizierungsprogramme oder Beratungs- und Betreuungsangebote.«

7.) Kommunen leisten entscheidende Arbeit für die Integration. Den Flüchtlingszuzug haben sie insgesamt gut gemeistert; zu verbessern ist die Koordination: Die Kommunen haben »gewisse Gestaltungsspielräume, die sie unterschiedlich nutzen können.« Hinzu kommt, dass «Kommunen auch eigenständig integrationspolitisch tätig (sind); z. B. entwickeln sie zum Teil sehr umfassende Integrationskonzepte.« Und die Kommunen haben eine besondere der Rolle bei der Herstellung einer „identifikativen Integration.“

Diese sieben Bausteine und viel mehr werden in der Langfassung des Gutachtens ausführlich behandelt.