Immer mehr kranke Arbeitnehmer werden in die Rente abgeschoben. Eigentlich sollte es anders sein. Ist es aber nicht

Es gibt so einfache Grundsätze, hinter denen nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftlich sinnvolle Logik steht. „Rehabilitation vor Rente“ ist so ein Leitsatz, dessen Befolgung mehr als gut begründet wäre. Bevor die Menschen in den vorzeitigen Rentenbezug abgeschoben werden, sollte man möglichst alles versuchen, um sie nach einer Erkrankung oder einem Unfall wieder in das Erwerbsleben einzugliedern. Selbst wenn man das gar nicht aus individueller Sicht betreibt, gibt es gute volkswirtschaftliche Argumente für ein solches Vorgehen.

»Insgesamt sieben Institutionen in Deutschland haben die Aufgabe, gesundheitliche Einschränkungen im Vorfeld zu vermeiden, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederherzustellen, die Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern sowie eine möglichst selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Zu diesen Institutionen gehören u. a. die Deutsche Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit, die Krankenkassen und die Träger der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen.

Mit Blick auf den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit kommt diesen genannten Rehabilitationsträgern eine besondere Rolle zu. Denn dass sich Rehabilitation auch volkswirtschaftlich rechnet, haben verschiedene Untersuchungen immer wieder eindrücklich belegt.«

So beginnt eine Kleine Anfrage der Grünen unter der Überschrift „Rehabilitation als Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“ vom 20.04.2018 (Bundestags-Drucksache 19/1789). Darin wird auch darauf hingewiesen: »Um dem Grundsatz „Reha vor Rente“ Rechnung zu tragen, sind nach Auffassung der fragestellenden Fraktion … weitere Anstrengungen zu unternehmen. So ist beispielsweise nicht zufriedenstellend, dass weniger als 50 Prozent der Erwerbsminderungsrentnerinnen und Erwerbsminderungsrentner zuvor eine Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch genommen haben.« Wie wir gleich sehen werden, ist es sogar noch schlimmer.

Nun liegt die Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage der Grünen vor. Sie wurde als Bundestags-Drucksache 19/2041 vom 08.05.2018 veröffentlicht. Ein gute Zusammenfassung liefert dieser Artikel von Peter Thelen: Immer mehr kranke Arbeitnehmer werden in die Frührente geschickt. Seine wichtigste Erkenntnis aus der Antwort der Bundesregierung: »Zwar gibt die Rentenversicherung immer mehr für Rehabilitation aus. Seit 2008 stiegen die Ausgaben um mehr als ein Fünftel auf 6,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Trotzdem landen immer noch die meisten Menschen in einer Frührente, ohne dass vorher versucht wurde, sie mit einer medizinischen Reha davor zu bewahren.«

In der Anfrage der Grünen war schon die Rede davon, dass weniger als die Hälfte aller Erwerbsminderungsrentner zuvor eine Reha-Maßnahme bekommen haben. Das weniger als die Hälfte wird nun in der Antwort der Bundesregierung weiter nach unten getrieben:

»Weniger als 30 Prozent der Arbeitnehmer, die 2016 erstmals eine Erwerbsminderungsrente erhalten haben, bekamen vorher eine solche Kur. In Zahlen sind das 48.744 zu 173.996.«

Dabei sprechen die Daten hinsichtlich derjenigen, die eine Reha-Maßnahme in Anspruch nehmen konnten, eine ganz eigene Sprache:

»Nur 15 Prozent der Arbeitnehmer, die 2013 an einer Reha teilgenommen haben, schieden anschließend aus dem Erwerbsleben aus.«

Acht Prozent erhielten eine Erwerbsminderungsrente, sechs Prozent eine Altersrente, und ein Prozent verstarb. „Bei dem weitaus größten Anteil der Rehabilitanden wird das Ziel einer dauerhaften Erwerbsfähigkeit aber erreicht“, heißt es in der Antwort der Regierung. Nämlich bei 85 Prozent.

»Ihnen bleibt auch erspart, dass sie wegen des vorzeitigen Rentenbeginns im Alter mit weniger Geld auskommen müssen, als wenn sie bis zur regulären Altersgrenze weitergearbeitet hätten. Die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente lag 2016 bei 704 Euro – trotz bereits beschlossener Verbesserungen.«

Wobei man zu den hier angesprochenen Verbesserungen einschränkend sagen muss, dass die nur die jeweils zukünftigen Erwerbsminderungsrentner betreffen, die Bestandsfälle sind in der Vergangenheit immer leer ausgegangen – vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Wie weiter mit der Erwerbsminderungsrente? Die Bundesregierung will die verbessern, aber nur für die Zukunft und wieder nur in kleinen Schritten vom 15. Mai 2017.

Allein 2016 gab die Rentenversicherung 18 Milliarden Euro für Erwerbsminderungsrenten aus. Es würde mithin auch sie entlasten, wenn Arbeitnehmer mit Gesundheitsproblemen früher Hilfe bekämen. Aber wieder werden wir Zeugen, dass Prävention und Rehabilitation zwar in Sonntagsreden gehuldigt wird, aber in der praktischen Realität hinten runter fallen.