Ein problematisches Mischwesen mit Titelmissbrauch: Die Sondierungs-„Grundrente“ in der Kritik

Über ein Vorhaben im Bereich der Alterssicherung – folgt man dem Ergebnispapier der Sondierungsgespräche für eine mögliche neue Große Koalition – wurde hier bereits in dem Überblicksbeitrag Umrisse einer GroKo neu. Teil 2: Die Rente vom 14. Januar 2018 berichtet: »Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen 10 % oberhalb des regionalen Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Berechtigt sind Versicherte, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der „Grundrente“ ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung. Dabei wollen wir klarstellen, dass die Bezieher von Grundsicherung im Alter in ihrem selbst genutzten Haus oder ihrer Wohnung im Regelfall weiterhin wohnen können. Die Abwicklung der „Grundrente“ erfolgt durch die Rentenversicherung. Bei der Bedürftigkeitsprüfung arbeitet die Rentenversicherung mit den Grundsicherungsämtern zusammen.« Die „Grundrente“ soll also mit einer GroKo neu kommen (jetzt aber wirklich, sie war als „solidarische Lebensleistungsrente“ bereits im Koalitionsvertrag vom Dezember 2013 enthalten und ist in der vergangenen Legislaturperiode schlichtweg nicht umgesetzt worden).

An diesem Vorhaben hat sich zu Recht eine Menge Kritik entzündet. Da wäre zum einen der Aspekt der ausdrücklich nicht ausgeschlossenen – und damit wahrscheinlichen – massiven Fehlfinanzierung dieser Leistung aus Beitragsmitteln der Gesetzlichen Rentenversicherung. Ein notwendiger Hinweis, dass die aufstockenden Leistungen aus Steuermitteln zu finanzieren sind, kann man im Sondierungsergebnispapier nicht finden.

Wenn man sich die geplante „Grundrente“ (die von den Sondierern selbst zu Recht in Anführungszeichen gesetzt werden, denn es handelt sich eben nicht um eine Grundrente im Rentenversicherungssystem, sondern um eine Verlängerung des Grundsicherungssystems in die Rentenversicherung hinein) genauer anschaut, dann entdeckt man weitere hoch problematische Aspekte. Dazu diese hilfreiche Expertise:Paritätische Forschungsstelle (2018): „Grundrente“ und Rentenniveau in den Sondierungsergebnissen von CDU, CSU und SPD. Kurzexpertise Nr. 1/2018, Berlin, 19.01.2018

Zwei Befunde werden dort hervorgehoben: Zum einen steigt die offizielle Quote der „Armutsgefährdung“ der Älteren bereits in den vergangenen Jahren rasant an (und ohne substanzielle Änderungen im bestehenden System wird es einen enormen Schub in den vor uns liegenden Jahren geben, denn dann kommen viele Menschen in den Rentenbezug, die im Sinne eines „Doppelschlags“ von der massiven Absenkung des Sicherungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie von den niedrigen Rentenansprüchen durch lange Zeiten der Arbeitslosigkeit und/oder durch eine langjährige Tätigkeit im seit Mitte der 1990er Jahre stark expandierenden Niedriglohnsektor und den daraus erwirtschafteten niedrigen Rentenansprüchen betroffen sind). Die noch vor einigen Jahren in den Daten erkennbare deutlich unterdurchschnittliche Betroffenheit von Einkommensarmut hat sich mittlerweile für die Älteren bereits nivelliert – mit weiter steigender Tendenz. Selbst beim Zugang in die Grundsicherung für Ältere (SGB XII), deren Zahlen immer gerne herangezogen werden, wenn es um den Aspekt der angeblich überschaubaren Betroffenheit von „Altersarmut“ geht (die aber korrekterweise an der Armutsgefährdungsquote der amtlichen Sozialberichterstattung zu messen wäre), kann man die Veränderungen bereits ablesen:

»Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle haben gezeigt, dass der Anteil der auf Grundsicherung im Alter angewiesenen Menschen unter den neu in Rente gehenden Personen stetig steigt. Der Anteil der Leistungsberechtigten von Grundsicherung im Alter bis unter 70 Jahre hat sich gegenüber 2005 von 2,4 Prozent auf 4,6 Prozent der Kohorte annähernd verdoppelt. Die neu ins Rentenalter eintretenden Jahrgänge sind damit sehr viel häufiger auf Grundsicherung angewiesen als noch vor zehn Jahren.« (Paritätische Forschungsstelle 2018: 3).

Und ergänzend wird hier der wichtige Hinweis auf einen besorgniserregenden Tatbestand gegeben: die Nichtinanspruchnahme von Leistungen. »Viele hunderttausende Menschen in Deutschland haben Anspruch auf Sozialleistungen, ohne ihn geltend zu machen. Sie tauchen in den öffentlichen Statistiken nicht auf. Dies ist gerade bei älteren Menschen der Fall. Ältere Menschen verzichten deutlich überproportional häufig aus Scham, aus Unwissenheit oder aus Furcht vor Erstattungsforderungen gegenüber Angehörigen auf die Wahrnehmung ihrer Rechtsansprüche. Dabei handelt es sich keineswegs um kleine, zu vernachlässigende Gruppen, im Gegenteil. Verschiedene Forschungsarbeiten zeigen: Es ist davon auszugehen, dass etwa drei von fünf Berechtigten ihre Ansprüche gar nicht wahrnehmen.«

Vor diesem Hintergrund wird in der Kurzexpertise die Sondierungs-„Grundrente“ analysiert – denn scheinbar gibt sie doch eine lösungsorientierte Antwort auf das beschriebene Problem. Auch hier wird festgestellt: Eine bedürftigkeitsabhängige „Grundrente“ ist keine Rente.

Ein wichtiger Aspekt aus der kritischen Auseinandersetzung: Die neue „Grundrente“ wird unter denjenigen, die mangels eines angerechneten Partnereinkommens überhaupt Ansprüche erwerben, Leistungsberechtigte erster, zweiter, dritter und vierter Klasse schaffen. Dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags, in der die Einkommensunterschiede in den verschiedenen „Klassen“ dargestellt ist. Ausgangspunkt ist der heute schon bestehenden Grundsicherungsbedarf von durchschnittlich 798 Euro sowie aus dem Sondierungsergebnis abgeleitet, dass ein den durchschnittlichen Bedarf übersteigender Betrag in Höhe von 10 Prozent bedarfssteigernd anerkannt und Leistungen „durch die Rentenversicherung“ abgewickelt werden. Zugleich muss man berücksichtigen, dass es neben den bestehenden Freibeträgen für Erwerbseinkommen (sind je nach Art des Einkommens unterschiedlich hoch) nun nach dem Betriebsrentenstärkungsgesetz auch noch Freibeträge für zusätzliche Alterssicherung gibt. Dazu bereits überaus kritisch mein Beitrag vom 10. Juni 2017: Solche und andere Rentner. Zur partikularen Privilegierung der kapitalgedeckten Altersvorsorge in der Grundsicherung und den damit verbundenen offenen Fragen: »Man hat … einen neuen Einkommensfreibetrag in das SGB XII eingeführt. Und der ist wahrlich nicht unproblematisch. Der Grundgedanke ist simpel: Wer über eine betriebliche Altersvorsorge oder privat beispielsweise über eine Riester-Rente vorgesorgt hat, der soll im Alter, wenn die gesetzliche Rente unter dem Grundsicherungsbedarf liegt und bei Inanspruchnahme der Leistungen aus dem SGB XII alle anderen Einkommen angerechnet werden (müssen), dahingehend besser gestellt werden, dass 100 bis derzeit 204,50 Euro aus dieser Quelle nicht angerechnet werden.« Die Obergrenze verschiebt sich dynamisch, für 2018 werden bis zu 208 Euro genannt. Wohlgemerkt, der neue Freibetrag nach § 82 Abs. 5 SGB XII gilt nur für Betriebs- und Riesterrenten.

Wenn man sich das anschaut, dann wird sofort erkennbar, dass wir in einen neuen Raum der Hyperkomplexität vorstoßen. Rentenberater und (praxisorientierte) Sozialpolitikwissenschaftler kennen diese Komplexitätszunahme aus der Vergangenheit zur Genüge, aber wir haben lange den Punkt überschritten, an dem man das grundsätzlich in Frage stellen sollte und muss.

Im Zusammenhang mit den angesprochenen Freibeträgen sei auf einen Beitrag von Franz Ruland in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen, der unter der Überschrift Kein Mittel gegen Altersarmut veröffentlicht worden ist. Franz Ruland war von 1992 bis 2005 Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und von 2009 bis 2013 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Sein Haupteinwand geht in die Richtung, dass »das jetzt vereinbarte Modell … scheitern (wird). Es benachteiligt diejenigen, die eine gesetzliche Rente beziehen, gegenüber denjenigen, die eine betriebliche oder private Rente erhalten. Das darf nicht sein.« Und er weist auf diesen Aspekt hin:

»Käme die neue „Grundrente“, gäbe es für das gleiche Grundproblem, Anrechnung von Renten auf Sozialhilfeleistungen, verschiedene Lösungsansätze mit unterschiedlichen Auswirkungen: Die Grundrente käme wegen der langen zeitlichen Voraussetzungen nur wenigen Rentnern zugute, könnte also nur in sehr geringem Maße Altersarmut beseitigen. Gezahlt würden jedoch Beträge, die zumeist höher wären als der Freibetrag für Altersvorsorge. Davon würden aber, da nirgendwo gespeichert ist, ob jemand vollzeit- oder teilzeitbeschäftigt war, in den nächsten Jahrzehnten überwiegend nur Personen profitieren, die langjährig nur halbtags oder geringfügig beschäftigt waren.«

Sein Hauptpunkt lautet aber: »Dass es einen Freibetrag nur für Betriebsrenten, nicht aber auch für gesetzliche Renten gibt, ist kaum zu erklären und nur schwer mit dem Gleichheitssatz vereinbar.«

Die neue, von den Sondierern geplante Leistung sei unsystematisch und benachteiligt die gesetzlich Rentenversicherten. Ruland ist nun gerade nicht gegen Freibeträge, sondern hält deren Ausweitung auch auf die gesetzliche Rente für eine systemgerechte Lösung: »Es besteht kein Grund, nur bei dem Zusammentreffen von gesetzlicher Rente und Sozialhilfe hiervon abzuweichen. Diese Abweichung wäre umso weniger einsichtig, als sie die Personen, die eine gesetzliche Rente beziehen, auch noch erheblich benachteiligt. Ihnen steht, weil sie pflichtversichert waren, im Fall der Not der Freibetrag für Altersvorsorge nicht zu, er setzt eine freiwillige zusätzliche Altersvorsorge voraus; die „Grundrente“ erhalten sie nur, wenn sie 35 Pflichtbeitragsjahre aufweisen können, wenn nicht, bekommen sie weder das eine noch das andere, sie gehen leer aus. Würde der Freibetragsansatz auch für gesetzliche Renten gelten, würde er allen Rentnern helfen und nicht nur, wie bei der „Grundrente“ vorgesehen, den langjährig Versicherten.«

Abschließend zurück zu der Expertise der Paritätischen Forschungsstelle. Dort wird auch ein gerade in schnelllebigen Zeiten wie den unseren überaus notwendiger Blick zurück geworfen auf das, was schon mal vereinbart war bzw. was in der Vergangenheit an Vorschlägen gemacht wurde. »Die im Sondierungsergebnis skizzierten Regelungen zu einer „Grundrente“ fallen hinter ähnliche Regelungen aus der Vergangenheit zurück«, so die Diagnose.

Die im Koalitionsvertrag für die letzte Legislaturperiode vereinbarte „Solidarische Lebensleistungsrente“ war in zweifacher Hinsicht für die Betroffenen günstiger als die aktuelle Einigung. Zum einen: »Es war vorgesehen, dass bei Anfangs ebenfalls 35 Beitragsjahren inkl.
Kindererziehungs- und Pflegezeiten bis zu 5 Jahren Arbeitslosigkeit als Beitragszeit gewertet werden. Dahinter fällt die aktuelle Einigung zurück: Arbeitslosenzeiten werden nicht mehr berücksichtigt.« Und der zweite Aspekt: »Mit der „Solidarischen Lebensleistungsrente“ sollten niedrige Rentenansprüche aufgewertet werden. Hier war nur eine Einkommensprüfung vorgesehen. Erst wenn das nicht ausgereicht hätte, sollte eine Bedürftigkeitsprüfung stattfinden, um ggf. einen weiteren Zuschlag zu erhalten. Bei der „Grundrente“ unterliegen alle Anträge den Bedürftigkeitsregelungen der Grundsicherung.« Und für das bereits aufgerufene Finanzierungsthema aus systematischer Sicht hoch relevant: »Damals war noch festgehalten worden, dass die Mehrausgaben der „Solidarischen Lebensleistungsrente“ aus Steuermitteln zu zahlen seien. Das aktuelle Sondierungsergebnis sieht das nicht mehr vor. Im Finanztableau des Papiers sind auch keinerlei Mittel dafür vorgesehen. Die Kosten der Mehrausgaben gingen damit voll zu Lasten der Beitragszahler/-innen der Rentenversicherung.«

Und der eine oder andere wird sich erinnern, dass doch während der letzten GroKo die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, die maßgeblich den sozialpolitischen Teil der Sondierungsverhandlungen ausgehandelt hat, ein eigenes Konzept vorgelegt hat – genau, die „Solidarrente“. Vgl. dazu das Original: Bundesministerium für Arbeit (2016): Gesamtkonzept zur Alterssicherung, Berlin, November 2016. Und nun das: »Die neue Vereinbarung fällt sogar noch deutlicher hinter den Vorschlag einer „Solidarrente“ zurück, den das von der damaligen Bundesministerin Andrea Nahles (SPD) geführte BMAS 2016 vorgelegt hatte.«

Die Unterschiede zu dem geschrumpften Sondierungsergebnis: Bei den Beitragszeiten sollten nicht nur Kindererziehungs- und Pflegezeiten Berücksichtigung finden, sondern ausdrücklich auch kurzzeitige Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit. Partnereinkommen sollen weitestgehend von einer Anrechnung freigestellt werden. Eine Bedürftigkeitsprüfung, wie sie in der aktuellen Einigung vorgesehen ist, wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Eine vereinfachte Einkommensprüfung, etwa auf Basis der letzten Steuererklärung, sollte ausreichen. Die Solidarrente sollte als neue Leistung außerhalb des Renten- und Sozialhilferechts angelegt werden und Brüche im bestehenden Versicherungssystem vermeiden. Die neue Regelung schafft eben solche Brüche (vgl. zu diesen Punkten Paritätische Forschungsstelle 2018: 11).

Und das soll – unabhängig von einer Bewertung des Modells der Solidarrente – nun ein Verhandlungserfolg für die Sozialdemokratie sein?

Weitere kritische Punkte seien hier nur noch aufgerufen: Die „Grundrente“ soll ein 10 Prozent oberhalb des regionalen Bedarfs liegendes Sicherungsniveau gewährleisten – sicher gut gemeint, denn die regionalen Grundsicherungsniveaus spiegeln in ihrer Unterschiedlichkeit vor allem die regional divergierenden Wohnkosten. Zugleich öffnet sich hier ein bürokratisches Monstrum. Aber an die Frage der administrativen Umsetzbarkeit denkt man im politischen Berlin sowieso immer weniger bis gar nicht. Auch die Anspruchsvoraussetzung 35 Jahre schafft kaum zu rechtfertigende Ungleichheiten im System, so die Kritik. Denkbar sind Konstellationen, in denen Menschen mit in der Summe höheren Beiträgen zur Rentenversicherung geringere Leistungen erhalten als die Menschen mit geringeren Beiträgen durch die „Grundrente“.

Wenn sich jetzt die Sondierer zu echten Koalitionsverhandler transformieren, dann sollten sie noch einmal ganz tief in sich gehen. Man sollte allerdings darauf nicht wirklich hoffen. Auch wenn man tief in sich geht, braucht es Substanz, auf die man dann stoßen würde.