Wenn untere Richter gegen obere Richter rebellieren und die dann von den Richtern noch weiter oben runtergeholt werden: Sachgrundlose Befristungen und das Bundesverfassungsgericht

Eigentlich ist es ganz einfach: Es gibt befristete Arbeitsverträge in zwei Varianten. Der „Normalfall“ einer Befristung wäre beispielsweise der Tatbestand, dass eine Mitarbeiterin in die Elternzeit geht und für den Zeitraum, in dem sie ausfällt, wird ein anderer Arbeitnehmer befristet eingestellt, denn nach Ablauf der Elternzeit hat die zeitweilig ausgestiegene Mitarbeiterin einen Anspruch auf Rückkehr in das Unternehmen und der Vertretungsbedarf entfällt wieder. So eine Befristung wäre eine „mit Sachgrund“. Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit und die stand in den vergangenen Monaten im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte: die „sachgrundlosen Befristungen“. Die kann man nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) bislang bis zu einer Dauer von zwei Jahren machen, innerhalb dieser zwei Jahre ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung möglich, so der § 14 Abs. 2 TzBfG. Dann ist aber Schluss, denn dem Gesetz kann man entnehmen: »Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.«

Nun sollte man meinen, dass das eindeutiger nicht formuliert werden kann. Und dass man darüber nicht weiter diskutieren muss.

Eine Ausnahme von diesem Verbot einer erneuten sachgrundlosen Befristung ist im Gesetzestext nicht erkennbar. Dort gibt es nur eine „Öffnungsklausel“, aber die bezieht sich nicht auf eine spätere erneute sachgrundlose Befristung bei demselben Arbeitgeber: »Durch Tarifvertrag kann die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von Satz 1 festgelegt werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren.« Das ist eine dieser „tarifdispositiven Regelungen“, die man durchaus sehr kritisch sehen kann, wenn man davon ausgeht, dass Tarifverträge Arbeitnehmer besser stellen sollen als die ohne. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Mit Tarifverträgen fahren Arbeitnehmer besser. Das stimmt (nicht immer). Über „tarifdispositive Regelungen“ und ihre Ambivalenz mit erheblicher Schlagseite vom 2. September 2017.

Aber wie so oft ist es anders gekommen, als man denkt. Denn das Bundesarbeitsgericht hat in den vergangenen Jahren eine Rechtsprechung entwickelt, die das, was man als eindeutig gelesen hat, anders interpretiert. Dazu der kompakte Überblick in dem Beitrag Vorbeschäftigungsverbot bei sachgrundloser Befristung: Die – inzwischen erfolgreiche – Rebellion der Landesarbeitsgerichte von Artur Kühnel, ursprünglich veröffentlicht am 9. Oktober 2017 im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR). Allein schon der Hinweis auf „rebellierende Richter“ macht Lust auf mehr. Kühnel fasst die Entwicklung so zusammen:

»Nach der Rechtsprechung des BAG aus dem Jahr 2011 (Urteil vom 6.4.2011 − 7 AZR 716/09; bestätigt mit Urteil vom 21.9.2011 – 7 AZR 375/10) ist das Vorbeschäftigungsverbot bei sachgrundlosen Befristungen gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zeitlich nicht unbegrenzt. Konkret: Nach Auffassung des BAG steht ein früheres Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers mit demselben Arbeitgeber einer sachgrundlosen Befristung dann nicht entgegen, wenn das Ende des vorangegangenen Arbeitsverhältnisses mehr als drei Jahre zurückliegt.«

Da nun reibt sich der Nicht-Jurist (aber nicht nur der, wie wir gleich sehen werden), erstaunt die Augen. Vor allem, wenn man in das zitierte Urteil vom 6.4.2011 schaut, denn dort konstruieren die obersten Arbeitsrichter einfach mal eine Dreijahresfrist: »Eine Vorbeschäftigung iSv. § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist nicht gegeben, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt. Das ergibt die Auslegung der Vorschrift.« Das nun ist begründungsbedürftig, denn in dem Urteil selbst findet sich nicht nur der Hinweis, dass ein anderer Senat des BAG im Jahr 2003 noch entschieden hatte, dass das Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG keine zeitliche Begrenzung enthalte, sondern ergänzend: »Auch das arbeitsrechtliche Schrifttum interpretiert § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG überwiegend als zeitlich uneingeschränktes, „absolutes“ oder „lebenslanges“ sog. Anschlussverbot.«

Ja und warum dann die Kehrtwende? Der entscheidende Punkt lautet: Die konstruierte Dreijahresfrist ergebe „die Auslegung der Vorschrift“.

»Nach erneuter Prüfung hält der Senat an dem zeitlich völlig uneingeschränkten Verständnis des Verbots der Vorbeschäftigung nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht fest. Unter Berücksichtigung aller Auslegungskriterien ist ein Verständnis der Vorschrift in dem Sinne geboten, dass das Zuvorbeschäftigungsverbot zeitlich eingeschränkt ist. Der Wortlaut und die Gesetzessystematik zwingen zu keiner bestimmten Auslegung. Die Gesetzesgeschichte deutet eher auf ein zeitlich unbeschränktes Verbot der Zuvorbeschäftigung. Dagegen sprechen der Normzweck, Gründe der Praktikabilität und Rechtssicherheit sowie insbesondere verfassungsrechtliche Erwägungen für eine zeitliche Beschränkung des Verbots.«

Der Kern der Auslegung seitens des BAG im Jahr 2011 stellt darauf ab, dass der vom Gesetzgeber verfolgte Normzweck – also die Verhinderung von „Kettenarbeitsverträgen“ – kein lebenslanges Verbot der Vorbeschäftigung erfordere. »Ein solches wäre überschießend. Ein zeitlich unbeschränktes Verbot der Vorbeschäftigung ist zur Verhinderung von „Befristungsketten“ nicht erforderlich. Wenn zwischen zwei Arbeitsverhältnissen ein Zeitraum von mehreren Jahren liegt, kann von „Kettenverträgen“, „Befristungsketten“ oder „aufeinanderfolgenden Arbeitsverhältnissen“ nicht mehr gesprochen werden.«

Diese Auslegung des Bundesarbeitsgerichts blieb nicht unwidersprochen. Kühnel berichtet: »Mit den Landesarbeitsgerichten (LAG) Niedersachsen, Schleswig-Holstein und zuletzt Hessen haben sich weitere LAG bei der sachgrundlosen Befristung gegen das Bundesarbeitsgericht (BAG) gestellt. Nach Ansicht der genannten Landesarbeitsgerichte ist dieses sog. Vorbeschäftigungsverbot entgegen der Rechtsprechung des BAG zeitlich unbegrenzt.«

»Bereits das LAG Baden-Württemberg hat dem BAG gleich in drei Entscheidungen die Gefolgschaft verweigert (Urteil vom 11.8.2016 – 3 Sa 8/16, Urteil vom 13.10.2016 – 3 Sa 34/16, sowie Urteil vom 26.9.2013 – 6 Sa 28/13).
Nun haben auch kurz hintereinander das LAG Niedersachsen (Urteil vom 23.05.2017 – 9 Sa 1304/16) und das LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 27.7.2017 – 4 Sa 221/16) entschieden, dass ein früheres Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers mit demselben Arbeitgeber einer sachgrundlosen Befristung auch dann entgegensteht, wenn das Ende des vorangegangenen Arbeitsverhältnisses mehr als drei Jahre zurückliegt.
Und jüngst hat sich nun auch die 8. Kammer des LAG Hessen in einem vor Kurzem ergangenen Urteil den „Rebellen“ angeschlossen: „In § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist gesetzlich ein zeitlich unbegrenztes Vorbeschäftigungsverbot geregelt. Dieses ist nicht auf frühere Arbeitsverhältnisse beschränkt, die weniger als drei Jahre zurückliegen.“ (Urteil vom 11.07.2017 – 8 Sa 1578/16).«

Das ist schon beeindruckend. Kühnel fasst die Argumentation der „Rebellen“ so zusammen: »Nach Ansicht der LAG ist dieses sog. Vorbeschäftigungsverbot entgegen der Rechtsprechung des BAG zeitlich unbegrenzt. Die LAG und auch die sich zur Linie des BAG überwiegend kritisch äußernde Literatur meinen, dass weder der Wortlaut noch der Zweck oder die Entstehungsgeschichte des Gesetzes ausreichende Anhaltspunkte für eine zeitliche Begrenzung enthalten. Auch seien durchgreifende unions- oder verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein zeitlich unbegrenztes Vorbeschäftigungsverbot nicht ersichtlich.«

Nun könnte man an dieser Stelle auf die Idee kommen, oben sticht eben unten. Dann aber wird einem einfallen, dass das BAG zwar sehr weit oben ist, es aber eine noch höhere Instanz gibt. Das Bundesverfassungsgericht. Und das hat sich nun mit einer Entscheidung zu Wort gemeldet, die man als Bestätigung des Widerstands der rebellierenden unteren Richter lesen muss: Verbot mehrfacher sachgrundloser Befristung im Grundsatz verfassungsgemäß – Auslegung darf klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen, so ist die Pressemitteilung des BVerfG vom 13. Juni 2018 überschrieben.

Jede erneute sachgrundlos befristete Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber ist verboten, so die Verfassungsrichter. »Das ist grundsätzlich mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben vereinbar, denn die Verhinderung von Kettenbefristungen und die Sicherung der unbefristeten Dauerbeschäftigung als Regelbeschäftigungsform trägt der Pflicht des Staates zum Schutz der strukturell unterlegenen Beschäftigten im Arbeitsverhältnis und auch dem Sozialstaatsprinzip Rechnung.«

Und dann gibt es noch eine Klatsche für die Kollegen vom BAG: »Der Senat hat gleichzeitig klargestellt, dass eine – vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene – Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG, die eine wiederholte sachgrundlose Befristung zwischen denselben Vertragsparteien immer dann gestattet, wenn zwischen den Arbeitsverhältnissen ein Zeitraum von mehr als drei Jahren liegt, mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist. Richterliche Rechtsfortbildung darf den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen. Hier hatte sich der Gesetzgeber klar erkennbar gegen eine solche Frist entschieden.«

Allerdings muss man auch hinsichtlich der Entscheidung des BVerfG einschränkend anmerken, dass die Formulierung „jede erneute sachgrundlos befristete Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber ist verboten“ nicht so absolut gilt, wie sie daherkommt, sondern auch das BVerfG macht die Tür einen Spalt auf:

»Unzumutbar ist ein generelles Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber allerdings, wenn und soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist. Das können bestimmte geringfügige Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studienzeit oder der Familienzeit sein, die Tätigkeit von Werkstudierenden oder die lang zurückliegende Beschäftigung von Menschen, die sich später beruflich völlig neu orientieren. Die Fachgerichte können und müssen in solchen Fällen den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken.«

Auf diesem eingezäunten Spielfeld darf sich dann in den kommenden Jahren die „richterliche Rechtsfortbildung“ austoben.

In der Zwischenzeit gibt es schon neues Futter für die Juristen im Befristungsrecht, denn die neue alte Große Koalition hat Veränderungen bei der sachgrundlosen Befristung vereinbart, die nunmehr auch gesetzgeberisch auf den Weg gebracht worden sind. Vgl. dazu meinen Beitrag Die beabsichtigte Einschränkung der sachgrundlosen Befristung und das ewige Dilemma mit den Schwellenwerten vom 20. Februar 2018.