Land der Schwellenwerte. Das Beispiel „Brückenteilzeit“ zwischen sicher gut gemeint und schwellenwertig gemacht

Ein noch ungeschriebenes Buch über die Entwicklungen in der Sozialpolitik und dem damit verbundenen Sozial- und Arbeitsrecht könnte und müsste sich abarbeiten an dem Titel „Land der Schwellenwerte“. Auch in diesen Tagen wird man mit diesem Muster an mehreren Fronten konfrontiert. In dem Beitrag Die beabsichtigte Einschränkung der sachgrundlosen Befristung und das ewige Dilemma mit den Schwellenwerten vom 20. Februar 2018 wurde das an dem Beispiel der hoch umstrittenen Frage einer Einschränkung der sachgrundlosen Befristung aufgezeigt. So soll für bestimmte Unternehmen eine Obergrenze der sachgrundlosen Befristung eingeführt werden, wobei das Fallbeil der Begrenzung fällt in Abhängigkeit von einem Schwellenwert, der an die Beschäftigtenzahl des Unternehmens gebunden wird. In Zukunft müssen wir bei Umsetzung der Vereinbarung unterscheiden zwischen Unternehmen bis und über 75 Beschäftigte. Unternehmen bis zu 75 Beschäftigte können weiter theoretisch so viele sachgrundlos befristet einstellen wie sie wollen, das aber wird den Unternehmen mit mehr als 75 Beschäftigten dann verwehrt. Für sie soll eine Obergrenze von maximal 2,5 Prozent der Beschäftigten gelten. 

Und nun werden wir mit einem weiteren Beispiel aus der Gesetzgebungsmaschinerie konfrontiert – der „Brückenteilzeit“. Der Anspruch des Bundesarbeitsministeriums ist ambitioniert und kommt progressiv daher: »Erst Vollzeit, dann in Teilzeit und später wieder zurück in Vollzeit? Ab dem 1. Januar 2019 soll es mit der neuen Brückenteilzeit einfacher werden, die eigenen Arbeitszeiten passender zum Leben zu gestalten«, können wir auf der Seite des BMAS lesen. Und weiter: »Der Gesetzentwurf sieht vor, dass das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) um einen Rechtsanspruch auf Brückenteilzeit ergänzt wird. Dieser Anspruch führt dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einer Teilzeitphase nicht in der „Teilzeitfalle“ stecken bleiben, sondern wieder zu ihrer vorherigen Arbeitszeit (Vollzeit oder Teilzeit) zurückkehren können.« Das klingt nach einer eindeutigen Verbesserung für die Beschäftigten. Eben gut gemeint.

»Die neue Brückenteilzeit ist ein weiteres Stück auf dem Weg zu einer selbstbestimmten, an den Bedürfnissen unterschiedlicher Lebensphasen orientierten Arbeitszeit. Sie ist ein aktiver Beitrag zur Gleichstellung von Frauen und hilft Altersarmut zu vermeiden. Sie trägt dazu bei, dringend gebrauchte Fachkräfte zu sichern.« So das Ministerium weiter ganz allgemein. Wer es präziser wissen will, der kann dann einen Blick werfen in den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts – Einführung einer Brückenteilzeit vom 17.04.2018.

Nun könnte man als Berufsskeptiker vermuten, der Teufel steckt hier sicher wie so oft im Detail hinter der schönen Fassade, die uns serviert wird. Und so ist es denn auch.

Man muss als Hintergrundinformation wissen, dass das Recht auf befristete Teilzeit eigentlich schon in der vergangenen Legislaturperiode eingeführt werden sollte. Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD aus dem Dezember 2013 hatte man vereinbart:

»Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich zum Beispiel wegen Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen zu einer zeitlich befristeten Teilzeitbeschäftigung entschieden haben, wollen wir sicherstellen, dass sie wieder zur früheren Arbeitszeit zurückkehren können. Dazu werden wir das Teilzeitrecht weiterentwickeln und einen Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit schaffen (Rückkehrrecht). Für bestehende Teilzeitarbeitsverhältnisse werden wir die Darlegungslast im Teilzeit- und Befristungsgesetz auf den Arbeitgeber übertragen. Bestehende Nachteile für Teilzeitbeschäftigte wollen wir beseitigen.«

Man muss diese allgemeine Zielsetzung vor diesem Hintergrund lesen: In der Logik des bereits damals bestehenden Rechts – das ein Wechselrecht von Vollzeit in Teilzeit kennt ( § 8 Verringerung der Arbeitszeit des Teilzeit- und Befristungsgesetzes) – wäre das eine konsequente Weiterentwicklung, die man sich schon 2013 vorgenommen, aber bislang nicht realisiert hat. Wobei man der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nicht vorwerfen kann, dass sie es nicht versucht hat. Vgl. zu dem Gesetzentwurf aus ihrem Haus den Beitrag Arbeitszeit: Recht auf Teilzeit zwischen Wunsch und Notwendigkeit, von einer Teilzeitfalle und dem Recht, da wieder rauszukommen vom 4. Januar 2017. In dem ersten Anlauf für eine gesetzgeberische Umsetzung der Vereinbarung wurden diese Voraussetzungen genannt:

Der Teilzeitanspruch gilt für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis bereits länger als sechs Monate bestanden hat und deren Arbeitgeber in der Regel mehr als 15 Arbeitnehmer beschäftigt. Arbeitnehmer müssen den Wunsch nach Arbeitszeitverringerung und deren Umfang spätestens drei Monate vorher schriftlich oder mündlich anmelden; sie sollen dabei die gewünschte Verteilung der Arbeitszeit angeben. Arbeitnehmer können bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen verlangen, dass ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit verringert wird. Allerdings wurde auch die Perspektive der betroffenen Unternehmen berücksichtigt: Arbeitgeber können die Verringerung der Arbeitszeit oder deren gewünschte Verteilung aus betrieblichen Gründen ablehnen. Das Gesetz nennt als betriebliche Gründe insbesondere eine wesentliche Beeinträchtigung der Organisation, des Arbeitsablaufs oder der Sicherheit im Betrieb oder das Entstehen unverhältnismäßig hoher Kosten für den Arbeitgeber, was als exemplarische, also nicht abschließende Aufzählung zu verstehen sei
Bereits in der ersten Runde wurden wir also mit einem Schwellenwert konfrontiert – die betroffenen Betriebe müssen mehr als 15 Beschäftigte haben. Dieser Schwellenwert ist nicht vom Himmel gefallen, sondern aus dem Teilzeit- und Befristungsgesetz abgeleitet. Aber an dieser Stelle wird auch der Widerstand aus den Reihen der Union gegen den damaligen Referentenentwurf aus dem Haus Nahles illlustrierbar: Dem Wirtschaftsflügel der Union schwebte damals ein deutlich höherer Schwellenwert von 200 Beschäftigten vor. Am Streit darüber scheiterte die Umsetzung des Ansatzes in der vergangenen Legislaturperiode.

Neue GroKo, neuer Versuch. Auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 12. März 2018 findet man das Anliegen erneut aufgerufen und vereinbart – allerdings in einer deutlich restriktiveren Variante als das, was man beim letzten Mal vereinbart hatte. Die konkrete Formulierung ist iim nebenstehenden Kasten dokumentiert. Und auch hier werden wir nicht nur mit einem, sondern mit mehreren Schwellenwerte konfrontiert.

Der neue Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nunmehr einen Referentenentwurf dazu vorgelegt. Danach sollen Beschäftigte befristet ihre Arbeitszeit reduzieren und danach zum ursprünglichen Volumen zurückkehren können. Um den Arbeitgebern bei der Personalplanung entgegenzukommen, kann der Arbeitgeber die befristete Teilzeit ablehnen, wenn sie kürzer als ein Jahr oder länger als fünf Jahre dauert. Und bei unserem Thema Schwellenwerte besonders bedeutsam: Aus 15 mach 45 – so soll der Rechtsanspruch nur in Betrieben mit mehr als 45 Beschäftigten gelten. Das ist wahrlich nicht trivial, denn durch diesen Schwellenwert sind schon mal per se 15 Millionen Arbeitnehmer von dem geplanten Rechtsanspruch auf ein Rückkehrrecht ausgeschlossen. Allein an dieser Zahl sieht man: Schwellenwerte sind nicht nur abstrakte rechnerische Klimmzüge, sondern sie haben ganz handfeste Auswirkungen, in diesem Fall für Millionen Arbeitnehmer, die entweder Zugang zu einem Rechtsanspruch bekommen oder davon ausgeschlossen werden.

Aber es geht ja noch weiter mit den geplanten Schwellenwerten: In Unternehmen mit mehr als 45 und bis zu 200 Beschäftigten greift zudem eine Zumutbarkeitsklausel: Von jeweils 15 Beschäftigten darf hier nur einer die Brückenteilzeit beanspruchen. Bei 60 Beschäftigten kann der Arbeitgeber also weitere Anträge ablehnen, wenn schon vier Mitarbeiter von der Regelung Gebrauch machen.

Und dann wird man mit so einer Überschrift konfrontiert: Hubertus Heils Gesetz zur Brückenteilzeit könnte sich als Placebo entpuppen. Frank Specht verweist darauf, dass das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Wasser in den Wein gießt: »So, wie das Gesetz derzeit geplant ist, könnte es an den Wünschen vieler Beschäftigter vorbeigehen, schreibt die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA).« Da schauen wir doch gleich in das Original: Jens Stegmaier und Stefanie Gundert vom IAB haben ihre Ausführungen unter die neutral daherkommende Überschrift Zur Einführung des Rechts auf befristete Teilzeit gestellt: »Zu der Frage, ob und inwieweit die geplante Regelung dem tatsächlichen Bedarf der Beschäftigten entspricht, liefert eine IAB-Befragung wichtige Anhaltspunkte«, so die beiden Wissenschaftler. Das hört sich interessant an. Also schauen wir genauer hin.

»Im Rahmen einer IAB-Befragung, die 2014 stattfand, wurden die Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten ermittelt. Die dabei erhobenen Daten geben Hinweise darauf, wie groß der Bedarf der Beschäftigten nach einer Regelung für befristete Teilzeit ist und wie diese ausgestaltet sein sollte, um diesem Bedarf möglichst gerecht zu werden.«

Allerdings, die beiden Wissenschaftler sind korrekt, sie weisen sogleich darauf hin: »Bei der Interpretation der Befunde ist jedoch zu beachten, dass die Befragten ihre Antwort vor dem Hintergrund der damaligen rechtlichen Regelung und damit in Unkenntnis der nun angestrebten Gesetzesänderungen gaben.«

»Die Beschäftigten wurden zunächst nach ihrer tatsächlichen Arbeitszeit gefragt. Diese umfasst neben der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zum Beispiel auch Überstunden. Hiervon ausgehend gab rund ein Viertel der Beschäftigten an, ihre Arbeitszeit reduzieren zu wollen, etwa 11 Prozent wünschten sich eine Ausweitung. Die Mehrheit, etwa zwei Drittel der Beschäftigten, sah keinen Änderungsbedarf.«

Im weiteren geht es natürlich vor allem das Viertel, das angegeben hat, gerne weniger arbeiten zu wollen. Und von denen wollten laut Selbstauskunft (nur) gut 26 Prozent ihre Arbeitszeit temporär verkürzen, 74 Prozent hingegen dauerhaft.
Bezogen auf alle befragten Beschäftigten äußerten somit etwa sechs Prozent den Wunsch nach einer vorübergehenden Reduzierung der Arbeitszeit.

Nun ist ja auch vorgesehen, dass Anträge auf eine befristete Arbeitszeitverkürzung von weniger als einem und mehr als fünf Jahren abgelehnt werden können. Welche Auswirkungen hätte das im Lichte der damaligen Befragungsdaten? Die beiden Wissenschaftler bilanzieren, dass dann ein substanzieller Teil der Beschäftigten, die ihre Arbeitszeit temporär verringern möchten, unberücksichtigt bleiben würde von der Neuregelung.

»Denn etwa ein Drittel von ihnen möchte dies nur für einen Zeitraum von weniger als einem Jahr tun … Wie eine hier nicht dargestellte Analyse zeigt, wünscht sich diese Teilgruppe ganz überwiegend eine eher kurze Arbeitszeitreduktion von nicht mehr als sechs Monaten.«

Außer – aufgepasst, es gibt weitere Schwellenwerte-Optionen am Horizont – die Tarifpartner verständigen sich auf eine entsprechende Regelung oder der Arbeitgeber erteilt seine Zustimmung, was er aber nicht muss. Der Hinweis auf die Tarifpartner ist hier interessant, denn tatsächlich sieht der Referentenentwurf aus dem BMAS vor, dass die Sozialpartner per Tarifvertrag auch andere Grenzwerte vereinbaren dürfen, eine Brückenteilzeit also etwa auch für sechs Monate möglich sein kann.

Man sieht auch an diesem Beispiel: Wir sind ein Land der Grenz- bzw. Schwellenwerte und allein die Erhebung, Zuordnung und Analyse der möglichen Wechselwirkungen nur der wichtigsten Ausprägungen dieser Werte würde ein Promotionsthema abgeben können. Aber zugleich – und das sollte einen nachdenklich stimmen – wird die Intransparenz der rechtlichen Regelungen und der Bedeutung oder eben Nicht-Relevanz für Unternehmen wie für die Arbeitnehmer immer größer. Das kann mittel- und langfristig keine gute Entwicklung sein, denn es verstärkt die Überforderung und die Frustration mit dem Regelungswirrwarr, das man überall bobachten kann und muss.