Wenn die Polizei osteuropäische Lkw-Fahrer mit Flugblättern von der Gewerkschaft versorgt, dann muss es schlimm bestellt sein. Aber es geht noch schlimmer bei der Beschaffung von Arbeitskräftematerial

Über die teilweise nur noch als skandalös und menschenunwürdig zu bezeichnenden Zustände, unter denen viele Lkw-Fahrer vor allem aus Osteuropa auf den Straßen ihr Dasein fristen müssen, wird immer wieder in den Medien berichtet. Auch in diesem Blog, so beispielsweise am 30. Juli 2017 unter der Überschrift Von wegen Trucker-Mythos. Die Lkw-Fahrer als letztes Glied einer hoch problematischen Verwertungskette. Und es sind nicht nur die großen Brummis – viele Bürger bekommen tagtäglich unmittelbar Kontakt mit den angeheuerten Hilfstruppen aus osteuropäischen Ländern, mit denen die Paketdienste versuchen, die stetig wachsenden auszuliefernden Mengen zu bewältigen.
Das passiert natürlich deshalb, weil die billigen Arbeitskräfte ein wesentlicher Kostenfaktor in den Geschäftsmodellen der Speditionen und Paketdienste darstellen. Aber halt, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden: Es gibt doch seit 2015 den gesetzlichen Mindestlohn und der sollte doch nun wirklich die schlimmsten Lohndumping-Exzesse verhindern. Und wurde nicht erst vor kurzem die frühe Botschaft vermittelt, dass die EU mit einer neuen Entsenderichtlinie der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Einhalt gebieten will? Dazu der Beitrag Umrisse eines Europas, das schützt und den Arbeitnehmern nicht die kalte Schulter zeigt? Ein Blick auf die sozialpolitischen Ambitionen der EU-Kommission für die europäische Ebene vom 16. März 2018. Aber der eine oder andere wird sich auch daran erinnern: Die bewusst Vergessenen: Die Lkw-Fahrer bleiben bei der Reform des EU-Entsenderechts auf der Strecke vom 26. Oktober 2017.

Werfen wir einen Blick auf die Straße und deren Realität:

»Auf einer deutschen Autobahn hielten Polizisten den tschechischen Lastwagenfahrer Jiri Gabrhel an – und fragten ihn bei der Gelegenheit, wie hoch sein Stundenlohn sei. Zu niedrig, wie er jetzt weiß … „Die Polizisten drückten mir ein Flugblatt in die Hand, auf dem stand, dass ich Anspruch auf den deutschen Mindestlohn habe. Da standen auch die Telefonnummern von deutschen Gewerkschaftern dabei“, berichtete Gabrhel.«

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Mann klagte gegen den Profiteur seiner Arbeit vor dem Bonner Arbeitsgericht (und der Sitz des Arbeitsgerichts wird dem einen oder anderen bereits einen Hinweis darauf geben, um welches Unternehmen es sich handeln könnte) – und das bot ihm einen außergerichtlichen Vergleich an, der dem Betroffenen nachträglich mehr als 10.000 Euro als Entschädigung für entgangenen Lohn eingebracht hat. Offensichtlich wollte man ein Urteil vermeiden, aber der Erfolg des klagenden Lkw-Fahrers hatte den Effekt, den man eigentlich vermeiden wollte: Auch andere betroffenen Fahrer aus der Tschechei haben verstanden, dass man auf diesem Weg vorenthaltenes Geld eintreiben kann. So Kilian Kirchgeßner in seinem Artikel Tschechische Fernfahrer klagen deutschen Mindestlohn ein.

Über den Fall und die Hintergründe wurde bereits im November 2017 in diesem Artikel von Kristiana Ludwig berichtet: Fahrer klagt gegen die Niedriglöhne der Post. Darin auch der Fall des tschechischen Fahrers, damals noch mit einem Pseudonym:

»In einem waldgrünen Kleinbus mit polnischem Kennzeichen schläft Tomasz Mazur auf der Beifahrerbank. Er liegt auf der Seite, mit dem Kopf drückt er zwei Kissen an das Fenster. Auf dem Armaturenbrett liegt ein Tablet, damit schaut er abends fern. Auf einem Gaskocher bereitet er Essen zu. Das hier ist sein Leben und zugleich sein Arbeitsplatz. Drei Wochen von jedem Monat verbringt er hier. Draußen leuchten die Lampen eines Berliner Möbelhauses, auf dessen Parkplatz er steht. Und die der Deutschen Post AG – in deren Auftrag er arbeitet.
Mazur sorgt dafür, dass Briefe aus Berlin innerhalb eines Tages ihren Empfänger in einem anderen Teil Deutschlands erreichen. Er verdient damit umgerechnet 850 Euro im Monat. Das ist nicht einmal die Hälfte von dem, was ein angestellter Post-Fahrer verdient. Außerdem ist es weniger als der gesetzliche Mindestlohn.
Etwa die Hälfte aller Fahrer, die für die Deutsche Post Briefe und Pakete befördern, das schätzt die Gewerkschaft Verdi, seien keine direkten Angestellten des Konzerns. Rund 3000 von ihnen arbeiteten demnach für „Servicepartner“, wie sie die Post nennt. Für unterschiedliche Spediteure mit Sitz in ganz Deutschland und Osteuropa. Tomasz Mazur ist einer von ihnen, er ist hinter der polnischen Grenze zu Hause, sein Chef ist Pole. Auch der Tscheche Jiri Novák, der bis vor Kurzem noch Briefe mit einem Lastwagen von Frankfurt und Salzburg fuhr, arbeitet für einen Servicepartner der Post. Novák bekommt einen Grundlohn von rund 550 Euro im Monat. Die Namen beider Fahrer sind Pseudonyme.«

Und was sagte die Post, die ja von dieser Ausbeutung unmittelbar profitiert? Jeder, der Subunternehmerketten kennt, ahnt die Antwort:

»Man verpflichte die Firmen „bereits bei der Ausschreibung zur Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen, wie der geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie explizit auch der Beachtung des Mindestlohngesetzes“ … „Dies lassen wir uns bei Vertragsabschluss durch den jeweiligen Auftragnehmer schriftlich bestätigen“,« wird eine Post-Sprecherin in dem Artikel zitiert.

Aber der tschechische Fahrer unter dem Pseudonym Jiri Novák, so konnte man es damals lesen, »verklagt nicht seine tschechische Firma. Vor dem Arbeitsgericht Bonn wendet er sich jetzt gegen die Deutsche Post AG. Novák will den Konzern verpflichten, ihm die Differenz zum deutschen Mindestlohn nachträglich auszuzahlen. Für seine Arbeit auf deutschen Straßen zwischen Oktober 2015 und August 2016 seien das genau 8302,50 Euro, heißt es in der Klageschrift.« Den Ausgang haben wir hier bereits präsentiert. Es sind ein paar Euro mehr geworden.

Kirchgeßner weist in seinem Artikel darauf hin, dass der Fall des Jiri Gabrhel Kreise zieht:

»Für Stanislava Rupp war das ein Durchbruch. »Seitdem melden sich bei mir immer neue Fahrer, um ihren Fall zu schildern«, sagt sie. Rupp arbeitet in Stuttgart beim Projekt »Faire Mobilität«, das der DGB ins Leben gerufen hat. Mit ihren Kollegen unterstützte sie die Klage von Gabrhel: »Wir bieten Rechtsberatung im Arbeits- und Sozialrecht an.« Sie und ihre Kollegen sprechen die Sprachen der mittel- und osteuropäischen Länder, aus denen viele der Fernfahrer kommen. Die Gewerkschaften kündigen an, nach dem Urteil im Fall Gabrhel vom Frühjahr jetzt rasch die nächsten Klagen folgen zu lassen.«

Nur eine Anmerkung zu dem Menschen, der diese Entwicklung mit seiner Klage ins Rollen gebracht hat: »Die Klage gegen die Deutsche Post hat sein Leben grundlegend verändert. Sein tschechischer Chef hat ihn im November vor einem Jahr von der Arbeit freigestellt. Fahren darf er seitdem nicht mehr. Er bleibt jetzt zu Hause und lebt von seinem kleinen Grundlohn, ohne Zuschläge oder Spesen. Auch das ist ein Signal.«

Man muss sich die weiteren Auswirkungen dieser Entwicklung vor Augen führen, denn es handelt sich um einen Präzedenzfall für viele ausländische Fahrer im Auftrag deutscher Unternehmen:

»Das bringt ein Geschäftsmodell unter Druck, das sich in der Logistikbranche längst eingebürgert hat: Deutsche Firmen beauftragen Speditionen aus dem Ausland, die Fahrer zu niedrigen Lohnkosten einstellen. Manche von ihnen touren wochenlang mit wechselnder Fracht durch Westeuropa, bevor sie für kurze Zeit zu ihren Familien in Mittel- oder Osteuropa zurückkommen«, so Kirchgeßner.

Auch Kristiana Ludwig hatte bereits im November darauf hingewiesen, dass »nicht nur die Post, sondern auch viele andere Briefdienste und Speditionen … Hunderte ausländische Fremdfirmen zu Tiefstpreisen (beschäftigen). Die Löhne der Fahrer aus Osteuropa bewegten sich meist zwischen 400 und 600 Euro im Monat … Polnische Firmen zahlten etwas mehr, bulgarische etwas weniger. An den deutschen Mindestlohn hielten sich die wenigsten.

Ganz offensichtlich geht es hier um die Ausnutzung des erheblichen Lohngefälles in der EU. Um das konkret zu machen, zitiert Kirchgeßner Lubos Pomajbik, den Vorsitzenden der tschechischen Transportgewerkschaft:

»Bei uns gilt ein Mindestlohn von rund 73 Kronen pro Stunde, das sind etwa drei Euro.« Oft kommen noch Spesen oder Bonuszahlungen dazu, die allerdings bei Krankheit nicht bezahlt und nicht für die Rente angerechnet werden. Natürlich sei das zu wenig, stellt Pomajbik fest. Er sieht die Schuld allerdings weniger bei den Speditionen als bei den westeuropäischen Kunden: »Was da läuft, finde ich unehrenhaft. Sie verlangen von den tschechischen Spediteuren eine schriftliche Bestätigung, dass sie ihren Fahrern den deutschen Mindestlohn auszahlen und drücken zugleich so auf den Preis, dass die Speditionen das Geld für den Mindestlohn gar nicht haben.«

Und nicht überraschend ist die Tatsache, dass die Mindestlohnklagen in Tschechien von einigen kritisch gesehen werden, so Kirchgeßner: Der Prager Verkehrsminister Dan Tok etwa merkte nach dem Urteil im Fall Gabrhel an: »Die deutschen Gewerkschaften haben das sehr geschickt gemacht: Dieser Präzedenzfall führt dazu, dass in Deutschland niemand mehr eine tschechische Speditionsfirma beauftragt.«

Aber selbst der Gewerkschaftschef Pomajbik – der sich doch eigentlich freuen müsste – befürchtet Nachteile:
»Bei den Kunden aus Deutschland, Frankreich und den anderen Ländern ist die Nachfrage nach dem günstigsten Transport gewaltig. Wenn die tschechischen Spediteure den deutschen Mindestlohn zahlen, versuchen die Rumänen und Bulgaren, in die Lücke vorzustoßen, was uns natürlich nicht gefällt.«

Es wurde schon angesprochen – hinter diesen Vorgängen stecken Geschäftsmodelle, die letztendlich alle dem Ziel dienen, menschliche Arbeitskraft so billig wie möglich zu besorgen, um im brutalen Preiskampf wettbewerbsfähig zu bleiben oder zu werden. Und in solchen Konstellationen gibt es dann auch immer große Anreize, in den halb- oder illegalen Bereich auszuweichen. Davon berichtet ein aktueller Fall aus Norddeutschland, der zugleich wieder die Paketdienste ins Visier nimmt.

Ermittler haben »elf Wohnungen und Geschäftsräume eines Transportunternehmens durchsucht, das als Servicepartner für Hermes tätig ist. Schwerpunkt der Razzia war Schleswig-Holstein. Laut Bundespolizei wird nun gegen fünf Hauptbeschuldigte ermittelt – wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern sowie Urkundenfälschung und Verschaffens von amtlichen Ausweisen.« Das kann man dieser Meldung entnehmen: Razzia der Bundespolizei bei Logistik-Unternehmen. In diesem Fall geht es also nicht darum, statt deutsche Fahrer Personal aus Tschechien, Rumänien oder Bulgarien einzusetzen, sondern noch eine Etage tiefer: Menschen, die noch billiger zu haben sind, aber aus einem Land außerhalb der EU kommen, werden in betrügerischer Absicht zu EU-Bürgern deklariert. Dazu kann man der Meldung entnehmen:

„Osteuropäische Staatsangehörige, die nicht EU-Staatsangehörige sind, wurden mit falschen Dokumenten eingeschleust“, sagte der Pressesprecher der Bundespolizei, Matthias Menge. Unter anderem aus Russland seien diese Menschen gekommen – und mit gefälschten Papieren aus Rumänien ausgestattet worden. So sollen sie dann für das Unternehmen als Fahrer gearbeitet haben.

Selbst die Bundespolizei zeigt sich überrascht von dieser neuen Ausformung der illegalen Beschäftigung: „Es ist für uns ein neues Phänomen, dass ein Unternehmen Fahrer im Ausland rekrutiert und dann hier einschleust“, so wird der Sprecher der Bundespolizei zitiert.

Und was sagt der Paketzusteller Hermes, für den der „Servicepartner“ ja gefahren ist? Man ahnt schon, dass auch Hermes über einen bekannten Textbaustein verfügt:

»Hermes erwarte von den Servicepartnern, dass sie sich an gesetzliche Vorgaben halten. Sollten im konkreten Fall gesetzliche Vorgaben umgangen worden sein, werde der Dienstleister umgehend Konsequenzen ergreifen.«