Rückblick: Die kurzfristige Option einer abschlagsfreien „Rente mit 63“ wurde von Hunderttausenden in Anspruch genommen

Das war mal ein sozialpolitisches Aufreger-Thema: die „Rente mit 63“. Dieses der SPD zugeschriebene Projekt wurde am Anfang der letzten Großen Koalition im Jahr 2014 zusammen mit der von der Union gepushten und ebenfalls umstrittenen „Mütterrente“ gesetzgeberisch ins Leben gerufen. Aus den Reihen der Wirtschaft hat man aus allen Rohren geschossen gegen die Eröffnung der Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen bereits mit 63 eine abschlagsfreie Altersrente in Anspruch nehmen zu können, denn man befürchtete nicht ohne Grund, dass zahlreiche Arbeitnehmer davon Gebrauch machen werden und darunter vor allem Facharbeiter und andere qualifizierte Arbeitskräfte, die (noch) in den Genuss ordentlicher Renten kommen. Nicht ohne Grund ist die „Rente mit 63“ vor allem seitens der großen und einflussreichen Industriegewerkschaften in den damaligen Koalitionsvertrag bugsiert worden.

Aber neben der Kritik der Arbeitgeber aufgrund des Verlustes an Arbeitskräften gab und gibt es auch eine eher systematisch angelegte Kritik, die darauf abstellt, dass die „Rente mit 63“ deshalb kritisch zu sehen sei, weil es sich nur um eine temporäre Besserstellung einiger weniger Jahrgänge handelt und das eigentliche Problem, also die schrittweise Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für alle, keineswegs rückgängig gemacht wurde, sondern weiter läuft, was dazu führt, dass auch das vorübergehend und unter bestimmten Bedingungen abgesenkte Eintrittsalter in die abschlagsfreie Rentenbezugsmöglichkeit von 63 schrittweise (wieder) auf 65 Jahre ansteigt. Man entlastet also einige (überschaubare) Rentenjahrgänge vom Damoklesschwert der Abschläge, aber für die danach geht es weiter so wie vorher. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Schaumschläger jenseits einer diskussionswürdigen Kritik an der bereits auf dem absteigenden Ast befindlichen „Rente mit 63“ vom 31. Oktober 2017.

Aber wie hat sich die Inanspruchnahme eigentlich entwickelt? Das wollte die Bundestagsfraktion der Grünen wissen und hat eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Und die hat zumindest einige Zahlen liefern können.

Die findet man in der Antwort der Bundesregierung unter der Überschrift „Die abschlagsfreie Rente mit 63“ als Bundestags-Drucksache 19/876 vom 22.02.2018. Der rentenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Markus Kurth, hat die Antwort der Bundesregierung ausgewertet und hier zusammengefasst:

Markus Kurth: Die abschlagsfreie Rente ab 63 – eine Bilanz. Auswertung der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag, Berlin, 23.02.2018

Und Henrike Roßbach berichtete in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift So beliebt ist die Rente mit 63 – und sie macht die offensichtliche Beliebtheit der Option an den nackten Zahlen aus der Antwort der Bundesregierung deutlich:

»Im ersten Jahr gab es demnach gut 151.000 Rentenzugänge in der Kategorie „Besonders langjährige Versicherte“, 2015 waren es gut 274.000 und 2016 noch einmal mehr als 225.000. Zwar fallen in diese Statistik auch abschlagfreie Rentenzugänge nach früherem Recht, so dass die Zahlen nicht alleine der Rente mit 63 zuzurechnen sind. Das Gewicht der Neuregelung aber wird anhand der Zahlen aus dem Jahr ihrer Einführung deutlich: Während bis zum Stichtag 1. Juli 2014 nur knapp 15.000 langjährig Versicherte abschlagsfrei in Rente gingen, waren es in der zweiten Jahreshälfte und damit zu den Bedingungen der neuen Rente mit 63 gut 136.000.«

Und diese Inanspruchnahme hat offenbar auch Auswirkungen auf das Durchschnittsalter, mit dem die Menschen in Rente gehen.

»Demnach stieg das faktische Renteneintrittsalter (viele Arbeitnehmer scheiden vor der Regelaltersgrenze aus dem Beruf aus, auch wenn damit Renteneinbußen verbunden sind) bei Männern zwischen 2000 und 2013 kontinuierlich von 62,2 auf 64,1 Jahre. 2014 aber, dem Einführungsjahr für die Rente mit 63, gab es einen ersten leichten Rückgang auf 64 Jahre, 2015 einen weiteren auf 63,9 Jahre. 2016 blieb es dabei, für 2017 werden die Zahlen erst im Sommer veröffentlicht. Bei den Frauen ist die Entwicklung ähnlich.«

Die Bundesregierung liefert auch Zahlen zu den Ausgaben, die man der „Rente mit 63“ zuschreiben kann. Die reinen Kosten für die Rentenkasse für die Rente ab 63 betragen 12,5 Mrd. Euro bis zum Jahr 2020 und auch in den Jahren 2025 bzw. 2030 werden sie jährlich noch mit 2,1 Mrd. Euro bzw. 3,1 Mrd. Euro angegeben.

Soweit die Zahlen. Was genau hat es mit dieser „Rente mit 63“ auf sich? Dazu muss man sich die Entscheidung der vorletzten Großen Koalition in Erinnerung rufen, das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Von dieser neuen und höheren Altersgrenze wird der Jahrgang 1964 (nicht ohne Zufall der geburtenstärkste Jahrgang in diesem Land) als erster Jahrgang vollständig betroffen sein.

Mit Beginn der stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze zum 1. Januar 2012 wurde für besonders langjährig Versicherte eine neue Altersrente eingeführt. Seitdem können Versicherte, die mindestens 45 Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und Pflege sowie Zeiten der Kindererziehung bis zum 10. Lebensjahr des Kindes zurückgelegt haben, weiterhin ab Vollendung des 65. Lebensjahr eine abschlagsfreie Altersrente beanspruchen. Durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz ist die Altersgrenze für die Altersrente für besonders langjährig Versicherte zum 1. Juli 2014 vorübergehend auf 63 Jahre abgesenkt worden. Die Altersgrenze von 63 Jahren wird für Versicherte, die nach 1952 geboren sind, stufenweise wieder auf das vollendete 65. Lebensjahr angehoben.

Man sollte sich die gesetzlichen Anforderungen an den Bezug der „Rente mit 63“ – korrekter: der „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“, die im § 236b SGB VI geregelt ist – verdeutlichen: Die Betroffenen müssen „mindestens 45 Jahre mit Pflichtbeiträgen“ vorweisen können. Das ist eine verdammt lange Beitragsbiografie, die hier absolviert worden ist, bevor man überhaupt die Möglichkeit zum abschlagsfreien Bezug der Altersrente zugestanden bekommt. Das aber – wie wir gesehen haben – nur temporär für einige wenige Jahrgänge. Darin zeigt sich denn auch der klientelistische Charakter eines Wahlgeschenks an eine Gruppe, in diesem Fall die Arbeitnehmer, denen man mit der „Rente mit 67“ gehörig vor den Kopf geschlagen hat.

Aber eine systematische Regelung war und ist das eben nicht, denn man könnte selbst und gerade innerhalb des Sozialversicherungssystems argumentieren, dass Abschläge für Akademiker, die erst spät ins Erwerbsleben eingestiegen sind und früh wieder raus wollen, in Ordnung sind – aber angesichts der beschriebenen Anforderungen an die „Rente mit 63“ kann man ebenfalls argumentieren, dass Versicherte, die so lange Beiträge eingezahlt haben, einen Anspruch haben sollten auf eine abschlagsfreie Zahlung der Altersrente, denn das ist der hier relevante Punkt, die ansonsten anfallenden Abschläge mindern die meistens überschaubaren Renten bis zum Tod.

Aber wenn man so denkt, dann hätte man eine Regelung finden müssen, die generalisiert und den Kreis der „Begünstigten“ eben nicht auf einige wenige Jahrgänge beschränkt, während alle die nachkommen wieder zu schlechteren Bedingungen in den Ruhestand gehen müssen – erfolgt keine systematische Differenzierung der an das gesetzliche Renteneintrittsalter gekoppelten Abschläge nach der im Einzelfall vorliegenden Zeit der Einzahlung in die Gesetzliche Rentenversicherung.