Keiner da? Betriebe ohne irgendeinen Bewerber für einen Ausbildungsplatz und zugleich das Geraune über das Wieder-Einmal-Ende der Erwerbsarbeit

Nicht wenige Menschen werden denken, dass wir in höchst merkwürdigen Zeiten leben. Da wird zum einen unter der neuen großen Erzählung von den großen Umbrüchen durch die Digitalisierung und Roboterisierung die Schreckensbotschaft unters Volk gebracht, dass Millionen Menschen ihren Job verlieren werden, weil sie überflüssig geworden sind oder werden. Und man sich deshalb schnellstmöglich Gedanken machen muss über grundsätzliche Alternativen wie der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. So beispieslweise der medial sehr präsente Philosoph Richard David Precht. Er sieht die Industriestaaten an der Schwelle zu einem „zweiten Maschinenzeitalter“. Precht rechnet damit, „dass in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren enorm viele Menschen ihre Jobs verlieren“. Der Sozialstaat werde mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein. In seinem aktuellen Buch „Jäger, Hirten, Kritiker“ plädiert Precht deshalb für ein bedingungsloses Grundeinkommen, um Armut zu bekämpfen und Menschen mehr persönliche Freiräume zu verschaffen. Das bleibt nicht unwidersprochen: Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hält das Grundeinkommen dagegen für einen Irrweg: Es sei weder sozial noch gerecht, sondern stehe für eine „Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip“. Lebensrisiken wie Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit ließen sich auf diese Weise nicht absichern, so Butterwegge, denn bei einem Grundeinkommen bleibe die Lebenssituation und der individuelle Bedarf eines Leistungsempfängers unberücksichtigt. Beide sind in diesem Gespräch aufeinander gestoßen: Ein besseres Leben für alle oder das Ende des Sozialstaats?

Auf der anderen Seite kann man nicht nur der Medienberichterstattung entnehmen, dass aus vielen Bereichen Land unter gemeldet wird, wenn es um Arbeitskräfte geht. Das schlichtweg keine mehr gefunden werden. Das ist in bestimmten Branchen, aber auch Regionen ein echtes Problem, auch wenn der Diskurs über einen „Fachkräftemangel“ sehr differenziert geführt werden muss und man nicht vorschnell immer vorhandenen Arbeitgeber-Klageliedern auf den Leim gehen sollte. 

Das, was dem einen oder anderen als großer Widerspruch daherkommt, erscheint in einem verständlicheren Licht, wenn man berücksichtigt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt Zeugen werden eines realen Umbruchs der Angebots- und Nachfrageverhältnisse. Wo es früher immer zu viele gab auf der Angebotsseite, da muss man nunmehr immer öfter feststellen, dass weniger oder zuweilen gar keiner mehr da ist. Das hat wir alles auf den Arbeitsmärkten komplexe Ursachen, die sich nicht auf eine Quelle eindampfen lassen. Da wären demografische Effekte zu nennen – bereits seit mehr als zehn Jahren gehen auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Schnitt mehrere hundertausend Menschen mehr in den Ruhestand, als unten jüngere nachwachsen. Das ist die Größenordnung einer Großstadt, Jahr für Jahr. Auch hier wird der eine oder andere einwerfen, dass das doch irgendwie nicht stimmen kann, denn werden nicht seit einigen Jahren immer wieder Rekordmeldungen die Beschäftigung betreffend verkündet? Das ist aber kein Widerspruch, wenn man weiß, dass die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen, hierunter vor allen der Mütter mit kleinen Kinder, der spätere Rentenübertritt der Arbeitnehmer (auch bedingt durch die mittlerweile gegebenen rentenrechtlichen Sanktionen eines vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand, die nur vorübergehend aufgehalten wurden durch die Rente mit 63) und natürlich die Zuwanderung nach Deutschland insgesamt, also nicht nur bezogen auf die Flüchtlinge, diesen Demografieeffekt bislang ausgleichen bzw. überkompensieren konnten.

Aber der demografisch bedingte Abgang von den Arbeitsmärkten wird sich in den vor uns liegenden Jahren noch weiter beschleunigen, denn die geburtenstarken Jahrgänge stehen in den kommenden Jahren erst noch vor dem Wechsel in den Ruhestand. Und bei den Kompensationsvorstellungen durch andere Effekte wie Verhaltensänderungen und Zuwanderungen sollte man nicht vergessen, dass eine quantitative nicht auch einer qualitativen Kompensation entsprechen muss, denn natürlich sind unter denen, die derzeit und  in den kommenden Jahren die Erwerbsarbeitswelt verlassen werden, viele Facharbeiter, Handwerker und andere spezifisch qualifizierte Arbeitskräfte, die man alle ersetzen muss, wenn man die Betriebe am laufen halten will. Und dann reden wir noch nicht von Wachstum in bestimmten Tätigkeitsfeldern. Die große Welle an altersbedingten Personalabgängen wird für die Jahre ab 2020 erwartet. Momentan gehen jährlich etwa 700.000 Jugendliche von den Schulen ab, dem gegenüber treten etwa eine Million Arbeitnehmer in die Rente ein. Ab 2020, so die Prognose, werde diese Differenz auf 500.000 anwachsen.

Und die manchen irritierende Gleichzeitigkeit bzw. die Überlagerung scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen des „zu viel“ und „zu wenig“ lässt sich bereits seit längerem im Bereich der Berufsausbildungen beobachten, vor allem hinsichtlich der für das deutsche Arbeitsmarktsystem so wichtigen der dualen (und fachschulischen) Ausbildungen. Noch vor einigen Jahren wurde händeringend nach zusätzlichen Ausbildungsplätzen gesucht, um die jungen Menschen ausreichend versorgen zu können. Das ist aber für viele nicht gelungen, was mit erklären kann, dass wir heute in der Gruppe der 20- bis 30 jährigen hunderttausende Menschen haben, die keinen Berufsabschluss haben.

Gleichzeitig haben wir seit einigen Jahren immer stärker einen Diskurs, der zugespitzt wird auf die Behauptung eines flächendeckenden „Azubimangels“. Da muss man natürlich genau hinschauen und differenzieren, denn das gilt nicht generell, sondern die dahinter stehenden Ungleichgewichte sind a) branchenbezogen, b) berufsfeldbezogen und c) regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das wurde ausführlich bereits in diesem Beitrag vom 24. März 2018 erörtert: Die Gleichzeitigkeit des Mangels an „zu wenigen“ und „zu vielen“ jungen Menschen. Eine Exkursion in den nicht vorhandenen „Ausbildungsmarkt“ und seine Folgen am Beispiel von Berlin.

Und nun erreichen uns erneut Hiobsbotschaften das klassische Ausbildungssystem betreffend: Einen bedrückenden Rekord verzeichnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in seiner neuen Ausbildungsumfrage: 34 Prozent der Unternehmen konnten 2017 ihre Lehrstellen nicht besetzen – nach Worten von DIHK-Präsident Eric Schweitzer der „höchste jemals in unserer Ausbildungsumfrage ermittelte Wert“. Das berichtet der DIHK unter der Überschrift DIHK-Ausbildungsumfrage: 17.000 Betriebe ohne Bewerbung. Die Ergebnisse der Ausbildungsumfrage des DIHK gibt es hier im Original:

➔ Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) (2018): Ausbildung 2018. Ergebnisse einer DIHK-Online- Unternehmensbefragung, Berlin 2018

Jan Schwenkenbecher hat sich das auch angeschaut und seinen Artikel dazu unter die Überschrift Tausende Unternehmen erhalten nicht eine einzige Bewerbung gestellt: »Der Umfrage zufolge fanden im Jahr 2017 ganze 34 Prozent aller Unternehmen keinen Auszubildenden für ihre ausgeschriebenen Stellen. Das sind drei Prozent mehr als im Vorjahr, ist der höchste jemals erhobene Wert und setzt den Trend unbesetzter Ausbildungsstellen fort: Blieben 2007 noch 15 Prozent der Stellen unbesetzt, waren es 2012 schon 22 Prozent. Im Osten lag die Zahl mit 46 Prozent deutlich über den 32 Prozent in Westdeutschland.«

Hochgerechnet erhielten 17.000 Unternehmen auf ihre offenen Stellen keine einzige Bewerbung – auch das ist ein Rekordwert (+10 Prozent gegenüber dem Vorjahr).

Es gibt durchaus Bewegung hinsichtlich der Rekrutierung neuer Azubis, nicht nur, aber eben auch aus der Not heraus: Immerhin sei es 2017 nicht nur gelungen, trotz rückläufiger Schülerzahlen wieder mehr Ausbildungsverhältnisse zu schließen, sondern auch, mehr Studienabbrecher und mehr Abiturienten für eine duale Ausbildung zu gewinnen, so der DIHK. Und auch die Flüchtlinge spielen eine Rolle. Zu beiden Punkten schreibt Schwenkenbecher:

»Zunehmend werben die Unternehmen … um die jährlich etwa 140.000 Studienabbrecher, fast die Hälfte der Befragten gab an, dies zu tun. Scheinbar mit Erfolg, denn begannen 2008 nur 22 Prozent der Studienabbrecher eine Ausbildung, waren es im vergangenen Jahr mit 43 Prozent fast doppelt so viele.
Besonders stark gestiegen ist auch die Zahl der Unternehmen, in denen Flüchtlinge eine Ausbildung absolvieren. Mit 14 Prozent hat sich die Zahl verdoppelt, im Vorjahr waren es lediglich sieben Prozent. Damit befinden sich derzeit etwa 20 000 Flüchtlinge in einer IHK-Ausbildung. Ein weiteres „sehr gutes Ergebnis“, so steht es im Ergebnisbericht der Umfrage, sei die gekürzte Übergangsdauer – die Zeit also, die Flüchtlinge benötigten, bis sie eine Ausbildung im Betrieb aufnehmen konnten. Zuletzt dauerte dies im Durchschnitt 19,3 Monate, 2016 waren es noch etwa 22 Monate.«

Die Frage nach den Ursachen für die Besetzungsprobleme sind höchst komplex. Die größten „Ausbildungshemmnisse“ seien unklare Berufsvorstellungen vieler Schulabgänger und zu weite Wege zur nächsten Berufsschule, so der DIHK.

Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit diesen Fragen. So wurde vor kurzem diese Studie veröffentlicht:

➔ Mona Granato et al. (2018): Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt. Eine vertiefende Analyse für Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung, 2018

Ein Befund aus dieser Studie, der ein bedeutsames Dilemma benennt: »Der Ausbildungsmarkt in Nordrhein-Westfalen ist durch wachsende Passungsprobleme gekennzeichnet. Während immer mehr Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können, verharrt die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz auf hohem Niveau. Mit Bezug auf die Wert-Erwartungs-Theorie, Berufswahltheorien und die Identitätspsychologie wird untersucht, warum Jugendliche Ausbildungsangebote nicht nutzen. Die empirische Basis bilden neben amtlichen Statistiken Befragungen durch das Bundesinstitut für Berufsbildung. Demnach beurteilen die Jugendlichen Ausbildungsberufe primär danach, ob diese ihre soziale Identität stärken. Berufen, in denen traditionell viele Personen mit niedrigen Schulabschlüssen arbeiten, unterstellen sie, dies nicht leisten zu können, zumal sie selbst immer häufiger über höhere Schulabschlüsse verfügen. Somit bleiben gerade in jenen Berufen viele Ausbildungsangebote ungenutzt, die auch schulisch Leistungsschwächeren Chancen bieten.«

Und das ist wohlgemerkt nur ein Befund von vielen zu einem höchst komplexen Thema. Das uns in den kommenden Jahren stark beschäftigen wird.